Gian Pedretti CentrePasquArt Biel. Porträt. 2001

Mit Pinsel und Farbe die Existenz einfangen

www.annelisezwez.ch     Annelise Zwez in Bieler Tagblatt vom 06.09.2001

Ab Samstag, 8. September, werden in der Salle Poma des CentrePasquArt neue Arbeiten von Gian Pedretti (75) zu sehen sein. Eine lange Entwicklung hat ihn zum Heute geführt. Ein Porträt.

„Wenn ich eines Tages die Apotheose gefunden habe, werde ich nicht mehr malen müssen“, sagt Gian Pedretti. Wissend, dass er das Innerste der Existenz nie wird fassen können. Und darum so lange malen wird, wie das Leben es ihm erlaubt. Immer wieder mit dem Pinsel nach dem Kern fragend. Gian Pedretti, der Engadiner, der seit 25 Jahren in La Neuveville wohnt, ist ein Künstlertypus, den es kaum mehr gibt. Nicht der Tanz auf dem Parkett der Gesellschaft interessiert ihn, sondern die Tiefe. Und eigentlich braucht er fast nicht zu erzählen, dass er einmal – nein, viele Male – Alberto Giacometti traf, damals, in den 50er Jahren, als er jung war und sich in der Grossstadt Paris verloren fühlte. Dabei geht es nicht darum, sich mit einem grossen Namen zu brüsten, wie das junge Künstler mit strategischem Kalkül tun. Man muss sie eigentlich nur anschauen, die zwei, und man wird sich der Wahlverwandtschaft bewusst; leidend und suchend und zugleich in Momenten fröhlich und ausgelassen. Einsam und gesellig gleichzeitig.

„Giacometti war damals noch kein „Grosser“, erzählt der Maler in seinem luftig-hellen Atelier am Chemin du Beau Site, „die Pedrettis und die Giacomettis kannten sich von zuhause und so war klar, dass ich ihn aufsuchen durfte. Er fragte mich jedesmal, was ich getan habe. Ich hätte ihm gerne Zeichnungen gezeigt, doch ich konnte nicht arbeiten in der grossen Stadt. Bis ich auf die Idee kam, den Zug zu nehmen und in die Landschaft hinaus zu fahren. Da fand ich den Strich und nahm ihn mit zurück in die Stadt und dann ging es. Ob ich auch male, fragte mich Giacometti als ich ihm die Blätter zeigte. Nein, sagte ich damals – doch das ist lange her.“

Fürs Malen war in der Familie Pedretti lange der Vater zuständig. Turo Pedretti (1896 – 1964) war ein bekannter Bündner Maler; expressiv und lichtvoll in seinem Stil. Malen war für die Geschwister Giuliano, Ladina und Gian Pedretti etwas Selbstverständliches, ein Handwerk wie schustern oder schneidern. Nur dass sich der Maler mit dem Leben auseinandersetzte und es in Bildern festhielt. Von da her sei für ihn ein Künstler bis heute nichts Besonderes, sagt Pedretti, sondern einfach einer der bildhauere oder male. Und sich dabei, so möchte man anfügen, mit so Schwierigem und Forderndem wie dem Dasein, der Ganzheit von Erde und Leben und den Kräften dazwischen auseinandersetzt.

Auf dem Ateliertisch steht, mit Stecknadeln auf einem Karton befestigt, ein Zeitungsausschnitt mit der Abbildung einer Zeichnung der „Badenen“ von Cézanne, jener Werkgruppe des Franzosen, die vor einigen Jahren im Kunstmuseum Basel gezeigt wurde und verdeutlichte wie Cézanne versuchte Natur und Leben in ein Einziges zu verschmelzen. Unmittelbar darüber klemmt eine Original-Kopie der Zeichnung von Pedrettis Hand. Cézannes Grösse sei sein Scheitern gewesen, sagt er, sein Suchen und nicht Finden. Es ist wohl kein Zufall, dass sich Pedretti für die Einladungskarte zu seiner Ausstellung im Centre PasquArt in derselben Pose fotografieren liess wie einst Emile Bernard Cézanne aufgenommen hat – frontal, als Teil des Bildes.

