Victorine Mueller Galerie Imoberdorf Murten

Vernissageansprache

www.annelisezwez.ch    Ansprache gehalten am 3. Mai 2003

Hommage an das ewig Fliessende, Performance 3.5.2003 in Murten

Sehr geehrte Damen und Herren
liebe Victorine

Als ich mich diese Woche mit Victorine Müller hier in Murten traf, sagte sie unter anderem: „Ich habe mich nun doch entschlossen, eine Videodokumentation meiner Performances zusammenzustellen. Sie wird im Dokumentationsraum der Galerie zu sehen sein“. Der Ton verrät dabei wenig Begeisterung. Während ich froh bin, mir anhand des 20-Minuten-Videos noch einmal Erinnerung rufen zu können, was ich früher live gesehen habe, und auch das, was ich verpasste oder irgendwo im Ausland stattfand. Und schon bin ich die Falle getreten. Meine Gedanken kreisen um das Gesehene und – einmal mehr – erscheint vor dem inneren Auge „Greetings“, das wunderschöne Video von Bill Viola von 1995, das drei ganz verschiedene Frauen in gelb, rot und blau zeigt, die sich auf einem Marktplatz begrüssen. Dass es sich um ein Video handelt und nicht um eine Performance, klinke ich aus, ohne es im ersten Moment zu merken.

Aber dann höre ich wieder den Ton Victorine Müllers und es wird mir klar, warum sie ein gespaltenes Verhältnis zum Video hat. Ganz einfach, weil sie keine Videokünstlerin, sondern eine Performance-Künstlerin ist, gleichzeitig aber weiss, wie sehr wir alle film- respektive fernsehgeprägt sind und so gewohnt sind Mediales für uns selbst rückzuübersetzen – oder das, was wir meinen, es sei eine Rückübersetzung – dass wir gar nicht mehr bewusst unterscheiden zwischen medial Vermitteltem und real Erlebtem. Da gibt es eine Verlust-Zone. Und da arbeitet die Performerin Victorine Müller.

So leicht finde ich indes nicht aus der Falle. Es kommt mir nämlich eine Ausstellung in den Sinn, die Theodora Vischer 1996 im Museum für Gegenwartskunst in Basel realisierte. „Fremdkörper“ hiess sie und war eine Demonstration wider das „digitale Fleisch“, das sich mit Computer-Hilfe in alle nur erdenklichen Konstruktionen wandeln lässt. Was sie zeigte, waren indes keine Live-Performances, sondern Video-Kunst mit starkem Körperbezug. Von besagtem Bill Viola, von Gary Hill, von Mona Hatoum, von Matthew Barney, von Bruce Naumann usw. Trotz der Dominanz des Medialen ist meine Erinnerung an diese Ausstellung eine sehr Körperliche, eine „Fremd“-Körperliche freilich.

Nun in Bezug auf die Performances von Victorine Müller unreflektiert ins Lob des Unmittelbaren, des Direkten, des im Moment der Aufführung von der Realität, vom Wetter, Beeinflussten überzuschwappen wäre indes zu einfach. Denn Victorine Müllers Performances haben zugleich mit jenem Strang der Video-Kunst, der sich mit Körper-Bildern auseinandersetzt, zu tun wie sie sich gleichzeitig durch ihre Realpräsenz, ihre körperliche Fühlbarkeit davon absetzen. So hat Victorine Müllers ambivalentes Verhältnis zum Video wohl eher damit zu tun, dass das was sich ähnelt selten liebt. Weil es der Differenzierung Abbruch tut.

Ich höre schon lange, wie Sie mir widersprechen und mich auf das Video aufmerksam machen wollen, das Teil dieser Ausstellung ist. Sie haben recht, nur ist dieses Video nicht von Victorine Müller und selbstverständlich doch ein Video von oder zu oder mit oder über Victorine Müller. Aufgenommen und geschnitten hat es Susanne de Beaulieu aus Bremen. Aufgrund einer Performance, die nicht stattfand. Eine „Balance“, so der  Titel,  aus farbigen Stoffen, Bäumen und vier in luftiger Höhe platzierten Frauen im Licht hätte es sein sollen, doch langanhaltender, strömender Regen liess die Technik letztlich aussteigen.

