Michel Huelin in der Abbatiale de Bellelay in Berner Jura 2006

Verführt uns mit dem Gift des Schönen

www.annelisezwez.ch         Annelise Zwez in Bieler Tagblatt Juli 2006

Mit Michel Huelin (43) bestreitet erneut ein zeitgenössischer Künstler aus der Romandie die grosse Sommerausstellung in der Abbatiale de Bellelay.

Mit einem Dutzend Spiegeln auf dem Boden des Längsschiffes der barocken Abtei von Bellelay holt der Genfer Künstler Michel Huelin die Deckenarchitektur mit den reichen Stukkaturen scheinbar hinunter auf den Boden. Mehr noch, die floral verzierten Himmelsgewölbe scheinen sich, mächtiger in den Dimensionen gar, nach unten auszustülpen. Es gilt, sich alle paar Schritte auf die eigenen Füsse zu konzentrieren, um Schwindel zu vermeiden. Die Unsicherheit, die uns der 1962 in Saignelegier geborene Künstler mit seiner Installation beschert, ist indes Programm. Michel Huelin ist ein zeitgenössischer Dr. Faust, der mit den Verführungen digitaler Schöpfungsprozesse die Grenzen zwischen Realität und Virtualität auszureizen sucht.

Auf einem der quadratischen Spiegel liegt ein wächsern wirkender, gehörnter, rosaroter Jünglingskopf. Man sieht ihn doppelt; real und gespiegelt. Es handelt sich um eine „Stereolithographie“ und es ist die plastische Umsetzung des digital generierten 3D-Modells aus dem Video „Xenobiosis“, welches der Ausstellung den Titel gibt. Mit Xenobiosis bezeichnet man – zum Beispiel in der Medizin – Untersuchungen zum Verhalten fremder Substanzen im menschlichen Körper. Zwei weitere Spiegel entpuppen sich als hochglänzende Lambda-Prints, die zum einen eine Labor-Situation mit Gläsern zeigen, in denen grasgrüne Pflanzenteile aufbewahrt werden und zum anderen eine Konstellation sich durchdringender, weisser, künstlicher Lianen. Und da liegen auch noch ein paar rosarote Absperrgitter, so klein wie Spielzeug.

Die Installation ist durch diese Ausfächerung ein eindrückliches Bild dessen, was Michel Huelins Kunst kennzeichnet: Ein Spiegeln der Welt in virtuellem Schein, der plötzlich nicht mehr Schein ist, sondern zu Leben erwacht und wuchernd das einstmals Reale durchdringt. Dass der Künstler damit auch die Himmelsfantasien der christlichen Kirche meint und so den Ort der Ausstellung auch inhaltlich einzubeziehen versucht, ist eher zu verneinen – zu sehr wirkt der Künstler auf seine in den letzten Jahren immer raffinierter gewordenen virtuellen Schöpfungsszenarien fokussiert.

Es ist also nicht das Ortsspezifische, das die Ausstellung ausserordentlich macht. Diesbezüglich bleiben die Erinnerungen an Installationen früherer Jahre, zum Beispiel von Carmen Perrin, von Beatrix Sitter, Jean Stern oder Catherine Bolle eindrücklicher.

Nicht das Ausserordentliche der Ausstellung, sondern der Kunst von Michel Huelin ist das auf dem Flachbildschirm gezeigte Video „Xenobiosis“ von 2005, aus welchem auch alle einzeln und in Grossformaten gezeigten neuen Lambda-Print-Arbeiten stammen. Es ist eine Reise von Cyborg und Dr. Faust in eine Zukunft, in der Abgestorbenes und Verlassenes in neuer virtueller Schönheit erblüht, die Schwerkraft ausser Funktion gesetzt ist und einem im Raum schwebend kosmische Dimensionen erleben lässt. Allerdings, ganz zu Beginn und am Schluss des gut 6-minütigen Animationsfilmes tritt ein schwarz vermummtes Gesicht in Erscheinung, das einem darauf aufmerksam zu machen scheint, dass wir mit diesem Video geheimen Einblick in einen Hochsicherheitstrakt erhalten. Und so mischt sich denn in die Faszination des Schönen und Schwerelosen von Anfang an ein Unbehagen, das angesichts von putzigen Hunden aus grasgrünen Kunstfasern gar zur Überdosis an „Gift“ wird. Nichtsdestotrotz ist der Film ein Chef d’oeuvre, das mit beeindruckender Verführungskunst auf die Gefahren der aktuellen Tendenzen in den wirtschaftsorientierten Wissenschaften rund um den Globus wirft.

Michel Huelin ist in der Romandie und in Frankreich ein sehr bekannter und mit grosser Aufmerksamkeit verfolgter Künstler mit besten Galerie-Verbindungen. Es wundert darum nicht, dass die Bellelay seit 2005 neue Impulse gebenden Kunsthistorikerinnen Valentine Raymond (Genf/Moutier) und Caroline Nicod (Lausanne/Biel) Michel Huelin in den Berner Jura einluden. Es wirft indes ein fragwürdiges Licht auf das Verhältnis Romandie – Deutschschweiz, wenn man feststellen muss, dass das Werk Huelins im deutschsprachigen Raum bis heute kaum gezeigt wurde und dieser Text der bisher einzige deutschsprachige ist, welche über die überregional bedeutsame Ausstellung berichtet.

Michel Huelin
Michel Huelin wurde 1962 in Saignelegier geboren und machte 1982 die Matura in Porrentruy. Sein Studium an der Ecole supérieure d’art visuel in Genf schloss er 1988 mit dem Diplom ab. Von Anfang an befasste er sich in seiner Kunst (damals Malerei) mit dem Schein des Bildes, mit der Auflösung von Form in (vielfach gemusterte) Oberflächen. Um 2001 kam das Medium Video hinzu, das er alsobald dazu nutzte, um mit Höhen, Tiefen und Oberflächen – sei es in naturhaftem oder architektonischem Umfeld – zu experimentieren. Mit grösser werdenden Informatik-Kenntnissen wurde sein Schaffen immer raffinierter und er gehört heute zweifellos zu den virtuosesten Künstlern dieser Richtung.