Erst nach dem Tod der Winterthurer Künstlerin Dorina Wohlgemuth (2019) wurde klar, welch umfangreiches Werk sie in den letzten 30 Jahren ihres Lebens geschaffen hat. So wurde es der Tochter der Künstlerin – die Publizistin Jolanda Piniel – zur inneren Verpflichtung, das zuvor nur in wenigen Ausstellungen gezeigte Schaffen ihrer Mutter in Form einer Monographie dauerhaft bekannt zu machen. Sie fand in der Kunsthistorikerin Patricia Bieder nicht nur eine sorgfältige, sondern vor allem auch eine engagierte Co-Editorin. Sie war es denn auch, die mich bat, zum geplanten Buch einen Beitrag zu schreiben, der nicht zuletzt den Genderaspekt in der Biographie von Dorina Wohlgemuth herauszuschält. Nun ist das Buch im Verlag Scheidegger & Spiess erschienen. Es ist reich bebildert und enthält drei sich ergänzende Texte von Patricia Bieder, Jolanda Pieniel und Annelise Zwez.
Hier meine Gedanken zum Schaffen von Dorina Wohlgemuth als Einzeltext:
1993: Dorina Wohlgemuth zieht in eine eigene Wohnung an der Forchstrasse in Winterthur. Es ist der Anfang eines neuen Lebensabschnitts. Ein Zimmer richtet sie als Atelier ein. Sie will wieder gestalterisch tätig sein, Bilder entwerfen, zeichnen, malen. Doch was heisst hier «wieder»? Es gibt kein künstlerisches Werk im engeren Sinn aus der Zeit, bevor sie Familienfrau wurde. Doch ihre Ausbildung in mehreren Grafikateliers und an der Kunstgewerbeschule in Zürich hatte sie nie vergessen. Die 1950er und 60er-Jahre waren ihr als junge Frau noch nicht eben wohlgesinnt gewesen, und sie hatte nicht die Kraft, sich gegen die männliche Vorherrschaft durchzusetzen. Aber ihre frühen zeichnerischen Arbeiten – die Ankunft des Zirkus Knie mit seinen Tieren zum Beispiel oder ein nachdenklicher Zirkusartist, der auf seinen Auftritt wartet (siehe Bild rechts) – hat sie mitgenommen in ihr neues Leben. Ebenso wie die Aktzeichnungen aus den Kursen bei Franz Fischer. Und auch die grafischen Schularbeiten und manches, das sie im Auftrag von Firmen entworfen hat, behielt sie stets bei sich. Als hätte sie gewusst, dass es ein Schatz ist, auf den sie – wer wusste wann – wieder einmal zurückgreifen würde.
1993: Wie anders, speziell für die Frauen, war die gesellschaftliche Situation. Die Zahl der Künstlerinnen hatte sich vervielfacht, und auch wenn die Gleichstellung von Mann und Frau im Kunstbetrieb noch weit entfernt war, so war doch vieles aufgebrochen, und die Situation wurde intensiv diskutiert. Dorina Wohlgemuth war in Bezug auf die Entwicklungen in der bildenden Kunst in den 1970er- und 80er-Jahren nie blind gewesen. Mit einem Germanisten und Kunsthistoriker verheiratet, waren die Ausstellungen in den Galerien und Museen – insbesondere in Winterthur – stets in ihrem Blickfeld und in Gesprächen präsent. Wie ihr Umfeld schildert, lebte Dorina Piniel – wie sie verheirateterweise hiess – nie einsam und zurückgezogen, im Gegenteil. Engagement, Interesse und Freundschaften waren ihr enorm wichtig. Geradezu gerührt erinnert sich der Winterthurer Künstler Martin Schwarz (*1946) daran, wie sie einst mitsamt Kinderwagen zu ihm ins Atelier gekommen sei und sich für seine Arbeiten interessiert habe.[1]
Eine Feministin war sie aber auch nach 1993 nicht – ihr spätes künstlerisches Hauptwerk wächst nicht aus den Ich-Findungen der Künstlerinnen der 1970er und – wesentlich breiter – der 1980er-Jahre. Sie war mit Jahrgang 1938 eine knappe Generation älter als die 68er, und somit war ihr primäres Anliegen nicht, Sigmund Freuds «Dunklen Kontinent» endlich zu widerlegen. Ähnlich wie andere spät in die Gegenwart aufbrechende Künstlerinnen – bis hin zu Meret Oppenheim (1913–1985) – arbeitete sie nicht aus der eigenen Libido, sondern schaute in die Welt und was diese für sie bedeutete.
