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Vernissagerede anlässlich der Ausstellung von Marie-Theres Amici und Rudolf Blättler in der Kunsthalle Luzern, 11. März 2016
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Marie-Theres, lieber Ruedi
Anlässlich Eurer ersten gemeinsamen Ausstellung, vor rund 20 Jahren, schrieb ich in der Aargauer Zeitung : « Angesichts der expressiven Kraft….der Landschaften von Marie-Theres Amici und der Lebens-Mythen visualisierenden Bronzefiguren von Rudolf Blättler ist man geneigt « Künstlerpaar » als fruchtbares Kräftemessen zu bezeichnen. » Das könnte man auch dieser Ausstellung voranstellen, denn ein Versuch die farbigen Wahrnehmungs-Vibrationen in den Bildern und die Körper zu Skulptur formenden Plastiken à tout prix zu vernetzen, wäre wohl ein in inadäquates Mittel, um Ihnen die Werke dieser Ausstellung näher zu bringen.
Und doch : Da war ich kürzlich bei Rudolf Blättler in seinem Luzerner Atelier zu einem Gespräch und am Nachmittag desselben Tages bei Marie-Theres Amici in ihrem Arbeitsraum in Emmenbrücke und zwei Mal fiel ein fast identischer Satz, der sinngemäss heisst : « Es ist schon verrückt daran zu denken, wie viele Kunstschaffende im Laufe der Zeit schon am selben Thema gearbeitet haben ». Rudolf Blättler zeigte mir hiezu eine Abbildung der Venus von Hohenfels, einer winzig kleinen, auf ihre Weiblichkeit konzentrierten Tonfigur, deren Alter auf 35 000 Jahre geschätzt wird. Sie ist unschwer mit dem Werk von Rudolf Blättler in Verbindung zu bringen. « Man muss das irgendwie ignorieren », sagt er, « und daran glauben, dass man auch heute noch etwas hinzufügen kann. » Bei Marie-Theres Amici war es eine Zeichnung der Eiger-Nordwand, welche ganz ähnliche Worte auslöste, auch wenn die Landschaft als Bild-Motiv nicht ganz so weit zurück reicht.
Das heisst zunächst, dass beide Künstler fasziniert sind von Themen, die eine lange Tradition haben, Themen, die in ihrer äusseren und inneren Wahrnehmung etwas beinhalten, das dem Menschen eingeschrieben ist. Das Erscheinungsbild des Menschen ist im Kern immer eine Frage nach seiner Existenz, seinem Kommen und Gehen, seiner Wiedergeburt in der Zeit. Und im Nachdenken darüber ist die Magie unserer – nicht nur mythischen, sondern auch ganz konkret genetischen – Verbundenheit mit der Venus von Hohenfels enthalten. Das Werk von Rudolf Blättler vergegenwärtigt es. Und im Blick in die Landschaft ist immer auch das berührende Staunen mit drin, dass die Menschen zu allen Zeiten dieselben Horizonte sahen; die Eigernordwand vielleicht noch nicht von der Kleinen Scheidegg aus, aber das ist ein Detail, denn auch da ist dieses starke Moment der Verbundenheit – der Religio – spürbar.
Ich denke, dass man diese emotionale, sich über Raum und Zeit hinweg erstreckende Betroffenheit als die Gemeinsamkeit der beiden Kunstschaffenden hinter ihren Werken bezeichnen kann.
Da ich Ruedi länger kenne als Marie-Theres, will heissen knapp 34 Jahre, gibt mir das den Grund, zunächst auf die Skulpturen und die Tusche-Arbeiten hier im Raum und unten im Kabinett einzugehen. – Hatte Rudolf Blättlers Ausstellung im Museum Bellpark 2011 ausgesprochen intimen Charakter mit einem Schwerpunkt bei „nächtlichen“ Tusche-Arbeiten, so zeigen die drei zwischen 2009 und 2015 entstandenen, materiell sehr präsenten Skulpturen hier gleichsam die Tageslicht-Erscheinung seines Werkes. Sie verkörpern nicht einen geschlossenen Zyklus, sie setzen vielmehr drei Akzente, die im Schaffen von Rudolf Blättler immer wieder auftauchen.
