Tiziana de Silvestro Felicita Pasquart Biel 2010

Die Kamera ist mein Passe Partout

 www.annelisezwez.ch     Annelise Zwez in Bieler Tagblatt vom 15. Oktober 2010


Die Bieler Foto-Künstlerin Tiziana de Silvestro ist mit ihrem Essay „Freedom and Liberty“ in „Felicità“ im Kunsthaus Pasquart vertreten. Ein Gespräch über ihre Erlebnisse auf den internationalen Schwulen-Kreuzfahrten.

Unterwegs sein ist für Tizina de Silvestro ein Lebenselixier. Darum haben ihre in Langzeit-Serien entstehenden Foto-Essays fast immer etwas mit dem Durchbrechen von Grenzen oder, im Gegenteil, mit Einschränkungen zu tun. Das auf sechs „Gay-Cruises“ entstandene Portfolio „Freedom and Liberty“, das zur Zeit Teil der Themenausstellung „Felicità“ im Kunsthaus Pasquart ist, macht hier somit keine Ausnahme.

Von einem Freund aus der Zeit als sie als Flight-Attendant um die Welt flog hatte sie von Gay-Cruises gehört, welche von Kalifornien (seit kurzem auch von Europa) aus in See stechen, um den bis zu 3500 Gästen eine Zeit ohne Grenzen zu bieten. Da als Zaungast mit der Kamera dabei zu sein lockte sie so ungemein, dass sie nicht locker liess bis sie ein Single-Ticket für die heiss begehrte Dauer-Party auf See in der Tasche hatte. Das war 2006.

„Ich hatte keine Ahnung wie die zu 95% männlichen Teilnehmer mich tolerieren würden“, sagt sie. Doch die Erfahrungen seien so positiv gewesen, dass sie seither fünf weitere Male mitgefahren sei – auf der „Freedom“ ebenso wie auf der „Liberty“, der „Brillance“ und der „Äquinox“, so die Namen der Schiffe. „Nie habe ich erlebt, dass man mir so unbekümmert, höflich und zuvorkommend begegnet.“ Und weiter: Man müsse ganz klar Abstand davon nehmen, sich diese Kreuzfahrten als schwimmende Swinger-Clubs vorzustellen. Für die Teilnehmenden gehe es darum jenseits aller Rechtfertigung die eigene Körperlichkeit, und in Verkleidungen gleich auch noch jene der Alter Egos,  lust- und freudvoll auszuleben. Was sich hinter den Kabinentüren abspiele sei, wie überall sonst im Leben, Privatsache.

Treffend vergleicht Caroline Nicod, bis Juli 2010 stellvertretende Direktorin des Kunsthaus Pasquart, das Projekt im Katalog zu „Felicità“ denn auch als Spiegelbild der dionysischen Feste der Antike, bei denen das Glück im Erleben unmittelbaren Vergnügens bestanden habe. Und erwähnt zugleich die Tradition der „Narrenschiffe“ mit ihren porträtartigen Charakterisierungen menschlichen Verhaltens. Nicod hatte einen Ausschnitt von de Silvestros Essay 2009 im Rahmen des Bieler „Joli mois de mai“ entdeckt und daraufhin als Beitrag für die Ausstellung zum Thema „Glück“ vorgeschlagen.

Rund 2500 Fotos zum Thema hortet Tiziana de Silvestro in ihrem Computer. Es sei das erste gänzlich digital aufgenommene Thema, sagt sie.  Die  60 unterschiedlich grossen, aber durchwegs kleinformatigen Abzüge, die sie nun in „ihrem“ Raum im Altbau des Pasquart einem wellenden Band gleich zeigt, sind somit nur ein winziger Ausschnitt. Belebte Szenenfolgen unterbricht sie durch leicht grössere Bilder vom schäumenden Meer rund um die Schiffe. Sie sollen die Entgrenzung der Situation sichtbar machen.

Der da und dort formulierten Kritik, die Bilder seien viel zu klein, begegnet de Silvestro mit konzeptuellen Überlegungen. Es gehe ihr nicht um das „ultimative“ Bild, auch nicht um das voyeuristische Zurschaustellen Einzelner in Grossformaten, sondern darum die Dynamik der Dauer-Party, die gemeinschaftliche Lust am Leben, die Farbigkeit und die Vielfalt der Ausdrucksformen aufzuzeigen, ohne dadurch Persönlichkeitsgrenzen zu durchbrechen. „So wie ich mich Stück um Stück an die Nähe herantasten musste, so sollen es auch die Betrachtenden tun.“

Schaut man genau hin, erkennt man denn auch, dass de Silvestro ihren Protagonisten immer ein Stück „Verstecktsein“ zugesteht, sei es dass sie sie von hinten fotografiert, nur ihre Tatoos heranzoomt, eher ihre Sonnenbrillen porträtiert als ihr Gesicht, das Gemeinschaftliche der Masse zeigt. Die Codes, die an Gay-Partys herrschen, übernimmt sie in ihre fotografische Praxis. „Nur so konnte ich erreichen, dass meine Kamera für mich zum Passe Partout wurde, ich nicht als Aussenseiterin, sondern je länger je mehr als Insiderin mit von der Partie sein durfte.“ „Freedom and Liberty“ sei keine soziologische oder psychologische Studie, sagt sie, sondern ein Puzzle temporär inszenierten und gelebten „Glücks“.

Für Tiziana de Silvestro ist die Teilnahme an „Felicità“ ein wichtiger Markstein, denn allzu viel Öffentlichkeit hat ihre seit mehr als 20 Jahren kontinuierlich vorangetriebene fotografische Tätigkeit in den letzten Jahren über Biel hinaus nicht gehabt. Zwar gibt es zwei Bücher, „Kunst Werk Körper“ und „Passenger Call“, doch sind beide in den 1990er-Jahren erschienen. Auch zu den Fototagen war sie schon eingeladen („On the road again“, 2005), doch sich ständig um Präsenz im Ausstellungsbetrieb zu bemühen, falle ihr, auch aus persönlichen Gründen, schwer, sagt sie. „Wichtiger ist, dass ich meinen Projekten Zeit gebe, sich zu entwickeln.“

Link:www.tizianadesilvestro.ch

 

Tiziana de Silvestro

1956 als Seconda in Winterthur geboren

1973-1982 Kaufmännische Ausbildung und Tätigkeit sowie zahlreiche Reisen

1982-1986 Flight Attendant für die Fluggesellschaft Swissair

1986/87 Ausbildung am International Center of Photography in New York

seit 1988 freie Fotografin in Biel; Atelier im Pasquart-Annexbau.

1994 Anerkennungspreis der Kommission für Foto, Film und Video des Kantons Bern; Ausstellung in der Glyptothek am Königsplatz, München, in der Galerie „La diaframma“, Mailand.

1995 „Kunst Werk Körper“, Musée de l’Elysée, Lausanne

1998/99 Werksemester für Fotografie der Zuger Kulturstiftung Landis & Gyr in London

2000 „Dabei sein“, Kunstmuseum Thun

2005 „on the road again“, Bieler Fototage

Teilnahmen an den Bieler Weihnachtsausstellungen und am „Joli mois de mai“

Beiträge für „www.mouseum.ch“

Vertreten in der Kunstsammlung der Stadt Biel, des Kantons Bern, der Fotostiftung Schweiz.                                                                                                                               

 

 

Bildlegende:

Wie ein wellendes Band lässt Tiziana de Silvestros die Fotos den Wänden entlang gleiten. Bild: zvg