Dass Dorina Wohlgemuth nach 1993 motivisch sogleich in die ihr spätes Werk bestimmende Welt fand, ist erstaunlich. Kernthema ist dabei die Bewegung, somit etwas, das nicht still in sich ruht – es gibt nur wenige Bilder, die man als Stillleben bezeichnen könnte –, sondern etwas, das geschieht. Dass dies eine vieldeutige Metapher ist, liegt auf der Hand, auch wenn die Künstlerin eine solche nicht konzeptuell und schon gar nicht illustrativ suchte. Sie entsprang ihrem aus dem Inneren schöpfenden Gestaltungswillen.
Ein weiteres wiederkehrendes Motiv ist – vergleichbar mit den Zirkus-Bildern der 17-Jährigen – der Karneval, das Erscheinen des Menschen versteckt hinter sich selbst, lustvoll, möglicherweise aber auch boshaft. «J’aime me déguiser» sagte die um einige Jahre ältere Aargauer Künstlerin Simone Bonzon (1922–2019) einmal. Dorina Wohlgemuth hätte ihr wohl beigepflichtet.
In dieses Kapitel ihres Werks können auch die Marionetten-Stücke und andere dem Theater verpflichtete Werke wie zum Beispiel Pygmalion[2] eingeordnet werden.
Ein dritter Motivkreis ist das Tier – allen voran Wohlgemuths Hund Birillo, zuweilen im Kampf mit seiner Angstgegnerin, der Katze. Da ist aber auch der gleichsam von den Spitzmasken abgeleitete reiherartige Vogel, sei er weise und abgeklärt wie der Marabu oder stürze er vom Himmel wie einst Ikarus. Das Tier als Metapher taucht in der Kunst von Frauen der 1980er-Jahre und später sehr häufig und sehr vielfältig auf, als wäre das Tier eine Möglichkeit, eine nicht benennbare Facette des eigenen Ichs oder eines Gegenübers – nicht selten die Erscheinung des Männlichen – auszudrücken. Als Beispiele seien der Tiger bei Maria Lassnig (1919–2014) und der Wolf bei der Basler Künstlerin Annette Barcelo (*1943) genannt. Ob man hier auch die späten Bilder Dorina Wohlgemuths mit Insekten-Gerippen und/oder das etwas makabre «Dinosaurier»-Theater mit ausgewaschenen Knochen einreihen will, ist fraglich. Eine Winterthurer Kritikerin[3] rückte sie in die Tradition der Totentänze ein; das ist eine nachvollziehbare Deutung.
Dazwischen scheinen verschiedenste andere, in Traum- und Spukwelten zum Surrealismus tendierende oder auch der kunstgeschichtlichen Tradition verpflichtete Motive auf; speziell Letztere gab Dorina Wohlgemuth indes meist nach kurzer Zeit wieder auf, weil sie nicht ergiebig genug waren, zum Beispiel der Wald oder auch Experimente mit der Ungegenständlichkeit. Erwähnt sei ferner eine kleinere Anzahl von Porträts – darunter auch Selbstbildnisse –, die eine anteilnehmende, malerisch verfeinerte Nähe ausdrücken, die sie in anderen Bildern eher meidet.