So choreographierte die Videokünstlerin, welche die Performance hätte aufnehmen sollen, letztlich das, was sie sich aufgrund von Gesprächen mit Victorine Müller vorstellte, dass die Performance hätte sein können und verband die Atmosphäre mit Bildern, die ihr Victorine Müller von der Zweitaufführung In Minimalvariante im Kunstmuseum Bern im vergangenen Jahr schickte. Danach gab Victorine Müller dem ihr befreundeten Musiker Manuel Stagars den Auftrag, für die Präsentation hier in Murten einen elektronischen Sound beizusteuern, der die Atmosphäre zum Klingen bringt; was gelungen ist, denke ich.

Doch, wem gehört nun eigentlich dieses Video, rechtlich? Was passiert, wenn Sie Victorine Müller den Auftrag geben, eine DVD herzustellen für ihre Video-Sammlung? Wer hat dann welche Rechte daran? „Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht“, sagt die Künstlerin. Schon gut, sie ist ja auch noch jung, aber was, wenn Victorine Müller einmal gehandelt wird wie Bill Viola?

Zurück. Die Künstlerin präsentiert das Video mit drei gelben, konstruktiven Holzlatten-Elementen im Vordergrund, die, beleuchtet, einen Raum im Raum markieren und als Schatten auch dem Video selbst eine Art Räumlichkeit geben. Ein interessanter Versuch, die Projektion aus ihrer Fläche zu holen, oder, anders herum, uns die flache Medialität des Filmischen bewusst zu machen. Somit ein Schritt Richtung Performance, ein Schritt Richtung:  Ich stehe da und sehe dies. Erinnern Sie sich an die Video-Performance, die Geneviève Favre letztes Jahr anlässlich ihrer Ausstellung hier in Murten zeigte? Da war das doch auch, die Sänger und Sängerinnen, die wir zunächst live sahen, die dann in Kabäuschen verschwanden und nur noch als Videobild zu sehen waren, während wir sie live singen hörten. Da liegt Spiel drin.

Ich möchte an dieser Stelle German Imoberdorf und seiner Frau einmal ganz herzlich danken, dass sie  – als einzige Galerie weit und breit – ihre Türen so offen halten für experimentelle Installationen und Performances, die kommerziell kaum Ertrag bringen. Diese „carte blanche“, die sie den Künstlern und Künstlerinnen bezüglich ihrer Präsentation in der Galerie geben, ist ausserordentlich und wird von den Kunstschaffenden auch so erlebt. Und darum kommen sie und darum kommen Sie  und darum sind diese Räume samt Vorplatz und französischer Kirche mehr als eine gängige Galerie.

Zurück: Zentraler bezüglich dessen, was Victorine Müller zur Zeit als Gegengewicht zur Performance sucht, ist die Fotografie. Das ist nicht verwunderlich, denn die Fotografie ist im Fall von Victorine Müller analoger zur Arbeit an den Performances als das Video. Widerspreche ich mir jetzt? Nein. Die Nähe zum Video, die ich zuvor beschrieb, betrifft die Erlebnisebene, unsere Augen, die sich bewegen und aus dem Performance-Bild von Victorine Müller einen „Film“ drehen, wie die Kamera auch. Aber für die Künstlerin steht das nicht im Vordergrund, sie sucht das Bild; es gibt, ausser den ganz frühen Latext-Haut-Inszenierungen mit Irene Bachmann, meines Wissens keine Performance, die von der Bewegung der Performerinnen lebt.

Was sich bewegt ist maximal das Material, das sie sich respektive den Akteurinnen – ich benutze ganz bewusst die weibliche Sprachform, da sie hier richtiger ist als die männliche –  den Akteurinnen zugibt, sei es sprudelndes oder – wie demnächst – fliessendes Wasser, sei es eine schrumpfende Plastikhülle, seien es Stoffbahnen, die vom Wind bewegt werden usw. Mit unserem, sich drehenden Kopf – ich wiederhole dies noch einmal – machen wir  aus dem Bild einen Film, aber Victorine Müller „malt“ Bilder, lebendige Bilder, Bilder, die mit uns in der Zeit existieren und wieder verschwinden respektive zur Erinnerung werden. Auch die Fotografie – so wie sie sich in der Kunst etabliert hat – „malt“ Bilder – denken Sie an Andrea Loux, die hier die Eröffnungs¬ausstellung bestritt.

