Pirotte wollte keinen Totentempel
Unter dem Titel „Villa Jelmini – The complex of respect“ versucht Philippe Pirotte in der Kunsthalle Bern den Geist Harald Szeemanns einzufangen ohne sich ihm zu unterwerfen. Eine Art Auflehnung.
Bieler Tagblatt vom 1. Februar 2006
Harald Szeemann, der vor einem Jahr verstorbene Schweizer Kurator von Weltruf, ist drauf und dran, eine Kultfigur zu werden. „Nur nicht verpassen“, sagten sich da die Berner Kulturpolitiker und wollten die 80-teilige Fotoserie, die der Szeemann-Freund und Fotograf Balthasar Burkhard 2005 in dessen „Agentur für geistige Gastarbeit“ in Maggia machte, in der Kunsthalle Bern sehen. Schliesslich war er ein Berner! Doch der Belgier Philippe Pirotte, seit gut einem Jahr Leiter der Kunsthalle, sagte: „Nein, einen solchen Totentempel zeig ich nicht“.
Was er jetzt als „Villa Jelmini – The complex of respect“ präsentiert, ist keine Aufarbeitung der Persönlichkeit Harald Szeemanns. Fast eher eine Art Auflehnung, das, was in der Doppeldeutigkeit von „Komplex“ (Gesamtheit/Wahnvorstellung) anklingt. Es beginnt schon im Foyer. Da stehen als Block fünf schwarze Leinwände, rückseitig betitelt mit „I, have, nothing, to, say“ von Gardar Eide Einarsson, der Satz, mit dem Amerikaner die Aussage verweigern. Ganz so heiss wird die Suppe dann aber nicht gegessen. Im Foyer hängen 13 der genannten Fotos von Burkhard. Ein magisches Chaos. Da ist auch die „Villa Jelmini“ zu entdecken, denn Szeemann pflegte seine Unterlagen in den Kartons seines Hausweines „Villa Jelmini“ (ein Tessiner Merlot) zu stapeln. Das Archiv ist übrigens zur Zeit versiegelt, die Familie (Szeemann war zweimal verheiratet und hat drei Kinder) will angesichts von Kaufangeboten (u.a. des Getty Museums) zunächst gründlich überlegen, was damit geschehen soll.
When attitudes become form
In direkter Beziehung zu den Fotos ist ein Stapel aufgetürmt, vielleicht das Highlight von „Villa Jelmini“. Die Kunsthalle hat den Katalog von Szeemanns 1969 umstrittener und später Kunstgeschichte gewordenen Berner Attitüden-Ausstellung (mit der berühmten Fett-Ecke von Beuys) faksimiliert. Eine Trouvaille, zum Beispiel für die 15 Künstler, die Pirotte nach Bern einlud, denn kaum einer war 1969 schon geboren.
Pirotte hat ganz bewusst eine junge, seine eigene, Generation nach Bern geholt, wie das Szeemann damals auch machte. Dabei versuchte er immerhin, gewisse Fährten zu legen. Zum Beispiel zu dem von Szeemann geradezu gepachteten Wort „Obsession“. Darauf antworten zum Beispiel die Bleistift-Zeichnungen von Armen Eloyan, eines in London lebenden Armeniers: Eine Vielzahl fotografienaher Porträts, die durch Attribute wie Sonnenbrillen, Bärte, Perücken, Zigarren zu undurchsichtigen (Mafia)-Gestalten werden. Da gibt es aber auch das Künstlerkollektiv Henry VIII’s Wifes, das mit PR-Methoden unserer Zeit seit Jahren für eine Realisierung des einst 400 Meter hoch geplanten Turmes des russischen Konstruktivisten Tatlin wirbt. Auch Szeemann liebte utopische Visionen und in kaum einer Ausstellung fehlte ein Modell des tatlinschen Turmes.
Das Video auf dem Bart
Dass Szeemann nicht zuletzt eine bestimmende Figur in der internationalen Kunstszene war, zeigen vor allem zwei Positionen. Zum einen die köstlichen Bleistift-Karikaturen von Franticek Klossner (dem einzigen Schweizer in der Schau); da kann man unter anderem sehen wie Pipilotti Rist „ein Video auf Haralds Bart projiziert“. Zum andern die interaktive Website „In Camera Caritatis“ des Italieners Robert Cuoghi, auf welcher das aktuelle „Gewicht“ der Magier des Kunstmarktes aufscheint.
Eine künstlerische Verbindung zu Szeemann gibt es hingegen über die via Web Cam in die Kunsthalle projizierte „Art Farm“ des Belgiers Wim Delvoye, der in China Schweine hält, die er tätowiert und deren Häute er nach der Tiere Gang ins Schlachthaus als „Malerei“ verkauft. Delvoye ist der einzige Künstler, den auch Szeemann zeigte, in seiner letzten Ausstellung, dem „Visionären Belgien“. Eine Präsentation, die Pirotte nicht eben schätzte. Szeemann war kein Analytiker, er ging von den Sinnen aus, liebte das Abgründige, das Zynische auch, suchte „Honig und Blut“, wie eine Balkan-Ausstellung 2003 hiess. Das macht Pirottes Schau nicht, vielleicht ist heute auch nicht die Zeit dafür. Dennoch, als wir ihn fragten, was ihn bewogen habe, die zu feinen, geradezu lyrischen Gehängen verbundenen (Kitsch)-Goldkettchen von Tonico Lemos Aud (einem in London lebenden Brasilianer) zu zeigen, antwortet er: „Weil ich sie haben musste“. Das ist eine Attitüde, die Szeemann überzeugt hätte.
Die Ausstellung dauert bis 26. März. Ein Katalog ist in Vorbereitung.