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Newsletter V 2025
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Françoise Petrovitch (*1964 in Chambéry), „Se coiffer“, Lithographie (2016), zu sehen in der Ausstellung „Von der Abwesenheit“ im Musée Jenisch in Vevey. Foto: azw
Es ist meine explizite Absicht, in jedem Newsletter auf eine Ausstellung in der Romandie hinzuweisen, um ein wenig Brückenbauerin zu sein. Was naheliegend ist, lebe ich doch an der Sprachgrenze und bin einigermassen bilingue. Diesmal gehe ich auf die Ausstellung von Françoise Pétrovitch im klassizistischen Bau des Musée Jenisch in Vevey ein. Ihr Titel: «Von der Abwesenheit» – man könnte sie auch «Vom Träumen», oder «Die Selbstvergessenheit» nennen. Françoise Pétrovitch ist 1964 in Chambéry geboren und lebt in Paris. In ihrem multimedialen Schaffen spielen die Druckgraphik respektive Lavierungen eine wichtige Rolle. Das ist der Link zu Vevey, dessen Museum auf Druckgraphik und Zeichnung ausgerichtet ist (erinnert sei an die eindrückliche Zeichnungs-Ausstellung «XXL – Die Zeichnung im Grossformat» 2021). International auf sich aufmerksam zu machen, gelang Pétrovitch mit ihren mit verdünnter Tinte gemalten, grossformatigen Pinsel-zeichnungen, sogenannten Lavierungen. Darin nimmt ihr künstlerisches Credo – «L’intimité» – durch das Format direkt mit den Bildbetrachtenden Kontakt auf; man wird zum unmittelbaren (auch emotionalen) Vis-à-Vis des kleinen, vielleicht aus dem Nest gefallenen Vogels in beschützenden blauen Händen zum Beispiel.
Oft sind ihre Protagonisten Kinder, schlafende, träumende Kinder zum Beispiel wie etwa in einer wunderbaren Serie von Radierungen von 2011. Das Medium des Drucks schafft hier eine erste Distanz, auch das Freistellen der Figuren schafft eine Welt des Imaginären und dann kommt der Humor dazu, wenn – in einem der Kupferdrucke – neben dem Mädchen (der Puppe?) ein Herz im «Raum» hängt mit den Worten «Bon pour un tour».
Raumgreifend ist eine erstmals als Ganzes gehängte Reihe von 64 Siebdrucken – «Rougir» – aus einem Zeitraum von 10 Jahren. Sie erzählt – ausschliesslich Rot-Weiss – von kleinen, zuweilen anekdotischen Beobachtungen, vom Osterhasen bis zum kleinen Mädchen, das rotes Wasser ausgiesst.
Die Ausstellung umgarnt (verzaubert) einem mit ihrer berührenden Atmosphäre; das verstärkt sich noch durch die beiden grossformatig projizierten Videos, die mit Hinterglas-Zeichnungen der Künstlerin «geschrieben» sind. Das eine zeigt Vögel und Schmetterlinge, die ein Mädchen in blauem Tricot umschwärmen, das staunend, auch ein bisschen verängstigt, inmitten des Geflatters steht. Das andere – «Echos» betitelt – weist stärker noch als «Papillons» auf die Ambivalenz des Märchenhaften, evoziert es doch – von Wasser- und anderen Klängen untermalt – die Geschichte der Nymphe Echo, die von Narziss verschmäht wird und stirbt.
Dieses Kipp-Moment findet seinen Ausdruck am deutlichsten in einer schwarz patinierten Bronzefigur, die über einem Vogel kauert, diesen – man möchte nicht glauben, was man sieht – möglicherweise erdrückt.
Summa summarum: Eine Ausstellung, die sich nachhaltig in die Erinnerung eingeschrieben hat.
Zwei beachtenswerte Künstlerinnen werden derzeit auch in Thun gezeigt: Die Malerei-Ausstellung «Bingfeng» von Rebekka Steiger (*1993) und die multimediale Schau «Navigating time and space» von Angela Lyn (*1955). Die räumlich gleichwertigen Ausstellungen sind stilistisch so derart verschieden, dass es nicht einfach ist, sich gleichermassen auf beide künstlerischen Sprachen einzulassen. Und doch haben sie etwas gemeinsam: Sie navigieren in ihren Inhalten zwischen dem europäischen und dem asiatischen Raum. Die junge Luzernerin Rebekka Steiger pendelt seit 2018 zwischen China/Vietnam und der Schweiz und beschäftigt sich in Bildern und Texten mit Mythen und Geschichten, die sie vor Ort findet. Die in England aufgewachsene einstige Franz Fedier-Schülerin Angela Lyn hingegen thematisiert Erinnerungen an ihre chinesischen Wurzeln väterlicherseits. Die Wechselwirkung der beiden gehen dergestalt gewissermassen in umgekehrte Richtungen. Das magHelen Hirsch (die langjährige Direktorin des Hauses) bewogen haben, die beiden Positionen zu kombinieren. Steiger, die sich von ihrer Ausbildung in Luzern her neue Horizonte erarbeitet einerseits, Lyn, die ihre europäischen Prägungen ablegt, um sich selbst in der eigenen Herkunft zu finden, andererseits.