Bei Victorine Müller haben wir zwei Arten von Fotografie – zum einen das Videostill, das sich aus der Dokumentation einer Performance herausschält und in Fotografie umgesetzt zu einem pars pro toto wird. Hier in dieser Ausstellung das von Yvonne Scarabello aufgenommene, eindrückliche Bild mit der weissen Schattenfrau und den weissen Huskies, das aus der Performance „incontro“ stammt, die letztes Jahr in der „Fabrik“ in Burgdorf aufgeführt wurde. „Aufgeführt wurde“ – mmh – diese Worte gehören eigentlich zum Theater. So sind wir also jetzt bei den gemalten Bildern, die analog zum Theater aufgeführt werden und durch unser Schauen zum Film werden. Spannend.

Zum anderen haben wir die Fotografie, die den Anspruch erhebt, etwas zu sein, das nichts von dem eben gesagten ist, sondern nur sich selbst. Eine Performance als Fotografie, somit eine inszenierte Fotografie, die aber – im Gegensatz zu einem Andreas Gursky, einer Roni Horn usw. – nicht Aussenwelt zum „Bild“ komprimiert, sich somit auch nicht als Erzählung dekomprimieren lässt – sondern inszenierte Fotografie, die zur Bild-Skulptur hin tendiert. „Beim ‚Omelett‘ – der ersten Fotografie dieser Art – handelte es sich um wassergefüllte, längliche, gelbleuchtende Plastik-„Kissen“, welche die Künstlerin ins „Sandwich“ nahmen; eine Arbeit, die es nur als Fotografie gibt, die nie Performance war.

Während die „Hommage an Meret Oppenheim“, die hier als Raum-Installation mit Fotografie präsentiert wird, aus der gleichnamigen Performance im „Wasserwerk“ in Bern vor einigen Monaten entstand. „Da dachte ich mir“, so Victorine Müller, „das ist eine Gestalt, die funktioniert“. Das heisst auch losgelöst vom interaktiven Moment der Besuchenden, welche sich von der Brust der Künstlerin Reben-Milch in ihre Gläser füllen. Aber, sie wählte dazu nicht ein Video-Still, das es dank ihrem einstigen Lehrer an der F+F, Frantiçek Klossner, auch gegeben hätte, sondern sie stellte das Bild noch einmal nach, um sich bei der Aufnahme im Atelier von Mancia & Bodmer in Zürich ganz als „Skulptur“ zu fühlen, um das Bild so zu komponieren, dass die ganze Vorstellung, die Vision im Bild drin ist; zum Beispiel dieses Schwarz, dieses Sitzen/Schweben in einem unbekannten Raum.– Und dann mal drei. Was diese drei in den letzten Tagen schon zu diskutieren gab – die einen reden von Tryptichon – da tritt das Dionysische, das Griechisch-Göttliche im Spiegel unserer dreiflügligen christlichen Altäre in den Vordergrund – die anderen sprechen von Dynamik, von Raum, von Fliessen. Ich spreche am liebsten von Zeit. Dem Schauen, Schauen, Schauen. Und dann natürlich auch dem Video, dem Film, den ich mache, wenn ich einer Performance beiwohne. Wie dem auch sei, funktionieren tut die Arbeit auch einzeln.

Aber Victorine Müller wäre nicht Victorine Müller, wenn sie nicht auch diese Arbeit wieder in den Raum hinaus nähme, mit einer Tafel kombinieren würde, am Boden. Die Wand und der Boden, das Aufrechte und das Liegende. Dabei ist „Essen und Trinken“ zu einfach als Charakterisierung, ausser man lasse Klänge wie „Abendmahl“, obschon formal nichts da ist, oder „Ritual“ zu und lasse beim Betrachten den Spiegel nicht aus, in dem man sich selbst sieht, wenn man sich über darüber beugt, um zu „essen“. Man kann auch an Schneewittchen denken. An die sieben Zwerge und Schneewittchen und sich selbst, dann sind es neun oder drei mal drei. Drei, wie die drei Frauen, die uns demnächst draussen neben der französischen Kirche erwarten,  entführen werden in ein Bild, das fernab von jeglicher Alltäglichkeit das Wasser und das Fliessen und den Kreislauf und das Licht strömen lassen wird und tief in uns an Vergessenes, nicht mehr Zugelassenes, an Schönes, das uns Hühnerhaut über den Rücken jagt, erinnern wird. Nehmen sie noch einen Schluck Wein zuvor – nicht von Victorines Brust diesmal, sondern von Imoberdorfs Apéro-Tisch im Obergeschoss.

ich danke fürs Zuhören.                                           Annelise Zwez, 2.5.2003