Dorina Wohlgemuth hat nur wenige Bilder datiert. Da sie mit Ausnahme von ihrem allerersten öffentlichen Auftritt im Jahr 1995 in der Galerie im Rathausbogen in Winterthur kaum je in grösserem Umfang ausstellte,[4] schien ihr ein Dokumentieren ihres Kunstschaffens – nicht untypisch für eine Frau mit Jahrgang 1938 – offenbar nicht von Bedeutung. Die diesen Frauen eingeimpfte Minderwertigkeit spielt dabei zweifellos eine wesentliche und schwierig abzustreifende Rolle. Auch die Tatsache, dass sie in der Winterthurer Kunstszene zwar als interessierte Persönlichkeit mit eigenem Profil wahrgenommen wurde, aber nur wenige von der Intensität ihres intensiven künstlerischen Schaffens wusste, gehört dazu.
Das bedeutet für die Aufarbeitung ihres Werks, dass nur bedingt eine Chronologie eruiert werden kann, dass man sich stets im Feld der Vermutung bewegt. Aufgrund der Kartonschachteln mit Hunderten von Skizzen und weit über die hier gezeigte Bildauswahl hinausgehenden Malereien auf Papier können wir ahnen, dass sie vor allem in den ersten Jahren nach dem Neubeginn von einem enormen Schaffensdrang beseelt war, aber auch, dass der Wiedereinstieg ein gewisses Einüben erforderte.
Es ist leicht nachvollziehbar, dass die wohl mehrheitlich in den 1990er-Jahren entstandenen artistischen Bilder, die eine genaue Kenntnis des Körpers voraussetzten, Vorstudien verlangten. Wie genau verhält sich der Körper, wenn er einen Purzelbaum schlägt? Wie genau verschränken sich Arme und Beine, wenn sich ein Mensch zum Paket macht? Wie bewegt sich eine Kinderschaukel, wenn sie hin und her pendelt? Wie dreht sich der Mensch im Doppelpack eines «Riesenrads»?
Später, so hat man bei der Durchsicht den Eindruck, war ihr dieses Üben nicht mehr im selben Mass wichtig. Es mag sein, dass dies nicht für alle Themen gleich notwendig war oder die Künstlerin sich im Laufe der Zeit immer mehr Freiheit gab. Überdies stützte sie sich nach einigen Jahren zum Teil auf Zeitungsbilder, meist aus dem Ressort Sport. Sie kopierte diese aber nicht etwa; es ging ihr vielmehr darum, deren metaphorische Sinnhaftigkeit zum Ausdruck zu bringen. Man kann subjektiv so weit gehen, dass da, wo sie aus dem einen oder anderen Grund dieses Kippmoment vom Abbild zum Inbild nicht erreichte, die Bilder künstlerisch nicht zu ihren wichtigsten gehören. Als Beispiel sei eine an sich sehr ansprechende Leinwand mit einer Gruppe von Eisschnellläufern erwähnt, die beim Betrachten – so scheint mir – immer Eisschnellläufer bleiben und nicht zu «abstrakten» Menschenbildern in Bewegung werden. Ganz im Gegensatz zu zwei singenden Frauenfiguren in einem Kleinformat, die zwar auch Sängerinnen bleiben, aber ihre offenen blauen Münder verraten uns nicht, was sie singen oder rufen oder gar schreien. Sie sind ganz da, aber gleichzeitig stumm, und wir spüren die Dimension, die dieses Bild unabhängig von seiner visuellen Darstellung ausstrahlt.
Dies führt uns zur zentralen Frage nach dem roten Faden im motivisch vielfältigen Werk von Dorina Wohlgemuth. Vorab gilt es, diese Vielfältigkeit in verkürzter Form einzuordnen. Zu Beginn der 1980er-Jahre kehrt der Brennpunkt des (westlichen) Kunstschaffens aus den USA nach Europa zurück. Die Zeit des Zweiten Weltkriegs liegt nun weit genug zurück, dass ein selbstbewusstes Auftreten wieder möglich ist. Überdies hat man genug von Minimal- und Konzeptkunst. In den verschiedenen Ländern entwickeln sich verschiedene Stränge. In Deutschland sind es die «Neuen Wilden», in Frankreich die «Figuration libre», in Italien die «Transavangardia», die zuweilen auch «Arte Cifra» genannt wird. Der italienischen Kunstgeschichte folgend, greift die Transavanguardia weniger auf den Expressionismus Berlins zurück als vielmehr auf die «Pittura metafisica».