Zwei Welten ergeben sich auch durch die unterschiedlichen Generationen. Allerdings war Angela Lyn in jungen Jahren auch noch nicht da, wo sie heute ist. Als ich sie in den 1980er-Jahren kennen lernte, war sie eine wichtige weibliche Figur der expressiv-figurativ malenden Jugend Zürichs! Dann – so erfährt man in einem Video – sei sie in eine Krise gerutscht, habe ein Jahr lang nur gezeichnet und zur Natur, zur Beobachtung des alltäglichen Lebens gefunden. Während Rebekka Steiger (32) mit viel jugendlicher Nonchalance auf ihren Rössern reitet (das Pferd ist eines ihrer Lieblingsmotive) und mit ihren Inspirationen tanzt.
Dass Bild und Klang zusammenfinden, ist nicht (mehr) ungewöhnlich in der heutigen Kunst und ich mag das sehr. So war ich gespannt, wie ich auf die Verbindung von Text und Bild in Steigers Malerei reagieren würde. Ein Audio-Guide erzählt zu zentralen Bildern sogenannte «Titelgeschichten», die – essayistisch in der Art – ein Gedankengewebe formulieren, das ihr als Inspiration diente. Das ist als Fährte bereichernd, gleichzeitig aber auch dahingehend gefährlich, dass wir dann zu sehr danach suchen im Bild, während sich Steiger im Malprozess längst davon entfernt hat und – ihrem Naturel entsprechend – längst ihre eigene Vision malte. Aber: Die Geschichten zeugen von inhaltlichen Auseinandersetzungen und das überzeugt. Informativer war für mich aber der Saaltext-Hinweis auf die Malweise Steigers, in welcher die expressive Pinselarbeit mit dem Aufsaugen und erneuten Abklatschen von Farbe eine atmosphärische Tiefenwirkung erreicht. Es gibt aber auch erstaunlich exakte (blaubetonte) Bilddarstellungen, die aufgrund von Fotografien in den Bündner Bergen entstanden und sich dem Thema von Eis und Kälte widmen. Ein sicherlich bewusster Kontrast. Versucht man einen Kern herauszuschälen, so ist das vielleicht die stete Annährung an ein Motiv, das sich aber gleichzeitig auch entzieht, eventuell verschwimmt und so immer Vorstellung und nicht Abbild ist.
Angela Lyns Ausstellung zeigt deutlich die Reife ihres Schaffens, das für mich neu ist nachdem ich sie nach ihrem Umzug ins Tessin in den 90ern aus den Augen verloren hatte und nun mit Staunen feststelle, dass sich ihr Werk nicht nur stark gewandelt hat, sondern inzwischen auch internationale Beachtung fand. So ist die Thuner Ausstellung denn auch eine Adaption einer Solo-Show in der Nähe von Mailand respektive Projekten in den USA von 2022 bis 2024.
Die Ausstellung ist dem Titel «Navigating Time and Space» entsprechend ganz auf die Passage zu einer fremden und doch eigenen Welt gewidmet, ohne dabei freilich persönliche (oder gar private) Momente aufzuweisen. Im Hauptraum gibt es eine Art Schiff mit einer Vielzahl von Objekten und davor in Guckloch-Kästen Einblicke in Videos, die vorwiegend vorbeifliessendes Wasser zeigen. Gleichzeitig sind da an den Wänden aber auch zweierlei Bildgattungen zu sehen. Einerseits souverän gemalte, dunkle Landschaften, andererseits minutiös herangezoomte Naturfragmente wie z.B. ein kleiner, blühender Zierkirschenzweig. Ferne und Nähe begegnen sich, messen auch die Zeit. Diese führt sie z.B. anhand einer reich bestückten, «klingenden» Sänfte zurück in die Epoche ihrer Grosseltern, betont mit einer kleinen Tee-Zeremonien-Installation aber auch Traditionen, die noch heute von Bedeutung sind.
Summa summarum: Die Vertiefung in die beiden Welten war eine Bereicherung!
Um nicht den Eindruck zu erwecken, alles immer nur «bereichernd» zu finden, muss ich hier auch auf Ausstellungen hinweisen, die mich enttäuscht haben wie zum Beispiel jene von Michel Huelin (*1962 à Saignelegier, vit à Genève) im Musée des Beaux Arts in Moutier. Ich kannte von ihm nur die dichten, digitalen, sogenannten «Substrat»-Bilder, die mich mit ihrer fliessenden Dichte faszinierten, und sah jetzt, dass diese Gattung nur eines von mehreren Kapiteln ist, die mir nicht von einer über Untersuchungen von Farbe, Material und Technik hinausgehenden, inneren Kraft zu zeugen scheinen. Aber vielleicht täusche ich mich.
