Kunsthalle Bern zeigt Chloe Piene 2004
Schreie zwischen Leben und Tod
www.annelisezwez.ch Annelise Zwez in Bieler Tagblatt vom 11. Februar 2004
Es ist ein gefährliches Thema, das die junge Amerikanerin Chloe Piene zu Kunst macht: Den Geschmack des Todes. Zwischen den Zeichnungen und den Videos gibt es ein Qualitätsgefälle.
Es ist eine spannende Zeit, in der die Kunst keinem Trend folgt und die Kuratoren zeitgenössischer Institute ganz auf ihre „Nase“ angewiesen sind. Sowohl die Kunsthalle Zürich wie die Kunsthalle Bern zeigen zur Zeit Werke von 1972 geborenen Künstlerinnen aus dem angelsächsischen Raum. Doch während Beatrix Ruf auf die neue häusliche Romantik von Eva Rothschild (vgl. BT vom 28. Jan) setzt, präsentiert Bernhard Fibicher in Bern die schauerlich aufbereiteten Existenängste von Chloe Piene.
Piene ist Amerikanerin, Rothschild ist Irin, doch beide sind Ende der 90er Jahre in London, wo es zu dieser Zeit brodelt. Doch während sich Rothschild von „Sensation“-Klima abwendet, nimmt es Piene mit nach New York und peppt es mit der schwelenden Lust an „political uncorrectness“ auf. Mit Erfolg: Sie ist für die diesjährige „Whitney Biennal“ (die Karriereschmiede Nr. 1 in Amerika) nominiert.
Um was geht es? Ein Video in Bern zeigt in immer wieder unterbrochenen Sequenzen, die sich kurzen Abständen wiederholen, ein junges Mädchen, das sich im Kontext eines Hardcore-Konzertes nackt im Dreck suhlt und dabei Todesnähe zu spüren sucht. Nicht gerade appetitlich, vor allem aber aufgesetzt. Auch die Halluzinatorisches andeutenden, verfremdeten Stimmen krallen sich nicht im Bauch fest. Desgleichen die junge Frau (die Künstlerin selbst), die im Video „Your’e gonna be my woman“ in einem Verlies eine Geschlagene mimt; auch sie kommt nicht über die Schauspielerei hinaus. Und die Klagen und Schreie, welche die Kunsthalle ausgehend von einem vor Ort aufgenommenen Putzfrauen-Video nonstop durchhallen, haben nicht annähernd die Intensität jener von Bruce Naumann. Kurzum: Trotz professioneller Umsetzung glaubt man der Künstlerin die Thematik nicht.
Wohl nicht zufällig besetzt Bernhard Fibicher den Hauptsaal der Kunsthalle wie auch den Aaresaal nicht mit Videos, sondern mit grossformatigen Kohle-Zeichnungen auf transparentem Velin-Papier, die von unvergleichlich höherer Qualität sind. In zittrigem Strich lässt die Künstlerin Körper aufscheinen, die Leben und Tod gleichsam durchwirken. Halb Skelett, halb Körper schweben sie ausgestreckt oder in sich zusammengekauert im Bildraum; in einem Zustand, der Bewusstheit hat und dennoch nicht nachvollziehbar ist. Die Optik scheint indes jene aus dem Totenreich zu sein; Erinnerungen an Wärme, an Körperlichkeit, an Sexualität. Die Subtilität der verschiedenste Perspektiven wählenden Zeichnungen lässt hier eine visionäre Nähe der Künstlerin zu ihrem Motiv spürbar werden, welche die Videos nicht haben. Unterstützt wird dieses Ich-Moment von der Tatsache, dass alle Körper erkennbar weiblich sind und dass die starken Beine, dort wo sie fleischlich sind, offensichtlich alle derselben Person gehören. Bernhard Fibicher spricht von Zeichnungen „transitorischer Bewusstseinszustände“; das ist nicht nur inhaltlich nachvollziehbar, sondern auch in der Transparenz des Mediums eingefangen. Wobei es nicht um eine esoterische Sicht geht, sondern eher um eine Vision, die letztlich dem Leben gilt und nicht dem Tod.