In der Schweiz ist kein eigener Trend auszumachen. Sicher ist aber, dass die Gegenständlichkeit sich nach Jahren der Dominanz konstruktiver Kunst wieder vermehrt Bahn bricht und sich darin auch das Werk von Dorina Wohlgemuth einreiht. Zugleich sei es gewagt, ihr Schaffen näher an die Transavanguardia – eines Enzo Cucchi (*1949) zum Beispiel – zu rücken, das heisst an eine Ausdrucksform, in der der Metapher, der «Cifra», dem Zeichen, besondere Bedeutung zukommt. Ein Bild von Dorina Wohlgemuth, das nichts als einen grossen und drei kleine, fliegende «Steine» über einem Meeresufer zeigt, erinnert zwar nachhaltig an die kopfähnlichen, bedrohlichen «Steine» in grafitbetonten Zeichnungen Cucchis.[5] Ein tiefergehender Vergleich ist jedoch unergiebig; im Gegensatz zum Italiener sind Dorina Wohlgemuth nicht die hehren, metaphysischen Themen wichtig, sondern – hier ganz Frau – das Erleben im Hier und Jetzt auf der Ebene ihrer Sinnhaftigkeit.
Es stellt sich somit die Frage, ob ihre Metaphern, ihre «Cifre», benennbar sind? Auch wenn nicht in allen Bildern im gleichen Mass, so kann man doch beobachten, dass sie immer wieder Momente zu visualisieren suchte, die unser strenges Senkrecht/Waagrecht-Denken, die Gravitation, die Normiertheit des Lebens in irgendeiner Form aus den Angeln heben. Wenn einer ein Rad schlägt, sich auf dem Barren in die Höhe schwingt, mit dem Kopf gegen die Wand rennt, über eine Latte springt, so katapultiert er sich während eines winzigen Zeitraums aus den gegebenen Schwerkräften heraus, hält gleichsam das Rad an, obwohl er paradoxerweise in voller Bewegung ist.
Es kann einem die Bahnhofsuhr in den Sinn kommen, deren grosser Zeiger immer um 12 Uhr eine winzige Zeit lang anhält, bevor er seine Bahn fortsetzt. Beim Betrachten der vorab genannten Bilder hält man fast unweigerlich während genau dieser kurzen Zeit den Atem an, wird sich der Bewegung, dem kurzen Sein der Figur in dieser «Schwerelosigkeit» bewusst. Dies ist freilich nur möglich, wenn sie aus jeglichem Zusammenhang herausgenommen ist, es nur um ihre Bewegung geht. Das gelingt Dorina Wohlgemuth immer wieder meisterlich. So ist zum Beispiel der Barren, auf dem sich die Figur mutmasslich in die Höhe schwingt, nicht sichtbar, denn nur so wird aus der Turnübung ein Bild, das uns auf einer abstrakten Ebene berührt, uns fortnimmt aus dem Alltag des Gegebenen und uns – vielleicht – in andere Empfindungswelten führt.
Man könnte von hier aus fragen, warum das Fliegen nur im Rahmen der thematisch sehr speziellen «Ikarus»-Serie ein Thema für sie war. Bei den Zeichnungen gibt es Skizzen von Deltaseglern und anderen Fluggeräten, aber umgesetzt hat sie diese unseres Wissens nie, aus welchen Gründen auch immer.
