Textilkunst: Erfolg und Diskriminierung  – ein Wechselbad der Gefühle

Für die Textilkünstlerinnen waren die 1970er-Jahre ein Wechselbad der Gefühle. Zum einen riefen kalte Beton-Bauten nach wärmendem Textil und lösten so Kunst-am-Bau-Aufträge aus. Zum andern verweigerten Kunsthistoriker/innen der Textilkunst den Einzug in die Museen. Gelang es dennoch Brücken zu bauen?

Annelise Zwez, Textilforum Herbst 2022

«Die 1970er-Jahre waren das erste wirkliche erfolgreiche Jahrzehnt meiner Laufbahn“, sagt Beatrix Sitter-Liver (*1939). 1976 wird im Zieglerspital in Bern der wandfüllende, 3 x 6 Meter grosse „Medizinmann’s Mantel“ eingeweiht. Aus einer Vielzahl von geraden, gedrehten, losen und gefassten Bändern zwischen blau und violett bestehend, erinnert er an einen monumentalen Umhang.

Dann, im Jahr 2015, der Donnerschlag: Bei Recherchen für einen Text zu Berns Künstlerinnen der 1970er-Jahre finde ich heraus, dass die Tapisserie bei einem Umbau liquidiert wurde. Zwar finden es die Behörden bedauernswert, doch gibt es ein deutlicheres Zeichen für die Nicht-Wertschätzung eines «Oeuvre majeure» der Textilkunst?

Mehr Glück hatte Lilly Keller (1929-2018): Ihre 1966 ausgeführte 3 x 10 Meter grosse Tapisserie für die Aula des Gymnasiums Langenthal hängt noch immer vor Ort!

Beide Künstlerinnen hielten indes den Druck der Gleichzeitigkeit von Erfolg auf der einen und Ablehnung seitens der «freien» Kunst andererseits auf die Dauer nicht aus. Beide kamen in den 1980er-Jahren zum Schluss, dass die Textil-Kunst für sie eine Sackgasse ist und schlugen eine Brücke in die Zukunft indem sie das Medium wechselten. Beatrix Sitter-Liver schuf in der Folge ein beeindruckendes malerisch-zeichnerisch-installatives Werk. Lilly Keller wurde durch ein materialbetontes, meist dreidimensionales Werk bekannt. Mit Humor schuf sie 1990 eine Reihe von «Teppichen» aus bemaltem Polyurethan, teils als Wandobjekte, teils gefaltet und gestapelt, teils gerollt. Wenn das nicht eine gekonnte Spitze gegen die Diskriminierung der Textilkunst war!

Nicht alle Textilkünstlerinnen wollten das Medium wechseln – das konnte ja auch nicht das Ziel sein – und doch hatten sie nicht die Kraft immer und immer wieder Widerstand zu leisten, sich auszusetzen und abgewiesen zu werden1; darum zogen sie sich schliesslich auf ein privates Umfeld oder in spezialisierte (zuweilen durchaus erfolgreiche) «Ghettos» für textiles Schaffen zurück, schufen und zeigten ihre Werke abseits des «offiziellen» Kunstbetriebs in Kunsthallen, Museen und Institutionen.2

Eine von ihnen war die am Zürichsee lebende Johanna Morel von Schulthess. Als sie anfangs der 1970er-Jahre mit ihrer Familie in den USA lebte, spürte sie sogleich, dass hier bezüglich der «fiber art» eine ganz andere Atmosphäre vorherrschte. Sie packte die Chance und vertiefte ihr bisher autodidaktisch betriebenes, kreatives Schaffen in Kursen in Boston und kam voller Zukunftspläne zurück in die Schweiz. Doch welch eine Diskrepanz empfing sie hier im Vergleich zu den USA. Wie konnte das sein? Die plausibelste Erklärung scheint mir jene, dass die Nach-68er-Jahre zwar Brücken zu bisher im «Outside» entstandenem Kunstschaffen schlugen; bei uns jedoch nicht zur Textilkunst, sondern primär zur «Art Brut». In Amerika (inklusive Kanada) hingegen ging der Trend zu den textilen Traditionen der indigenen Bevölkerung, welche von Gegenwartskünstler/innen aufgenommen und neu interpretiert wurden.

