Jerry Haenggli Monographie Kehrer Verlag 2010
Die Realität ist ein Facebook
www.annelisezwez.ch Annelise Zwez in Bieler Tagblatt vom 19. 10. 2010
Zum Kunstschaffen von Jerry Haenggli ist im Kehrer-Verlag Heidelberg eine Monographie erschienen. Als Herausgeberin zeichnet die Bieler Art-Etage, für die Gestaltung Noémi Sandmeier.
Das Buch muss etwas an sich haben, das der Bildschirm nicht hat. Wie käme es sonst, dass alle Künstler und Künstlerinnen heutzutage zwar eine Website betreiben, mit viel grösserem Stolz aber ihre erste Publikation präsentieren. Der Bieler Künstler Jerry Haenggli strahlt endlich ist es gelungen genügend Sponsoren zu finden, um ein gut 100 Seiten starkes Buch zu seinem Bild-Schaffen zu veröffentlichen.
Das Buch ist zwar auch eine Illusion im Vergleich mit den Original-Kunstwerken. Weder die Oberfläche noch die Druck-Grösse bilden etwas von der Kruste eines Öl- oder Acrylbildes, respektive der Beschaffenheit einer Skulptur ab. Aber das Buch ist materieller als das digitale Lichtbild, man kann es in die Hand nehmen, nicht mit einem Mausclick wegzappen. Der Körper spürt es und wahrscheinlich entsteht so ein stärker ausgeprägter energetischer Austausch.
Das berücksichtigen auch die öffentlichen Gremien. Die Pro Helvetia publiziert alle zwei Jahre die Cahiers dartistes, die Berner Kunstkommission unterstützt im Zweijahresturnus fünf Publikationen von Berner Kunstschaffenden und auch die Bieler Kulturkommission spricht gelegentlich Druckkostenbeiträge, zum Beispiel für Jerry Haenggli.
Ganz wesentlich ist, dass ein Buch mehr ist als nur eine Folge von Abbildungen; es muss gestaltet sein, spannende Texte enthalten, Informationen bündeln, es muss sein wie eine Ausstellung.
Das mit der Art-Etage eng verbundene Grafikatelier Gestaltung,Form,Funktion (gff) hat für die Publikation Jerry Haenggli Ohne Titel Zwischenwelten mit der Idee eines Salon noir, eines Salon rouge, vert und brun vier chronologische, aber auch inhaltliche Bild-Räume geschaffen, die den Gedanken des Buches als Ausstellung sehr schön aufnehmen.
Jerry Haenggli mit Jahrgang 1970 der jüngste Spross der Bieler respektive Neuenburger Malerdynastie Robert lebt seit den 90er-Jahren als freier Künstler in Biel. Nebenjobs halten ihn finanziell über Wasser, denn von alles andere als schmeichelhaften Bildern lässt sich nur bedingt leben. Haenggli malt nachts, taucht fiktiv in dunkle Geister-Welten und real in rhythmische Punk-Klänge ein. Malend bannt er das Beängstigende der gewalttätigen Seiten des Menschen in eine ebenso von Graffiti wie von Comic, von Horror-Filmen und Science Fiction aber auch von mittelalterlichen Bildern mit beeinflusste Bilderwelt. Schwarz, rot, weiss, braun und Töne dazwischen.
Zwei Texte führen ins Werk ein: Ein die Lebensgeschichte des Künstlers ein dessen eigenen Worten nachzeichnender von Alfred Mauer und ein interpretierender von Andreas Meier, dem Gründungsdirektor des Centre Pasquart. Zwei Punkte darin lassen aufhorchen. Meier vergleicht die Bilder Haengglis mit der Humanité blessée von Léo-Paul Robert aus der Zeit um 1900 und fragt sich, ob nicht beide am selben Thema arbeiten, nur je stilistisch ganz anders. Und die neuere Reihe der Portäts von Haenggli sieht Meier als Position wider die Dominanz der Selbstdarstellungen in allen Medien. Die Realität ist ein einziges Facebook heisst es da etwa, da müsse einer zum Kopfjäger werden.
Ausgesprochen schade ist, dass das Buchkonzept die allerneueste Entwicklung im Schaffen Haengglis bereits nicht mehr berücksichtigt, haben sich doch zwei Reisen nach Indonesien gerade zu als Türöffner eingeschrieben und gehörten die in der Folge gemalten Grossformate von Gewaltszenen zwischen Realität, Film und Game zum Überraschendsten der Weihnachtsausstellung 2009/10 im Museum Pasquart.
Info: Da bei Kehrer/Heidelberg erschienene Buch trägt die ISBN-Nummer 978-3-86828-178-1. Es kann in der Art-Etage (Pasquart-Annexbau) sowie im Buchhandel erworben werden. Preis: 28 .
Bildlegende:
Doppelseite aus dem Salon vert des neuen Buches zum Schaffen von Jerry Haenggli. Bild: azw