Kunstmuseum Bern zeigt Menschen-Bilder in der Fotografie 1999
Vom analogen Dokument zum digitalen Simulakrum
www.annelisezwez.ch 14.11.1999
Unter dem Titel „Missing Link“ zeigt das Kunstmuseum Bern eine dichte, provokative Ausstellung zum Menschenbild in der Fotografie und dessen Infiltration in die Kunst.
Wusste man lange Zeit nicht so recht, welche Richtung Toni Stoss, seit 4 Jahren Direktor des Kunstmuseums Bern, seinem Haus geben würde, so scheinen die Signale nun klar: Mit dem deutschen Kunstkritiker Ralf Beil als Nachfolger von Sandor Kuthy, mit Hans Rudolf Reust als Geschäftsführer des (geplanten) Museums für Gegenwartskunst, mit Gastkurator Christoph Doswald (Baden/Berlin) bestimmt eine neue (Männer-)-Generation die ambitionierten Kunstgeschicke Berns.
„Missing Link“, eine ebenso spannende, wie überfrachtete, ebenso eindrückliche wie provokative, keinesfalls jugendfreie Ausstellung zeigt überdies, dass „museal“ und „zeitgenössisch“ für das Museum in Zukunft keine Antipoden mehr bilden werden. Gut ist Bern nicht New York; in den prüden USA wäre „Missing Link“ wohl schon vor der Eröffnung geschlossen worden (nicht nur wegen Andy Warhol und Robert Mapplethorpe).
Die gegenwartsbezogene Blickrichtung gilt auch für Teile der Sammlung, bilden doch Neuankäufe des Museums sowie der mit dem Haus verbundenen Stiftungen (z.B. „Stiftung Kunst heute“) im Bereich „Fotografie“ den Hintergrund für die nicht weniger als 90 Positionen umfassende Ausstellung. So führt denn die kürzlich erworbene Farbfotoserie „Rot“ (1974) aus der die (geschlechtliche) Identität befragenden Performance-Zeit von Jürgen Klauke mitten in die Ausstellungsthematik. Es geht um (narzistische) Identitäts-Konstruktionen und -dekonstruktionen wie sie sich als Wechselwirkung zwischen Fotografie, Kunst und Leben seit den späten 60er Jahren entwickelt haben. Die Fotografie habe, so Christoph Doswald in seinem analytisch-präzisen, lesenswerten Essay im umfangreichen Begleitkatalog, in dieser Entwicklung eine ständige Steigerung der Fiktionalisierung erfahren – vom analogen Dokument zum digitalen Simulakrum.
Billionenfach sind Menschen seit der Erfindung der Fotografie vor 160 Jahren abgelichtet worden; mit dem Aufkommen der Massenmedien wurden die vervielfältigten Menschenbilder zu Idolen; ihre Omnipräsenz begann das Bild vom Menschen zu prägen. Der „Gap“ oder „Missing Link“ zwischen Kunst und Leben wurde die Kunstschaffenden zum Tummelfeld für bildnerische Szenarien vor der Kamera. Cindy Sherman hat in ihren berühmten „Filmstills“ aus den 60er Jahren ihre eigene Scheu überlistet und sich zur Schein-Identität gemacht. Die frühen Feministinnen haben durch masochistische Praktiken die Schmerzzonen ihrer Körperlichkeit inszeniert (Gina Pane).
Die Ausstellung ist eine Art Foto-Geschichte; viele der gezeigten Arbeiten sind durch ihre massenmediale Präsenz in Kunstzeitschriften bereits zu Ikonen geworden – etwa Jeff Walls ebenso herausforderndes, wie medienreflektierendes Lichtbild „Giant“ (1992), das nicht nur alt und jung provozierend austauscht, sondern auch gross und klein, indem es eine alternde, nackte Frau überdimensioniert in einen Warenhaustempel stellt. Von dieser technisch noch relativ zahmen Manipulation führt der Weg zum digitalen Puzzlespiel, das es erlaubt, den Menschen beliebig zu zerlegen und neu zu formen (Inez van Lamswerde/Ugo Rondinone) Die Authentizität des Bildes erlischt, die aesthetische wie die geschlechtliche Neudefinition kann in der virtuellen Welt des Computers neu beginnen.
Die Choreographie der Ausstellung folgt sieben Kapiteln, welche die Entwicklung von der Fotografie „Am Rande der Dokumentation“ über die „Inszenierung“ und „Fragmentierung“ bis zur „Mediatisierung“ und „Rekonstruktion“ veranschaulicht. Parallel dazu zeigt sie aber auch die Gleichzeitigkeit und den Wandel der Themenbereiche im einen oder anderen Sinn von den 60er Jahren bis heute. Unter dem Stichwort „Selbstbefragung“ können das zum Beispiel ebenso die subtil-erotischen Frauenbildnisse von Katrin Freisager sein wie die provokative Selbstinszenierung des Asiaten Yasumasa Marimura, der sich als westliche Frau mit Netzstrümpfen präsentiert.