Anders und doch analog gilt das Formulierte für die maskierten Figurengruppen, die sich hinter sich selbst verstecken. Es ist keine Architektur zu sehen, nur die Gruppe, die da und gleichzeitig weit fort ist. Wie viele «Maskierte» es in unserer Welt gibt, sagt Dorina Wohlgemuth nirgendwo, dass sie aber nicht nur heitere Fasnachtsgesellen meinte, liegt für alle, die um ihr gesellschaftliches Engagement wider Macht, Willkür und Unmenschlichkeit wissen, auf der Hand.
Sehr viel subtiler, aber nicht minder eindringlich gilt der Moment des Eintauchens in eine Anderswelt auch für viele Tierbilder. Wenn ihr Hund Birillo auf dem Sofa liegt und schläft, wirkt das Tier, wie wenn es zwar hier, aber zugleich anderswo ist, möglicherweise träumt. Auch hier lässt Dorina Wohlgemuth alles Überflüssige weg, um uns möglichst nahe an das Phänomen des schlafenden Tiers an sich heranzuführen. Das Reduzieren, Bilder in die Fläche stellen ist eine gestalterische Fähigkeit, die sie vermutlich aus ihrer Tätigkeit als Grafikerin kannte und hier übernahm.
Von da ist es nur ein kleiner Schritt zu Bildern, die wir entweder als Traumbilder oder als surreale Erscheinungen bezeichnen können. Manchmal ist es offensichtlich, wie in der nächtlichen Szene an einem Hafen, auf dessen Mole zwei Figuren ihr kleines Ruderboot verlassen haben und sich nun in tänzerischen Bewegungen fortbewegen, den Boden kaum berührend. Es ist ein wunderbares Bild, zu dem es einige Vorstudien gibt, das aber letztlich doch ein Einzelbild bleibt.
In anderen Bildern zwischen Traum und Surrealismus oder beidem zugleich, ist der Weg, den sie uns zeigt, nicht so eindeutig. Da gibt es zum Beispiel ein eng angeschnittenes graues Boot in schwarzem Wasser mit acht grünen respektive weiss-grauen Figuren. Bei genauem Hinsehen entpuppen sich die grünen als Skulpturen, während die schematisierten hellen mit ihnen unterwegs in unbekannte Gefilde sind. Eine Deutung ist schwierig, kann in verschiedenste Richtung gehen, aber man spürt, dass Dorina Wohlgemuth keine Furcht hatte, sich einer Bildidee hinzugeben und mit ihr zu reisen, wo immer sie hinführte.
In den 1990er-Jahren verschaffte sich die in den frühen 1960er-Jahren geborene Generation von Künstlern und Künstlerinnen mehr und mehr Gehör, malerisch, skulptural, installativ und neu auch im Medium Video. Unter ihnen Pipilotti Rist (*1962) und Muda Mathis (*1959), um nur gerade zwei markante Positionen zu nennen. Kennzeichnend ist, insbesondere für die Künstlerinnen, dass sie sich von dem bis anhin geltenden «Werkcharakter», in dem sich das eine aus dem anderen heraus zu entwickeln hatte, lösten und die verschiedensten Themen parallel angingen und interpretierten. Eine Art Multitasking, das, so sagen die Neurologen, den Frauen mehr liegt als den Männern.[6]
Solche Vielfalt ist auch im Werk von Dorina Wohlgemuth offensichtlich. Man kann dies auf ihre Erfahrung als Grafikerin, die sich immer neuen Themen zu stellen hatte, zurückführen oder auch auf ihre rege Auseinandersetzung mit dem Kunstgeschehen hier und dort, vor allem aber auch auf eine vom Kunstbetrieb losgelöste, jugendliche Freiheit, dieses, jenes oder ein Drittes ins Visier zu nehmen und in eine für sie gültige Form zu bringen. In Gesprächen mit Kunstschaffenden, die sie kannten, fällt auf, dass es vor allem die jüngere Generation von Künstlerinnen ist, die gerade diese Vielfalt als erfrischend, eigenständig und von freiheitlichem Denken geleitet empfindet.
