Geistige Gymnastik mit Sinn und Gewinn

Ilona Rüegg in der Kunsthalle Bern. Bis 16.06.2002

Ilona Rüegg macht es niemandem einfach. Die Motive sind nur scheinbar das Thema. Es geht um präzises Sichtbarmachen von Momentsituationen. Die Kunsthalle Bern lädt zum intellektuellen Diskurs.

Das künstlerische Schaffen der in Brüssel, zuvor in Italien lebende Berner Künstlerin Ilona Rüegg (53) zeichnet sich durch die vielgliedrige Präzision aus, mit welcher die Künstlerin Visuelles, oder auch Sprachliches, in formal bis ins letzte Detail durchdachte Kompositionen einbringt. Gegenüber ihrer letzten Museumsausstellung (1995 im Helmhaus in Zürich) oder gar gegenüber ihrer letzten Ausstellung in der Kunsthalle Bern (1989) hat sich ihr Werk äusserlich stark verändert. Es kommt nicht mehr als Malerei und Zeichnung daher, sondern in Form von Digital-Prints ab schwarz-weiss Diapositiven und als Bau- und Audio-Elemente umfassende Installation.

Um den Kern wickelt sich indes seit den 80er Jahren ein roter Faden: Im Rahmen einer Preisvergabe erhielt das Aargauer Kunsthaus 1988 „Octave“ aus der Reihe „Salto Mortale“. Das Tryptichon zeigt die gemalte Raster-Vergrösserung einer Zeitungsabbbildung einer Kunstturnerin. So allerdings dass nicht die Turnerin, sondern die Darstellung respektive die Wahrnehmung des Bildes einen „Salto“ macht. Das Bewusstsein dass nur der Moment die Zeit anhält, dass es nur möglich ist Transitorisches zu zeigen, begleitet Ilona Rüeggs Schaffen durch die Zeit.

In die Eingangshalle der Berner Kunsthalle hat die Künstlerin ein den Raum präzise nachzeichnendes Zwischenlager eingebaut. Aus Durisol-Platten, wie sie im Baugewerbe zur Isolierung von Decken verwendet werden. Sie sind in exakten Abständen in eigens für die Ausstellung genagelten Holzrahmen aufgereiht. Der Name „Zwischenlager“ deutet auf „Moment“, doch das allein würde Ilona Rüegg konzeptuell nicht ausreichen. Wichtig ist ihr, dass die Platten von einer holländischen Firma stammen und für den Bau einer Turnhalle im Kanton Zürich bestimmt sind. Nur temporär sind sie Kunst, um dann wieder ihre funktionelle Aufgabe zu übernehmen.

Die Ausrichtung auf das Moment des Transitorischen gilt nicht für die materielle Ebene, sie gilt auch für Audio-Elemente der Installation „VOLUMEN/unveröffentlicht“: Auf den Durisol-Platten liegen in geometrischer Anordnung 18 (offensichtlich mehrfach gebrauchte) Lautsprecher. Aus ihnen tönen vereinzelte Textfragmente; französische, englische, deutsche – gesprochene, gesungene – Männer- und Frauenstimmen. Die Kabel bündeln sich am Rand und führen zu zwei kleinen, normalerweise geschlossenen, Nebenräumen. Ihre Türen sind durch dieselben, hier liegenden, Durisolplatten fixiert, was zwei parallelogrammartige Zugänge ergibt. Im einen Raum steht der Computer mit dem exakten Ton-Script der Text-Sequenzen. Im andern liegt das Textheft „Fussnoten“ auf, das die Fragmente in ihre Kontexte zurückführt. Statements von Künstlern und Kunstvermittlern zu Kunst- und Sprachproduktion. Herausgegriffen ist das nicht hörbar, die Künstlerin dekonstruiert die Texte. Sie komponiert die Worte neu, gibt ihnen temporär eine andere Erscheinung respektive Bedeutung. „D’une façon dis…continue“ sagt eine Stimme. Vereinzelt können die Worte vieles sagen, obwohl sie hier einem Gespräch des Literaten/Malers Pierre Klossowski mit Rémy Zaugg entnommen sind und sich auf sein Erleben von Theater beziehen.

Die Konsequenz und Präzision mit welcher Ilona Rüegg arbeitet, ist faszinierend, sie bricht die Sprödheit der visuellen Erscheinung auf, als wäre diese nur eine Formel, die erst in der Umsetzung ihre Bedeutung zeigt. Kein Zweifel, dass diese Sprödheit eine bewusste Haltung gegenüber den visuell vielfach überbordenden aktuellen Kunstströmungen ist. Und kein Zweifel auch, dass Bernhard Fibicher, Direktor der Kunsthalle Bern, Ilona Rüegg gerade deswegen eingeladen hat.

Auf den ersten Blick scheinen die parallel gezeigten schwarz-weissen Digital-Prints weit entfernt von der eben beschriebenen Installation. Was sollen halb entwurzelte, alte Olivenbäume in Plastiksäcken auf einem unwirtlichen Gelände in Italien dazu sagen? Oder die Wohnwagen von Schaustellern in einer Nebenstrasse im Zentrum von Brüssel? Die Titel zeigen die Richtung: „Trees older than me, Waiting“ heisst die eine Serie, „Town, Town“ die andere. Sie sind durch Aufnahmetechnik und Bearbeitung nahezu flach, bildhaft; dadurch lösen sie sich partiell von der abgebildeten Lebenswirklichkeit und können als Kunst neue Bedeutung aufnehmen. So ergibt sich unter anderem von den auf Neupflanzung wartenden Bäumen ein Bogen zum Zwischenlager. Der Link zur Installation zeigt sich aber auch formal: In den Kabeln (Bewässerungs-Schläuchen), mit welchen die Olivenbäume verbunden sind zum Beispiel oder im Dialog der auf ihre geometrischen Volumen reduzierten Wohnwagen mit der architekturnahen Anlage der Durisol-Platten.

Auf einmal tauch im Gedankenfeld Thomas Manns „Glasperlenspiel“ auf. Auch Ilona Rüeggs Strategien folgen ist nicht einfach aber geistige Gymnastik für Auge, Ohr und Sinn mit Gewinn.

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