BewohnerInnen vom 15. zum 21. Jahrhundert

Seebutz 2013: „Häuser und ihre BewohnerInnen“

Redaktorinnen: Heidi Lüdi, Margrit Wick-Werder

Auftrag an azw im Jan/Feb 2013: „Fraubrunnenhaus und seine BewohnerInnen“

Das Fraubrunnenhaus in Twann

Ist der Geist der Nonnen noch in den Ritzen?

Nonne am Degustieren
Nonne am Degustieren

Es könnte ja sein: Das Fraubrunnenhaus in Twann trägt anno 2013 diesen Namen, weil da eine Frau in einem Haus mit sechsfenstriger Fassade unmittelbar neben dem Dorfbrunnen ihren Wohnsitz hat. Eine inszenierte Fotografie („Je suis une femme, pourquoi pas vous“, Fotografie, aufgenommen im Depot des Kunstmuseums Bern, 1995. 2001 als Edition von I bis V herausgegeben. Format: 70 x 50 cm.) im Aufgang, die eine junge Frau mit geschulterter Axt vor Ferdinand Hodlers „Holzfäller“-Bild zeigt und fragt: „Je suis une femme, pourquoi pas vous?“ weist durchaus auf aktuelles Frauenbewusstsein hin. Aber nein. Seinen Namen hat das Haus von den Nonnen des Zisterzienserinnenklosters „Fraubrunnen“. Die vor allem aus bernischem Landadel stammenden Frauen, darunter auch eine „Adelheid von Tessen“ aus Twann (erwähnt 1338), hatten hier seit 1263 Rebbesitz (ab 1386 insbesondere auf dem Kapf). Für dessen Verwaltung (sprich: das Teilen des „Wynes“ und das Einfordern von Zinsen) brauchten sie „hus und wonung“. Die Geschichtsschreibung geht davon aus, dass sich dieses Haus ab dem 15. Jahrhundert am heutigen Standort befand, wenn auch noch in markant kleinerer Form als heute.Bewohnerinnen im engeren Sinn waren die Nonnen nicht; das Fraubrunnenhaus war ihr „Herbsthaus“. Aber die Historiker sind der Meinung, dass die mit der „Klosterwirtschaft“ betrauten „Frouwen“ durchaus nach Twann kamen. Also nicht nur in ihren Zellen beteten und in der Klosterkirche die „Jahrzeiten“ für das Seelenheil der Stifter abhielten. Überhaupt: Die Fraubrunnen-Nonnen waren „recht rebellische“[1]Rezension der Dissertation „Das Zisterzienserinnenkloster Fraubrunnen“ von Jürg Leuzinger  (2004) durch Kathrin Utz Tremp, Staatsarchivarin Kanton Freiburg (2008). Klosterfrauen, jedenfalls ist überliefert, dass sie die bischöflichen Inspektoren 1268/69 mit „Knüppel und Schwert“2 verjagten und sich während der ganzen Zeit des Bestehens (1246-1528) nie ganz den klösterlichen Regeln unterwarfen. Als die seit 1383 mit der Aufsicht betraute Stadt Bern beim Generalabt um Absolution für Äbtissin Katharina Hoffmann nachsuchen musste, weil diese 1481 im Kloster ein Kind geboren hatte, kostete das die Obfrau nicht einmal ihr Amt. Kein Wunder wurde „Fraubrunnen“ 1522/1524 zu einer Zelle der bernischen Reformation. Denkt man die weitgehende Selbständigkeit der Frauengemeinschaft in wirtschaftlichen Belangen hinzu, so verbirgt sich hinter „Fraubrunnen“ ein Stück früher Emanzipationsgeschichte.

Jürg Leuzinger schreibt in seiner Doktorarbeit von 2004 dass die dem Kloster insbesondere aus Halbreben-Verträgen zustehenden Trauben zentral in Twann in einer klostereigenen Presse zu (Weiss)-Wein verarbeitet und dann in Fässern per Schiff über den Bielersee, auf der Aare nach Solothurn und auf Fuhrwerken nach Fraubrunnen gebracht wurden. Wo diese Presse stand, ist unsicher.