Da ist zunächst die weibliche Figur, die heute nicht mehr offensichtlich Ur-Weib oder Tochter der Gaja meint, wie vor 20 Jahren, sondern „Frau“. Und doch gehört sie klar in diesen Werkstrang, der sich figürlich, erkennbar zeigt, zugleich aber eine Projektion ist, ein inneres Bild, eine Sehnsucht auch. Die Sehnsucht des Mannes nach einer Freiheit, nach einer von nichts gestörten Verbundenheit von Körper, Raum und Zeit in obigem Sinne, die er als Künstler, als Mann nicht oder noch nicht kennt und wohl bis ans Ende seines Lebens suchen wird.
Die zweite Figur nennt er „Torso“ – das scheint auf der Hand zu liegen, ist „Torso“ doch ein gesicherter kunsthistorischer Begriff für Skulpturen, welche den Rumpf des Körpers – die Brust, den Bauch, das Geschlecht – fokussieren. Wahrscheinlich denken wir dabei vor allem an griechische und römische Torsi. Doch im Werk von Rudolf Blättler taucht der Begriff zum ersten Mal auf; zuvor habe er ihn, so der Künstler, ganz bewusst zu umgehen versucht. Das heisst natürlich etwas. Für mich zwei Dinge: Zum einen betont der Mann-Torso, dass durch das ganze Werk hindurch die Tradition dessen, was mit Skulptur ausgedrückt werden kann, von Bedeutung ist. Dass Inhalt immer auch Form und Ausdruck meint. Und zum andern ist es ganz deutlich eine selbstbewusste Mann-Figur. Aber kein Pendant zur liegenden, weiblichen Figur, schon gar nicht zu den Ur-Weibern. Das ist neu. Bei Arbeiten aus den 70er/80er-Jahren ist das Geschlecht oft nicht definierbar, noch nicht geboren, könnte man sagen – man denke an die utopischen Architekturen mit den fast nur angedeuteten Figuren im Innern oder auch an den aus der Erde wachsenden „Ubinas“ – und eigentlich möchte der Künstler, wie er sagt, und wie es die schwarzen Tusch-Blätter zum Teil sehr schön zeigen, dahin zurück. Doch dazwischen ist ein langer Weg, ein Weg der Trennung und Wiederannäherung – ein schwieriger Weg, ein einsamer Weg; oft missverstanden, angefeindet gar. Aber Rudolf Blättler liess sich nie beirren, auch nicht, wenn es weh tat. Und jetzt der Mann-Torso – keine Frau, ein Mann – keiner jener angsterfüllten, männlichen Holzskulpturen mit erigierten Penissen von Josef Felix Müller aus den 1980ern – nein, einfach ein Mann, mit reicher muskulärer Sprache; nicht der Simon und nicht der Jakob, sondern ein Mann, dessen Sein in seinem Körper ruht, nicht von seinem Tun bestimmt ist – er hat keine Arme, keine Beine – und auch nicht von seinem Intellekt – der Kopf fehlt. Er ist Körper – sein Geschlecht ist nicht das Zentrum; er versucht in sich zu sein – und dabei seine Kraft nicht zu verleugnen.