Johanna Morel verfolgte ihre in den USA erworbenen Kenntnisse verschiedener Web-Techniken nichtsdestotrotz weiter und lancierte auch den einen und anderen Versuchsballon. So sagte sie sich sinngemäss, wenn national nichts läuft, bewerbe ich mich international und entwarf das grösste Werk ihres gesamten Oeuvres, die Raum-Skulptur «Meteor» und gab dieses für die «Biennale de la tapisserie» von 1975 in Lausanne ein. Das war dann schliesslich zu gewagt, die Konkurrenz zu gross. Dennoch war und blieb das Werk ein wichtiges «Oeuvre majeure». Erfolgreich war hingegen die Beteiligung an der unjurierten Ausstellung der Zürcher Künstler/innen in den Züspa-Hallen von 1974. Nicht nur weil die Kunstkommission der Stadt Zürich den «Sonnentag» ankaufte, sondern auch weil man ihr die Möglichkeit einräumte, den «Meteor» in der offenen Eingangshalle zu zeigen.

 

Da war es also wieder dieses absurde Paar von Wertschätzung auf der einen und Diskriminierung auf der anderen Seite. Die vom Streitpunkt Kunst versus Kunsthandwerk nicht betroffene Stadtbehörde agierte autonom und kaufte – wie das Beispiel zeigt – auch Textilkunst. Dennoch: Auch Johanna Morel litt unter der Situation, stellte nur in kleinem Rahmen aus und konzentrierte sich auf private Aufträge ohne zermürbende Diskussionen. Doch es kommt auch bei ihr zum «Chlapf». Vordergründig ist es der Tod ihres Mannes, der ihr die kreative Kraft raubt und sie antreibt, etwas völlig anderes zu machen. Sie beginnt im Alter von 45 Jahren ein Kunstgeschichte-Studium an der Universität Zürich. Das Irrwitzige dabei: Sie verschweigt den Professoren und Kommiliton/innen ihr bisheriges  textilkünstlerisches Schaffen. Das bedarf keiner Worte.

Ein Glücksfall schafft dann aber eine Verbindung: Ihr Doktorvater, Professor Franz Zelger, erlaubt ihr eine Dissertation zum Schaffen von Elsi Giauque (1900 – 1989) zu schreiben. Die als Monographie erschienene Arbeit wurde zum Standardwerk für die Pionierin der textilen Raum-Skulptur.

Heute sind textile Materialien in der zeitgenössischen Kunst vielfältigst präsent; anders als früher, aber spannend. Es fragt sich also: Wer schlägt die Brücke? Die Ausstellung der libanesisch-amerikanischen Etel Adnan (1925-2021) im Zentrum Paul Klee in Bern (2018) war eine solche, die Retrospektive Elsi Giauque in Lausanne (2023) wird eine weitere sein. Doch halt: In welchem Zustand sind die textilkünstlerischen Werke der 1970er-Jahre und später? Nach dem möglichen Bruch mit der Vergangenheit wurde vieles nicht optimal gelagert. Nicht so bei Johanna Morel: Sie hat ihr textilkünstlerisches Werk nie verbannt und in der erneuerten Sicht auf die Textilkunst auf ihre Art ans Licht geholt. Sie gab – auf Eigeninitiative notabene – 2021 ein reich dokumentierendes Werk-Buch heraus, dessen Haupttext ihr Tagebuch ist.3 Gerade diese stetige Verbindung von Skizzen, Werkabbildungen und Begleittext machen es spannend.

Die Verblüffung angesichts des mehr als 25 Jahre versteckten Textilkunst-Werkes war immens. Pia Andry (die Tochter von Elsi Giauque) meinte: «Wir waren immer erstaunt wie gut sie sich auch technisch auskannte…aber es fiel nie ein klärendes Wort».4  Mit einer Ausstellung in der Limmat-Halle in Zürich gab Johanna Morel  2021 auch physisch Einblick in ihr durch stete künstlerisch-technische Weiterentwicklung geprägtes Werk.

1 man erinnere sich: 1973 kam die Fusion der Gesellschaft Schweizerischer Maler, Bildhauer und Architekten (GSMBA) mit der Gesellschaft Schweizerischer Malerinnen, Bildhauerinnen und Kunstgewerblerinnen (GSMBK) nicht zustande, weil sich die Herren der GSMBA weigerten die K-Frauen zu integrieren!

2 Die grosse Ausnahme: Das Museum Bellerive in Zürich, das nicht nur eine grosse Sammlung an Kunst mit textilen Materialien aufbaute, sondern auch dem Kunsthandwerk in weit gefasstem Sinn die wohl wichtigste Plattform in der Schweiz bot. – Heute sind Museum und Sammlung integriert ins Museum für Gestaltung. Zu erwähnen sind auch die Aktivitäten des Centre Internationale de la Tapisserie in Lausanne (heute integriert in die Fondation Toms Pauli).

3  Konzept und Gestaltung: Fritz Franz Vogel. Verlag: Scheidegger & Spiess

4 Mit «wir» meint Pia Andry  sich selbst und Käthi Wenger, welche ab 1947 mit der Familie auf der Festi ob Ligerz wohnte und sämtliche Werke von Elsi Giauque ausführte.