Dachstuhl
Dachstuhl

Dass das Fraubrunnenhaus eine mehr als 700 Jahre umspannende Geschichte hat, ist faszinierend. Aber zu behaupten, dass der Geist der Nonnen noch heute in den Ritzen „hocke“, entbehrt einer realen Grundlage. Zu oft hat die Geschichte Wandel gebracht. Schon der Dorfbrand von 1525 hat dem Haus zugesetzt und erst recht der Brand von 1570. Dass „Bern“ das seit der Reformation zur Landvogtei Fraubrunnen gehörende „Herbsthaus“ 1572/74 wieder aufbauen liess – die Maurer Offrion und David Zülli lieferten hiezu 38 „Käpfer“ und erstellten drei Kamine, zwei Herdstellen und «ein Offenhus», Bilger Stein-Egger hatte 24 Fenster zu verglasen, «klein und grosse»(Andres Moser in „Die Kunstdenkmäler des Kantons Bern Land III, Amtsbezirk Nidau 2. Teil“, S. 287.) – zeigt, dass die vom Kloster übernommenen Twanner Rebgüter nach wie vor eine gute Pfründe waren und es sich lohnte, dem Ruf der Rebschaffner Folge zu leisten und im „Herbst“ im Fraubrunnenhaus Quartier zu beziehen. Im ausgehenden 16. Jh. wurde das Haus auch auf seine heutige Fassadenbreite erweitert. Der bis heute original (aber nicht ganz ohne Holzbock-Attacken) erhaltene Dachstuhl fasst seither das ursprüngliche, zwei Zimmer breite und ein weiteres schmales Haus bielwärts, zusammen. Mehrere, rund 80 cm messende Mauer-Durchstösse verbinden die beiden im Innern.

Ende des 17. Jh. wird das Haus ostseitig um einen Flügel erweitert («yngemacht Bettstatt, Buffet, Schafft und ander nohtwendigkeit»). Ebenerdig dient der Bau als Magazin, im 1. Stock Wohnzwecken. Teile des „Schaffts“ sind im sog. „Stübeli“ noch heute sichtbar. Aufkommender Wohlstand lässt weiteren Innenausbau zu. Im heute „Vorderes Esszimmer“ genannten, nordseitigen Salon (im Halte von gut 30m2) wird ein Säulen-Täfer angebracht, das bis heute erst vier Anstriche erfahren hat, einen davon marmoriert. Wie schön wäre es, gerade diese Schicht partiell wieder hervorzuholen … doch die Prioritäten des (teuren) Hausunterhalts haben es noch nicht zugelassen.

Ein Inventar von 1705 zeigt, dass es im Fraubrunnenhaus alles gab für den Herbst- Aufenthalt des Landvogtes samt Entourage. In seinem „neüwem Gmach“ z.B. „1 neüwer langer ausgezogener, mit Schlenggen beschlagener Tisch“, 6 nussbäumige Schabellen, 1 Dotzet möschige muschelachtige Struben, 1 Betkasten, Bettstat und Rollbett, 1 schlechter Strauwsack, 1 Nachtgeschirr. Und auch in der Küche ist alles bereit. Leider können wir uns nur vorstellen, dass es wohl zuweilen hoch her und zu ging im Twanner Herbst.

Dann der Donnerschlag. 1798 geht die „Ancienne République de Bern“ unter, die Landvogteien werden aufgelöst. Doch des einen Leid, des andern Freud. Anno 1804 kann der bisherige Buchsee-Schaffner Simund Conrad Irlet (1757-1834) das Fraubrunnenhaus samt “Schürly, Garten, Rebli und Länti“ von den Herren des Stadt-Raths von Bern für 1620 Bernkronen ersteigern. Die Zahlung solle in drei Teilen erfolgen, heisst es im Contract, einer bei Vertragsabschluss, einer in drei Jahren, einer in sechs Jahren, bei einem Schuldzins von 4%. Sigmund Irlets Interesse hat einen realen Hintergrund: Das Buchsee-Haus, in dem er in dritter Generation als Buchsee- und nach der Zusammenlegung der Rebgüter auch als Fraubrunnenreben-Schaffner tätig ist, muss wegen des geplanten Strassenbaus Biel-Neuchâtel abgerissen werden; was freilich erst 1835 umgesetzt wird.