Auch die dritte Skulptur ist klar ein Mann – zwei zu eins; dieses Verhältnis gab es wohl noch nie in einer Ausstellung von Rudolf Blättler. Ist es eine Antwort auf die Künstler-Paar-Ausstellung? Vielleicht irgendwo in einer Facette, aber gleichzeitig ist es auch eine werkimmanente Entwicklung. Ich weiss nicht ganz so sicher, wie ich den „Mann“ – so der Name – einordnen soll. Es gab im Laufe der Zeit auch Frauen-Figuren, die sich ähnlich an den Begriff „Realismus“ heranwagten. Und doch: Diesem Mann begegnet man nicht in Luzern. Er kommt von weit her – nicht geographisch, eher zeitlich. Seine grossen Hände erinnern an die Ur-Weiber, sie verdecken das Geschlecht. Zu Tätigkeit sind sie kaum fähig. Er schaut – mehr noch, er staunt – sein Dasein ist nicht unseres, seine Welt nicht unsere. Ein Gast. Eigenartig – oder vielleicht gerade nicht – dass die Handschrift seiner Epidermis gar nicht so weit weg ist von kleinen Ausschnitten in den Bildern von Marie-Theres Amici.
In ihrem Atelier gab es ein für mich verblüffendes Erlebnis. Das Schöne an einem Atelierbesuch ist ja, dass ein Atelier kein Ausstellungsraum ist – oder nicht nur – sondern, dass da auch die Staffelei steht – man sich die Künstlerin an der Arbeit vorstellen kann. Dass da Töpfe und Tuben mit Farbe und andere Mal-Ingredienzen liegen/stehen. Dass da die Pinsel sind – bei den meisten Malern in Confitüre-Gläser gesteckt. Auf meine Frage: „Mit welchem malst du eigentlich“, nimmt sie einen kleinen Pinsel – so wie ich ihn laienhaft vom Aquarell-Kasten her kenne. Ich lache ungläubig, sie lacht auch, aber über mich. Ich gehe mit dem trockenen Pinsel zum grossformatigen Bild, das wir auf eine Konsole an der Wand gestellt haben. Tatsächlich, da sehe ich den Pinselstrich, spüre ich den Puls des Malens. Ich schaue das Format des Bildes an, dann den Pinsel und merke, dass ich neue Aspekte ins Betrachten einbinden muss.
Da war doch seit Längerem immer auch noch ein anderes Staunen. Dann, wenn die Künstlerin von ihren Wanderungen erzählte, vom Verweilen an einem Wasserfall, vis-à-vis einer Bergkette, nahe am Ufer des Lido in Venedig. „Wenn ich da so sitze, vom Morgen bis zum Abend“ hörte ich sie in meiner Erinnerung sagen. Und wusste, dass ich mir nie vorstellen konnte, wie man so lange vor einem Motiv sitzen kann. Und jetzt dämmerte mir, dass es 1:1 zu nehmen ist, wenn sie sagt: Dann kam die Sonne, die Schatten zeichneten auf die Bergwand, dann verschwand das Licht wieder, Dunst kam auf oder gar Nebel, da verfärbte sich alles, wurde rot und dann wieder fahl-gelb, das blau scheinende Wasser hell und heller, weiss fast. Vom Morgen zum Mittag hin, zum Abend.
Mit jeder Zeichnung hat sie die Nuancen festgehalten, für mich manchmal nur schwerlich differenzierbar, aber für sie in der Zeit ein Buch und in ihrer Erinnerung die Fülle, mit welcher sie im Atelier an der Leinwand arbeitet – nicht mehr exakt am Ort, nicht eingeengt in die Umstände jenes Tages als sie da zeichnete, sondern sich in der Gleichzeitigkeit von Morgen und Abend, von Geschehen und Warten auf die Leinwand übertragend. Nur die Dauer des Verweilens macht ein solches Vorgehen möglich. Und dann der kleine Pinsel, der das noch einmal herausfordert. Wie haben doch die „Wilden“ der 1980er-Jahre ihre Emotionen explodieren lassen und in grossen Gesten ihren ungefilterten Gefühlen freien Lauf gelassen. Nichts so hier; expressiv zwar auch, aber einen ganz anderen Zeitfaktor einsetzend.
