Student/-innen von Marie Antoinette Chiarenza an der ESAV_Genf Palais de l’Athenée 2000

Studierende sind junge Kunstschaffende

www.annelisezwez.ch    Annelise Zwez in Bieler Tagblatt vom 29ten Februar 2000

 

Seit einem Jahr ist Marie Antoinette Chiarenza Professorin des ”Mixed Media”-Ateliers an der Kunstakademie Genf. Nun zeigen ihre Student/-innen erstmals eigene Arbeiten im Palais de l’Athénée.

”Wir haben die Klasse von Marie Antoinette Chiarenza gewählt, weil uns ihr Umgang mit Kunst und Oeffentlichkeit interessiert, weil wir mit neuen Medien arbeiten wollen und, nicht zuletzt, weil es etwas Besonderes ist, eine Frau als Lehrerin zu haben”, sagen Annelore Schneider (Neuchâtel) und Nathalie Perrin (Lausanne). Sie sind zwei der zweiundzwanzig Studentinnen und drei Studenten aus der ganzen Romandie, vereinzelt auch der Deutschschweiz, die bei der Bieler Künstlerin an der ”Ecole supérieure des arts visuels” (ESAV) in Genf studieren.

Das Mixed Media- Atelier der ESAV hat viele wichtige Schweizer Künstlerinnen und Künstler hervorgebracht. Es wurde in den 70er Jahren von Chérif und Silvie Défraoui als erstes seiner Art in der Schweiz konzipiert. ”Nach dem Tod von Chérif und dem Rücktritt von Silvie Défraoui ging es mir darum”, so ESAV-Direktor Bernhard Zumthor, ”eine Künstlerin und einen Künstler als Nachfolger zu finden, die eine ähnliche, innere Unruhe, aber auch Weltoffenheit und eine analoge Fähigkeit zur Kommunikation haben wie damals die Défraouis. Darum habe ich Marie Antoinette Chiarenza zum einen, Enrique Fontanilles (Lehrer an der Videofachklasse in Basel) zum andern für die beiden Klassen gewählt. Um Erneuerung zu garantieren, wird die Leitung der Klassen indes alle drei Jahre wechseln.”

Dass sich die rund 50 Student/-innen, welche die hohe Hürde der Zulassung genommen haben, beinahe geschlechtsgetrennt für die Frau oder den Mann entschieden haben, ist ein Phänomen. (In der Klasse von Fontanilles gibt es keine Studentinnen.) Es hängt zweifellos auch mit der (nicht eigentlich geschlechtsspezifischen) Ausrichtung der beiden Kunstschaffenden zusammen. Während Chiarenza öffentlichkeitsorientiert und gesellschaftsbezogen arbeitet, ist Fontanilles Sicht auf die Kunst eine deutlich konzeptuellere.

So wundert es nicht, dass die Präsentation von Arbeiten von Student/-innen von Chiarenza primär Auseinandersetzungen mit der Gesellschaft, dem Leben hier und heute, dem Intimen und dem Oeffentlichen spiegeln. Die Spannweite reicht von der Verwandlung einer banalen Toilette in ein verträumt-verspieltes Jung-Mädchen-Boudoir über einen magische Signale ausstrahlenden Panzer (in den die Künstlerin für Performances einsteigen kann) bis zur Zubereitung von ”Love Cakes” in einer filmnahen Videoarbeit, die sich an der Vernissage mit süssem Kuchen in die Realwelt ausstülpte. Dann aber auch von ”Pretty Artists in the Street” (einer Video-Arbeit zum Thema Prostitution) über eine Barbie-Leiche auf dem Dach bis zu Grossmutters Unterwäsche im Garten des von der Kunstgesellschaft betriebenen 19. Jahrhundertgebäudes am Rand der Genfer Altstadt.

Erstaunlicherweise sind das vielfach Themen, die schon von der Pionier-Frauen-Generation in den 70er Jahren aufgenommen wurden, damals aber kaum Beachtung fanden. Der Unterschied liegt darin, dass die 1970 und später geborenen Künstlerinnen sehr viel gelöster, humoristischer, ironischer mit ihren Themen umgehen als ihre Mütter. Dementsprechend ist es für die einzigen drei Studenten der Klasse nach eigenen Aussagen ”kein Problem” in einem ”frauendominierten” Umfeld zu arbeiten. Es kommt hinzu, dass frauen-themen-betonte Arbeiten im calvinistischen Genf lange kein Brot hatten, somit vermutlich ein Nachholbedarf besteht. Ob sich einzelne unter den gezeigten Arbeiten dereinst als Frühwerke wichtiger Künstlerinnen entpuppen werden, ist nicht vorauszusehen. Ausstellungen mit Studentenarbeiten sind Übungen im Umgang mit der Realität des Kunstbetriebes.

Wie reagieren die drei Studenten in ihrer Kunst auf die ungewohnte Minderheiten-Situation? Spannend und sehr spezifisch: Babu Allard zeigt fragmentierte Fotos seines eigenen Körper-Innern in Form von begehbaren Bodenplatten; Jérémie und Frédéric Post hingegen schreiben Wettbewerbe aus, an denen nur sie sich beteiligen, und darum stets die Siegertrophäen erhalten (”Coupes et trophées”).

”Was ich meinen Student/-innen geben möchte, ist im Kern nichts anders als Glauben an sich selbst”, sagt Marie-Antoinette Chiarenza. ”Sie legt sehr viel Wert darauf, dass wir intensiv diskutieren” sagt eine der Studentinnen; ”in dieser Klasse, die ja nur eine von verschiedenen im Gesamtstudium ist, geht es nicht um das Erlernen von&Mac226;Handwerk‘, sondern darum, eigene Ideen zu formulieren, auszuarbeiten und bildnerisch umzusetzen; das ist, gerade am Anfang, sehr schwierig”.

”Meine Aufgabe”, so Chiarenza, ”ist es, herauszuhören, wer was in sich trägt, aussagen möchte und dies dann zu ermutigen und hiezu auch Ratschläge zu erteilen. Es geht darum, Selbständigkeit und Selbstverantwortung zu fördern. Deswegen habe ich zum Beispiel keine Auswahl vorgenommen für diese Ausstellung; es sind alle da und es hat sich gelohnt; selbst der Katalog ist gelungen und rechtzeitig erschienen. Für mich sind meine Student/-innen junge Kunstschaffende.”