So wartet das Fraubrunnenhaus immer noch darauf, endlich einmal ganzjährig und mit Leib und Seele bewohnt zu werden. Denn erst als es ernst gilt mit dem Strassenbau und die Gründung einer Familie ansteht, macht sich Sigmund Conrad Irlets Sohn Wilhelm (1802-1857) daran, das Fraubrunnenhaus für seine Bedürfnisse zu erweitern. Die finanziellen Möglichkeiten sind eng, das 19. Jahrhundert ist kein glorioses, allenthalben herrscht Armut. Immerhin gelingt es Wilhelm, zum Teil mit Materialien aus dem Abbruch des Buchsee-Hauses, und in Kooperation mit dem Nachbarn, einen westseitigen Trakt anzufügen und mit dem „Schürly“ zu verbinden respektive dieses aufzustocken. So, dass das Fraubrunnenhaus nun seeseitig eine Hufeisenform hat. Von Isolation war allerdings keine Rede, oft musste eine Bretterwand oder –decke genügen, um die eine von der anderen Seite abzugrenzen. Und die Feuerpolizei würde heute die Hände verwerfen angesichts von Bauweise und installierten Holzöfeli!

1838 ziehen Wilhelm Irlet und seine Frau Emilie Engel (Tochter von „Wilhelm dem Brodbeck“) als frisch Vermählte, Schwester Caroline (1801-1881) sowie Mutter Louise Irlet-Kühlwein (1768-1852) ins Fraubrunnenhaus (Sigmund Conrad Irlet war 1834 gestorben). 1839 wird erstmals in der Geschichte des Hauses ein Kind im Fraubrunnenhaus geboren: Wilhelm oder Guillermo, wie er sich später in Kolumbien nennen wird. Doch dann kommt schon wieder alles anders. 1840 nimmt Wilhelm Irlet von der Burgergemeinde Bern des Amt des Insel-Reb-Schaffners an und zieht im Dezember mit Sack und Pack ins alte Kloster auf der Petersinsel. Warum tut er dies? Wohl primär aus finanziellen Gründen, denn die Landvögte respektive der Staat sind nun nicht mehr die Hauptabnehmer für den Wein und die meisten Rebgüter sind privatisiert. Wie viele Mannwerk Irlet sein eigen nennt oder Pachtreben sind, ist unbekannt. Auch die „Marke“ Bielerseewein gibt es noch nicht, der Wein verkauft sich zu bescheidenen Preisen. Man sucht nach Alternativen, der Seidenproduktion zum Beispiel; Wilhelm Irlet ist Mitglied der Seidenbau-Gesellschaft. Der Maulbeerbaum an der Südfassade des Fraubrunnenhauses erzählt heute noch davon.

Maulbeerbaum
Maulbeerbaum

Auf der Insel wächst die Familie fast im Jahrestakt, 1840 wird Emilie, 1841 Adolf, 1843 Louise, 1845 Karl geboren. Doch in einem Brief an Cousine Caroline in La-Chaux-de-Fonds[2]Köstlich wie er seine Kinder darin beschreibt: „mes enfants grandissent et ont tous   un bon coeur….Wilhelm commence à se developer, Emili a peaucoup d’esprit mais elle est toujours … Continue reading hält er anfangs 1848 fest: „Die Arbeit übersteigt meine Kräfte, darum werde ich nach Twann zurückkehren.“ Nicht zuletzt weil seine Kinder wegen der Schule in Twann wohnen müssen. Ab 1849 ist hier nun „full house“ angesagt und der Keller voll in Betrieb. Auch von einem „Stall“ ist die Rede und vom Anbau von Erdäpfeln und Korn in Lattrigen. Man sucht sich nach der Decke zu strecken. Indes, 1857 schlägt das Schicksal zu. Wilhelm Irlet stirbt abrupt. Noch an seinem Todestag schrieb er ins Journal: „Schneider Hubler geben 2 Fr.“ Dann ist Funkstille. Die nunmehr achtköpfige Familie (inkl. Tante Caroline) muss sich neu finden. Das Journal weist ab Christmonat 1857 verschiedene Handschriften auf. Eintragungen wie „Hut gekauft“ weist wohl auf Mutter Emilie, die „Unterhaltung des Pferdes in Biel“ eher auf Wilhelm, den Ältesten. Auffallend sind die Einkünfte durch den Verkauf von Torf (Abbau auf dem Plateau de Diesse): „Für zwei Fuder erhalten Fr. 30“ heisst es am 10. Dezember 1857, „Für 1 Fuder Fr.16“ am 16ten.