Gian Pedretti war noch keine 16 Jahre als er in Zürich die Aufnahmeprüfung an die Kunstgewerbeschule machte. Nach dem Vorkurs trat er in die Fachklasse der Silberschmiede ein, eher zufällig als gezielt. Das Handwerk stand im Vordergrund; aufs Leben als Ganzes bezogen war das Zusammentreffen mit Erica Schefter wohl prägender. Nach RS und Dienstzeit sowie zwei Jahren beim Bildhauer Eugen Häfelfinger in Zürich, siedelten sich Erica und Gian Pedretti im Familienumfeld im Engadin an und betrieben eine Art Kleinunternehmen zwischen Silberschmiede, Metall-Werkstatt, Giesserei u.v.a.m. Mit seinem Bruder Giuliano – auch er Absolvent der Kunstgewerbeschule Zürich und bis heute als Bildhauer tätig – habe er 1949 einen fahrbaren Rucksack erfunden; auf den könnte die Armee jetzt mit ihrem neuen Gepäck-Leitbild zurückgreifen, meint der Künstler mit amüsiertem Unterton. Gleichzeitig entstanden Reliefs und Skulpturen – einige wenige Plastiken sind heute noch im Atelier in La Neuveville. Die Figurenstele mit expressiv bearbeiteter Oberfläche fällt vor allem durch die stechenden, blau-weissen Augen auf. Es sind dieselben Augen wie sie später in den in Landschaften eingebetteten Selbstporträts wiederkehren. Ums Sehen geht es, nicht nur ums Schauen.

Zu malen beginnt Gian Pedretti erst nach dem Tod des Vaters. In den Jahren zuvor sei es immer wieder vorgekommen, dass er ihm von seinen Erlebnissen in der Natur erzählt und er dann die Stimmung gemalt habe. Diese Bilder habe er später vermisst, doch seine frühen Bilder (ab 1966) seien keineswegs Landschaften gewesen. Ein Katalog zeigt es: Geometrisch betonte Räume mit Schädeln von Steinböcken, Gemsen und anderen, auf der Jagd geschossenen Tieren. Schädel seien nicht einfach morbid, sagt Pedretti, Schädel seien gleichzeitig Leben und Tod und somit Metapher für die Existenz. Manchmal, wenn er nicht mehr ein und aus wisse, müsse er gehen, wandern, bis er irgendwo unterwegs einen Schädel – vielleicht nur einen kleinen, eines Iltis zum Beispiel – gefunden habe.

1974 ziehen die Pedrettis nach La Neuveville. Es war einfach Zeit zu gehen. Man könne nicht ständig in Opposition zur Umgebung leben, zur touristischen Entwicklung des Oberengadins zum Beispiel. Was Pedretti nicht sagt, aber sehr wohl weiss; es brauchte Distanz zur Landschaft, zu den Wurzeln, zur Familie – um sie im selbstgewählten Exil neu zu hinterfragen … und zu malen. In La Neuveville – zunächst in der Altstadt, später dann am jetztigen Standort am Südhang – wird Pedretti zum Landschaftsmaler. Und gerade als solchen hat man ihn oft missverstanden, schubladisiert, wo er gar nicht hingehört. Denn Pedretti ist kein Landschaftsmaler. Wie war das doch in Paris damals? Er fuhr hinaus, zeichnete die Strukturen der Landschaft und nahm sie mit in die Stadt. Das Landschaftliche ist in Gian Pedrettis Malerei ist Raster, nicht Inhalt. Das Asperspektivische, das Schichten und in neueren Arbeiten das Auflösen ist Ausdruck davon. Dennoch ist es ein sehr persönlicher Raster, der in seiner Gebirgigkeit die Prägungen Pedrettis durch Bilder von Berg und Tal spiegelt. Die visionäre Suche gilt dennoch nicht der Landschaft, sondern der Existenz, den Empfindungen des Da-Seins und den Forderungen des Lebens.

Kräftigen Bahnen gleich zieht er das Erlebte und Erlittene, das Erfahrene und Erkannte mit dem Pinsel über die Leinwand, mal in verhaltenem Weiss-Grau-Schwarz im Verbund mit ockrigem Gelb, mal dunkler, mal heller, mal farbig im Licht der auf- und der untergehenden Sonne. Zuweilen mit der eigenen Gestalt unterwegs im Bild, Ausschau haltend und zugleich zurückgebunden an die materielle Bedingtheit des Lebens. Der Berg und das Tal, der Baum, das Tier und der Mensch sind als Horizontale und Vertikale bildbestimmend, getragen, aufgewühlt und verformt von den Kräften der geistigen, emotionalen und materiellen Existenz. Dabei versteht Pedretti diese seine Welt keineswegs als eine abgehobene, sondern als eine im Alltag verankerte. „Meine Bilder nähren sich von dem, was ich täglich sehe und erlebe, sei es beim Blick auf den See, beim Malen, beim Lesen oder im Kontext von Familie, Freunden und Gesellschaft.“