Silvie & Chérif Defraoui_Retrospektive St Gallen 2004

Erinnerung als Kapital für die Zukunft

www.annelisezwez.ch   Annelise Zwez in Bieler Tagblatt vom 12. Oktober 2004

Silvie & Chérif Defraoui haben mit der ersten „Mixed media“-Klasse der Schweiz unzählige Kunstschaffende geprägt. Und daneben Werke mit Pioniercharakter geschaffen. Jetzt gibt es das Werkverzeichnis dazu.

Es mag erstaunen, dass St. Gallen das Werkverzeichnis des primär von Genf aus agierenden Künstlerpaars Silvie & Chérif Defraoui herausgibt. Doch zum einen ist das Werk der Defraouis ein internationales – ihre „Fontaine du désir“ war eines der oeuvres majeures an der Documenta 1992 – zum andern ist Silvie Defraoui in St. Gallen aufgewachsen. Das 280 Seiten starke Buch ist indes zweisprachig und wird 2005 auch im Mamco in Genf präsentiert.

Die Begleitausstellung ist eine selektive Retrospektive mit einem Schwergewicht bei neueren Arbeiten. Sie trägt damit konzeptuell unweigerlich die Züge von Silvie Defraoui, auch wenn die Zäsur durch den Tod von Chérif Defraoui vor zehn Jahren in der Autorschaft der Werke nicht erwähnt wird. Das ist nicht etwa sentimental, sondern im Werk selbst angelegt. Das Schlüsselwort für dessen Verständnis heisst „Erinnerung“ respektive Zusammenführen von Zeit- und Wirklichkeitsebenen, die als Schmelztiegel das Kapital der Zukunft bilden. Ihr Gesamtwerk läuft denn auch seit 1975 unter dem Titel „Archives du futur“.

Als Beispiel mag eines der grundlegendsten Werke dienen, das sich als Leihgabe des Bundes in der Sammlung St. Gallens befindet: Die „Cartographie des contrées à venir“ (Vermessung der zu erwartenden Gegebenheiten). Die frühe Videoinstallation (1979) besteht aus einem Tisch mit einem Stuhl in einem halbdunklen Raum, darauf eine Kristallkugel; von oben wird, massexakt über Tisch und Kugel, ein Video projiziert, das zwei weiss behandschuhte Hände zeigt, die Postkarten mit verschiedensten Motiven auslegen. Was dabei „wahrgesagt“ wird, ist das, was sich aus den Assoziationen, den Erinnerungen, dem Wissen der Betrachtenden selbst schafft. Auch viele andere Werke – seien es Fotografien, Assemblagen, Zeichen-Texte, Lichträume oder Skulpturen – tendieren zu ähnlichem Ausweiten der Wahrnehmung zwischen Tag und Nacht.

Einem 70er-Jahr-Geist entsprechend, haben die Defraouis Persönliches immer hintenan-gestellt, um dem Kollektiven Raum zu geben. So sehr freilich, dass die Biographien auch jetzt im 280 Seiten starken Werkverzeichnis gerade mal ein paar Zeilen umfassen. Das ist schade, denn die Bedeutung von Chérif Defraouis ägyptischer Herkunft und der Einfluss Südspaniens als Wohnort der beiden (1960-1970) respektive Zweitwohnsitz (neben Genf) ist nicht unerheblich. Jedenfalls ist der Satz zur Fontaine du désir, „Wie die Sphinx gibt er keine Antworten, sondern stellt Fragen“, keine Phrase sondern ein Kern. Denn immer liegt die Bedeutung in der eigenen Wahrnehmung, in der Kombination von Sehen und Denken. Und dies meist intellektuell und sinnenhaft zugleich.

Erwähnt sei die Rauminstallation „La nuit, les chambres sont plus grandes“ von 1987, die unter anderem an der Biennale Venedig von 1993 ausgestellt war: Auf einem dunklen, runden Kautschukteppich steht ein Stuhl, sein Schatten wird durch eine Lichtquelle an die Wand projiziert. Oben steht ein Monitor, darin zieht der Mond vorbei und spiegelt sich en passant in einem blau fluoreszierenden „Fenster“. Der Porzellanteller auf dem Tisch weckt die Erinnerung an die Kristallkugel. – Die Stille und die Weite und das Gefühl von Wachsein im Schlaf geht einem unter die Haut; man steht angewurzelt im Raum und meint doch zu schweben. Wer weiss, vielleicht hat man dazu einst auch Kammern in die Pyramiden gebaut.

Interessant ist wie die Defraouis, ausgehend von den 70er-Jahren, mit Video umgehen; sie nutzen es nicht – oder selten – als filmisches Medium, sondern vielmehr als Spiegelfläche innerhalb eines Objektes, ähnlich einer bewegten Dia-Projektion. So gibt es im abgedunkelten Oberlichtsaal, in dem in einer erstaunlichen Inszenierung nicht weniger als sechs Videoarbeiten gleichzeitig zu sehen sind, zum Beispiel ein rundes, zerknittertes Papier (Ø 180 cm). Darauf sind von oben mehrfarbig Textkreise projiziert, die über das Papier wellend zu „schwimmen“ scheinen. „Tell the story“ steht im Zentrum und meint sicher das Werkverzeichnis, doch viel hintergründiger ist der alles einschliessende Gürtel. Denn da heisst es: „Le monde est sans paroles dans l’oeuf du serpent“.

Komplex nutzen die Defraouis auch die Fotografie, die eigentlich nie unverändert erscheint, sondern stets als Überlagerung verschiedener Ebenen oder als bewusst in die Unschärfe getriebene Ausschnittvergrösserungen (von Medienbildern zum Beispiel). Auch hier mit dem Ziel, die Vielschichtigkeit von Wahrnehmung, von Bildaneignung und imaginative Bildwandlung aufzuzeigen.

Die Retrospektive in St. Gallen ist ausschnitthaft, blendet zum Beispiel die figürlichen und objekthaften Arbeiten der 80er-Jahre aus, doch zeigt sie nichtsdestotrotz die anspruchsvolle und nachhaltige Dimension der „Archives du futur“ von Silvie & Chérif Defraoui für die Kunst in der Schweiz.

Das Werkverzeichnis ist Teil des Programms „Binding Séléctions d’Artistes“ (Verlag für moderne Kunst, Nürnberg). Konzept: Silvie Defraoui, Daniel Kurjakovic. Kurator: Konrad Bitterli