Irlet Familie 1892
Irlet Familie 1892

Nach der Hochzeit der Töchter (aus Emilie Irlet wird eine Frau König, aus Louise die Rebstockwirtin Louise Krebs), dem Stellenantritt von Wilhelm bei der Eisenbahngesellschaft in Biel und Adolfs Vagabundentum, ist klar: Das Zepter im Fraubrunnenhaus übernimmt Karl Irlet. Schon 1862 (mit 17 Jahren!) etabliert er sich als „Kaufmann“, später wird daraus eine Eisenwarenhandlung und als seine Frau, Louise Irlet-Feitknecht (1855-1930), anfangs der 1880er-Jahre meint, Stoffe und Mode würden ihr besser gefallen als ehernes Zeug, gründen die Irlets – mit Carl (1879), Adolph (1880), Alice (1884) auch schon wieder eine fünfköpfige Familie – die Tuchhandlung K. Irlet Twann. Eine kleine Erbschaft erlaubt den Umbau. Im Parterre entsteht ein grosszügiges Ladenlokal mit Rolladen[3]Es handelt sich um einen der ältesten noch erhaltenen „Hartmann“-Rolläden in der Region. 2012 wurde der bisher nie geöffnete Rolladenkasten mit viel Anstrengung von innen geöffnet, gereinigt … Continue reading mit Schaufenster zur Gasse hin. Mit Louise Irlet-Feitknecht zieht ein neuer Geist ein. Modejournale treffen aus Berlin ein, die Schneider der weiteren Umgebung geben sich die Klinke. In der Freizeit wird Klavier gespielt. Die Noten hiefür sind noch heute auf dem Estrich. Nur „zuverlässige Ladentöchter“ zu finden, erweist sich als schwierig, immer und immer wieder muss inseriert werden.

Bundesmarsch
Bundesmarsch

Dem allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung entsprechend, wird am Haus weiter gebaut. Bis heute ein Highlight ist Karl Irlets Idee, die beiden Trakte des südlichen „Hufeisens“ mit einem Zwischenboden zu verbinden und so eine grosszügige Terrasse zu schaffen. Jahrelang läuft alles wie gewünscht, doch dann trifft eine Strukturkrise das Unternehmen. In Biel werden jetzt Kleider „prêt à porter“ angeboten, die Aufträge an die Schneider und somit der Bedarf an Stoffen geht zurück. Karl Irlet, der auch Amtsrichter und Armeninspektor ist, konzentriert sich vermehrt auf Antiquitäten (sein Hobby). Gesundheitliche Probleme der Eltern rufen Adolph und Alice Irlet nach Hause. 1926 ist einmal mehr ein Generationenwechsel angesagt. Nina und Carl Irlet-Bott übernehmen das Fraubrunnenhaus und vollziehen die bis heute bestimmenden baulichen Veränderungen. Insbesondere stockt Carl Irlet den Ostflügel auf – es entsteht ein grosszügiges Schlafzimmer mit Sicht auf Eiger, Mönch und Jungfrau sowie eine milde „Obere Terrasse“. Der bernische Denkmalpfleger Jörg Schweizer sagt später dazu: „Eigentlich ein Bausünde, aber eine schöne Bausünde.“

Carl Irlet mit seinen Antiquitten
Carl Irlet mit seinen Antiquitten

Nach dem Tod von Carl Irlet (1953) und Nina Irlet-Bott (1957) bleibt nur „Anusnéni“ (eine ehemalige Ungarin) im Haus und es beginnt eine Art „Dornröschenschlaf“. Zwar wird das Haus als Feriensitz der Nachkommen Irlet genutzt, gehegt und gepflegt. Doch erst seit 1998 wird es wieder ständig bewohnt, bezüglich Bau-Unterhalt vermehrt à jour gebracht und im Geist seiner Geschichte aktiviert.[4]Die heutigen Besitzerinnen sind Stéphanie Mörikofer-Zwez (geb. 1943) und Annelise Zwez (geb. 1947), Töchter von Marie-Louise Irlet (1911-2001) und Georges Zwez (1907-1992). Das Haus steht unter bernischem Denkmalschutz.

Einzelnachweise[+]