Etwas anderes brennt mir unter den Nägeln.
Mit Blick auf die Schweizer Museumslandschaft kann man verallgemeinernd sagen: Je grösser die Museen, desto seltener die Präsentationen von und mit in der Schweiz lebenden Künstler*innen, auch wenn es zwischendurch Lichtblicke gibt wie z.B. die grossangelegte Schau «A propos Hodler» 2023 im Kunsthaus Zürich. Die aktuelle Initiative in Luzern, die explizit mehr Präsenz für Schweizer/Innerschweizer Künstler*innen im Kunstmuseum fordert, ist Ausdruck davon.
Andererseits kann man paradoxerweise sagen: Je weiter weg eine Region von den international tonangebenden, urbanen Zentren ist, desto lebendiger ist die regionale Szene. Das kann man z.B. in der Innerschweiz, aber auch im Kanton Solothurn beobachten. Kaum ein anderer Kanton begleitet «seine», z.B. hier aufgewachsenen, Künstler*innen in vergleichbarer Weise. Und so wundert es auch nicht, dass hier eine der in den 70er-Jahren wie Pilze aus dem Boden schiessenden Land-Galerien überlebt hat: Die Galerie Rössli in Balsthal. Sie zeigt reihum, an was mit Solothurn verbundene (nicht selten im Raum Basel lebende) Kunstschaffende gerade arbeiten. Wobei die für Ausstellungen nicht eben optimalen Räume Grenzen setzen. Aktuell sind dies neue Arbeiten von Fraenzi Neuhaus (* 1957). Die Künstlerin ist bekannt für ihre zuweilen begehbaren Skulpturen, die sie aus Kabelbindern «strickt» (zuletzt zu sehen im Kunst(Zeug)Haus in Rapperswil). Nicht für bildende Kunst prädestinierte (High-Tech)- Materialien waren und sind immer wieder Thema bei Fraenzi Neuhaus. So auch jetzt in Balsthal, wo insbesondere Arbeiten, die sie mit einem Lineaturen ermöglichenden 3D-Kunststoff-Stift «zeichnet», zu sehen sind. Netzwerkartige Schichten sind hintereinander gelegt, sodass die «Bilder» zu Objekten werden. Indem die Künstlerin reale Naturpartikel (wie z.B. Distelköpfe) miteinflicht, verdeutlicht sie die Thematik von «Natur und Künstlichkeit». Sie tut dies – was selten ist – nicht anklagend als einseitiges Plädoyer für die «Unberührbarkeit» der Natur, sondern fasziniert von den Möglichkeiten, das eine mit dem andern zusammen zu verbinden (was wir alle im Alltag tun und in der Chirurgie überlebenswichtig ist z.B.!).
Wenige Kilometer entfernt zeigt das «Schlösschen Vorder-Bleichenberg» in Biberist eine Ausstellung mit ausschliesslich malerischen Positionen unter dem Titel «Der unwiderstehliche Drang zur Figuration». Kuratorisch steckt der «Salon – Kunst der Gegenwart» dahinter, ein loses Netzwerk von figurativ arbeitenden Maler*innen. Hier sind es konkret der Basler/Aargauer Maler Urs Aeschbach und die Zürcher Künstlerin Corinne Güdemann, welche die Solothurner Jonas Baumann, Mattania Bösiger, Jan Hostettler sowie den «Salon»-Mitgründer Giampaolo Russo zu einer ausgesprochen kompakt und stimmig eingerichteten Ausstellung eingeladen haben.
Die Zusammenstellung sei nicht einfach gewesen, meinte Urs Aeschbach im Gespräch. Dies ist wohl nicht nur anderweitiger Verpflichtungen der Angefragten geschuldet, sondern auch dem etwas allzu einschränkenden Thema, denn «figurativ» heisst hier nicht einfach gegenständlich, sondern in einem weit gefassten Sinn figürlich und dies, wenn möglich, aus der weiteren Region. Bei Urs Aeschbach zeigt sich dies in Form von subtilen Beziehungs-Konstruktionen zwischen jeweils vier kleinen, abgenutzten Spielzeug-Tieren, bei Corine Güdemann als sichtbare (oder unsichtbare) Figuren in mehrfach verspiegelten Zimmern in «barocken» Räumen. Bei Jonas Baumann sind es «surreale» Wesen in gemalten Skulpturen.
Die Vernissage-Ansprachen wurden hier wie dort schweizerdeutsch gehalten, was indirekt eine Aussage ist. Vor Häusern in der Art des „Rössli“ oder des „Vorder-Bleichenberg“ «kleben» keine Umwelt-Aktivistinnen, es geht nicht um Praktiken in kolonialen Zeiten, auch nicht um verlorene Identitäten in der globalen Migrations-Gesellschaft. Weder Biberist noch Balsthal sind experimentelle Off-Spaces. Was aber nicht heisst, dass nicht Qualitätvolles mit gedanklichem Tiefgang gezeigt wird.
Alle Fotos: azw