Dorina Wohlgemuth war eine ebenso ernsthafte wie humorvolle, zuweilen gar zynische Person – das zeigt sich nicht nur in jenem kleinen Selbstporträt, in dem sie sich – warum auch immer – mit «gefletschten» Zähnen darstellt; auch bei vielen anderen Werken ist ein lustvolles Vorgehen mitzudenken. Als Beispiel sei eine exotische, rot-grüne Zimmerpflanze erwähnt, wie sie in vielen Wohnungen anzutreffen ist; daneben die Ecke eines Aquariums mit drei Fischen, die die möglicherweise fressbare Pflanze beäugen. Der unterste ist frech genug, dass er sich aus seinem Behälter hinauswagt und eben beim Blumentopf angelangt ist. Was dann geschieht – wer weiss es schon. Ein anderes köstliches Beispiel ist ein Bild mit dem mythologischen Titel Sirene[7]. Ein gackerndes Huhn mit blauen Schwanzfedern und einem maskenähnlichen rotem Kopfputz steht am Rand einer kleinen Meeresinsel und betört – oder beschimpft? – einen an eine Stange gefesselten Mann. Die Szene verrät das hintergründige Lächeln der Künstlerin, ist aber sicherlich durchaus ambivalent gemeint.
Zum Schluss sei auf eine – aufgrund von Zeitungsberichten als späte Werke einzuordnende – Bildgruppe hingewiesen, jene des Todes. Der stürzende Ikarus, sei er als roter, in die Tiefe sausender Vogel dargestellt oder als schwarze Männerfigur aus gleissendem Licht ins Nichts fallend, gehört dazu, aber auch eine Skizze, in der eine weisse Figur vor ihrem eigenen Sarg steht und zu prüfen scheint, ob die angezeigte Innenform ihr entspricht. Um nicht Trauer zu verbreiten, geht Dorina Wohlgemuth das Thema auch heiterer an. Zum Beispiel in Form der eingangs bereits erwähnten Wüstenlandschaften, in der sich Teile eines Hühnerskeletts unverhofft in Wesen einer fernen, erdgeschichtlichen Zeit verwandeln und so der Zeit und dem Leben eine eindrückliche Dimension geben.
[1] Die beiden hatten in den 1960er-Jahren kurzzeitig im Grafikatelier von Alfred Koella zusammengearbeitet.
[2] Es ist anzunehmen, dass sich Dorina Wohlgemuth auf die Version im Schauspiel von George Bernhard Shaw bezog, das in den 1960er-Jahren und später häufig aufgeführt wurde.
[3] Christina Peege in der Besprechung zur Ausstellung im Kunstraum Oxyd in Winterthur 2012.
[4] Es ist nicht so, dass sie nirgendwo hätte ausstellen können oder abgelehnt worden wäre; sie hatte vermutlich einfach keine Lust, sich der Öffentlichkeit auszusetzen und begnügte sich darum viele Jahre mit der Teilnahme im Rahmen der «Winterthurer Künstler».
[5] Ob Dorina Wohlgemuth sein Schaffen kannte, wissen wir nicht. Zu sagen ist aber, dass Cucchi in den 1980er-Jahren mehrere Ausstellungen in der Schweiz hatte und somit auch in den Medien präsent war.
[6] Die Gleichzeitigkeit verschiedenster Themen und Motive hat man den Frauen lange Zeit vorgeworfen, als unstet und inkonsequent bezeichnet. Oft wird dieser Faktor als Grund genannt, warum zum Beispiel das Werk von Meret Oppenheim so spät erst in seiner Bedeutung erkannt wurde.
[7] Sirenen sind in der griechischen Mythologie weibliche, oft vogelartige Fabelwesen mit Menschenkopf, die auf einer Insel leben und mit ihrem betörenden Gesang Männer anlocken, um sie anschliessend zu töten.
ANMERKUNG: Bei den Abbildungen handelt es sich mehrheitlich um Skizzen auf Papier aus den „grossen Schachteln“, die später, eventuell, zu Leinwandbildern wurden. Die Abbildungen im Buch sind unvergleichlich besser.