Plötzlich kam mir in den Sinn, dass ich auf der Reise nach Luzern zu den Atelierbesuchen im Kunstbulletin einen Text zu Maureen Kägi – die aktuell in der Kunsthalle Winterthur ausstellt – gelesen habe. Und erstaunt zur Kenntnis nahm, dass ihre visuell sehr verschiedenen Op-Art-Bilder nicht am Computer generiert sind, sondern in Feinarbeit mit Bleistift oder Farbstift auf Papier gezeichnet, mit feinem Pinsel entlang einer Vielzahl von Klebstreifen gemalt sind. Die junge Kunsthistorikerin, welche den Text schrieb, fragte sie erstaunt, warum sie diese Fleissarbeit auf sich nehme. Und die gut 30-jährige Künstlerin antwortete – hier verkürzt wiedergegeben: „ Diese Arbeiten entstanden durch die Schwierigkeit, wenigstens zeitlich beschränkt an etwas zu glauben, um so in das eigene Tun komplett eintauchen zu können.“ – Ich erzählte Marie-Theres Amici davon und sie nickte. Der kleine Pinsel ist das Instrument dazu. Da entsteht kein Bild in einem Tag – wie könnte es. Das Verschmelzen von Morgen, Mittag und Abend, von Ruhe und Bewegtheit, von Sonne und Wolken, vom Wasser, das fällt….ist nur durch Zeit, nur durch Ab- und Auftauchen, Weggehen und Wiederkommen zu erreichen.
Dies zu spüren, hat mich sehr berührt; gerade auch durch die doppelte Aussage von Maureen Kägi und Marie-Theres Amici, die 11/2 Generationen auseinander geboren sind – 1984 respektive 1943. Denn da ist sie wieder dieses Sehnsucht nach Verbundenheit, die wir, seit längerem schon, mehr und mehr verloren haben. Das digitale Zeitalter hat uns die Bodenhaftigkeit entzogen, so sehr, dass wir ein schlechtes Gewissen haben, Angst haben, wenn wir ausscheren, den Schnellzug vorbeisausen lassen, nicht erreichbar sind, weg sind, um irgendwo uns selbst, dem eigenen Körper, dem eigenen Empfinden, den eigenen Gefühlen zu begegnen.
Die junge Künstlerin und die erfahrene haben nicht denselben Hintergrund, sind nicht von derselben Zeit geprägt und doch begegnen sie sich in der Sehnsucht, Zeit zu spüren. Denn Maureen Kägi fährt in ihrem Zitat fort: „Das Repetitive sehe ich nicht als geisttötend und mechanisch an, denn während der Entwicklung….ändern sich immer wieder die Gegenstände der Wiederholung.“ Auch das stimmt ebenso für Marie-Theres Amici und führt mit Leichtigkeit zu jener Faszination der Verbundenheit, der Religio, die ich eingangs als das Gemeinsame in den Werken von Rudolf Blättler und Marie-Theres Amici angeführt habe.
Zusammen mit Maureen Kägi nimmt sie auch der möglicherweise aufkommenden Charakterisierung einer Ausstellung, die einer längst vergangenen Zeit entspringe, den Wind aus den Segeln. Klar, zum Mainstream der heutigen Kunstszene gehören die Werke von Blättler und Amici nicht – da sind digitale Purzelbäume, gesellschaftliche Opposition, Events, politische Unkorrektheit oder zumindest unverfrorener Umgang mit der Kunstgeschichte gefordert, um „in“ zu sein. Mit Schmunzeln habe ich, als ich Michael Sutter kürzlich an einer eher establishment-nahen Vernissage Bern angetroffen habe, von den Herausforderungen im Zusammenhang mit Blättler/Amici erzählen hören: Die Off-Space-Generation, welcher angehöre, besorge sich die notwendigen Materialien für eine Ausstellung links und rechts und wolle nichts mit aufbewahren oder lagern zu tun haben und jetzt habe er herausfinden müssen, wie man Bronzeskulpturen transportiere….. nun, sie sind da und so falsch ist der Ansatz vieler junger Kunstschaffenden natürlich nicht. Auch wenn – wie immer – viele Ansätze nebeneinander aktuell sein können.
Genug hier – ich danke fürs Zuhören und wünsche eine angeregte Diskussion.