Spannung, die aus dem Schönen wächst

Francis Alÿs im Kunsthaus Zürich. Bis 11. Mai 2003

An der Biennale Venedig 2001 liess er an seiner Stelle Pfauen durchs Gelände spazieren. Jetzt zeigt das Kunsthaus Zürich die erste Retrospektive des bildnerischen Werkes. von Francis Alÿs.

Sie war als Kabinett-Ausstellung ankündigt und ist es auch. Nur den Parterre-Saal umfasst die Retrospektive des in Mexiko City lebenden Belgiers Francis Alÿs (44). Und doch kamen so viele Kritiker/-innen zur Pressekonferenz als wäre es eine Hauptausstellung. Die Bilder haben eine Ausstrahlung, die einsaugt. Alÿs ist einer der wenigen, die den Grat zwischen lieblich und hintergründig so präzis im Griff haben, dass immer beide Seiten der Medaille präsent sind: Da ist, zum Beispiel, ein Kind, vielleicht acht Jahre alt, gemalt in der Stellung eines Fötus und wie aus einem anderen (spätgotischen) Kontext herausgelöst und ins Bild gelegt. Sein „Bett“ ist flüssig verzogene und gewachste Ölfarbe; einen nicht benennbaren Ort definierend. Hinter dem schlafenden Kind, an die Wand gelehnt, ein Maschinengewehr….Die Leinwand ist auf Holz aufgezogen und zeigt an den Rändern Ausfransungen, als hätte das Bildobjekt schon eine lange Geschichte hinter sich. Als Betrachtende ist man hin und her gerissen, wütend, dass das Bild nicht hält (nicht halten kann), was Stil und Kindmotiv eigentlich möchten.

Die Ausstellung umfasst 40 Bilder an den Wänden; Klein- und Kleinstformate. Ikonen. Jedes oder manchmal auch zwei sind von einer Leselampe beleuchtet. Unter der Glasplatte auf einem raumlangen, über Eck konstruierten Tisch mit (Bar)Hockern sind Skizzen und Notizen, eigene und gefundene, ausgebreitet. Eine Sitzgruppe lädt zum Lesen im (ca. Mitte März erscheinenden) Künstlerbuch zur Ausstellung. Die auf Verweilen, auf Weiten des Raumes im (eigenen) Kopf ausgerichtete Inszenierung entspricht der Haltung und der Arbeitsweise des Künstlers. Ein Insider, der mit den Mitteln des Outsiders eine Bildsprache kreiert, die fremd und eminent nahe zugleich ist.

International bekannt geworden ist Francis Alÿs durch seine Performances, durch seine als Videos dokumentierten Spaziergänge oder – besser – durch die Dinge, die er spazieren führte oder gar an seiner Stelle spazieren liess, wie die Pfauen an der Biennale in Venedig vor zwei Jahren. Unlängst lief Alÿs mit einer Pistole in der Hand durch eine Grossstadt. Locker spielten die Finger mit dem Abzug. Das Video zeigt den Bewaffneten im Wechsel mit den Reaktionen der Menschen auf der Strasse. Die Aktion dauerte so lange bis Alÿs verhaftet wurde.

Weit weniger bekannt war bisher das malerische Werk des in der Schweiz von der Galerie Peter Kilchmann vertretenen Künstlers. Es steht vordergründig in keinem Zusammenhang mit dem performativen Werk. Doch ist da immer der Künstler, der durch jemand anders, vielleicht auch nur einen Rollentausch, eine „Geschichte“ erzählt. In den Bildern sehr viel lyrischer, offener, geheimnisvoller als in den sich 1:1 abspielenden Spaziergängen. Aber auch in den Bildern ist eigentlich nichts erfunden. Die Skizzen und das demnächst publizierte Künstlerbuch zeigen auf, wie sehr Alÿs ein Beobachter, ein Sammler ist, wie ihm religiöse Votivbildchen von einem Flohmarkt ebenso wichtig sein können wie Streifzüge durch die, vorab italienische, Kunstgeschichte; wie wichtig ihm Philosophie und Literatur sind – in sein Buch hat er zum Beispiel Aristophanes Rede zu Plato ingetriert, Texte von D.H. Lawrence oder Samuel Beckett. Dabei gibt es keine Linearität. Themen und Figuren kommen und gehen, sie sind wie Begleitende. Immer wieder kehrt zum Beispiel das Thema schwarz und weiss. Da sind unter anderen zwei Miniaturen. In beiden sitzt ein Maler auf einem Stuhl. Vor ihnen am Boden ein Porträt, schummerig, aber doch das Selbst verratend. Die Maler, fein gewandet – der eine weiss, der andere schwarz – malen nicht; sie sitzen und staunen ihre Hände an. Die des weissen sind schwarz und die des Schwarzen sind weiss. Gemalt? Die Wandlungskraft der Malerei aufzeigend? Oder durch das Motiv hindurch auf das Leben verweisend?

Da ist auch der Prophet – immer wieder der Prophet, der mit erhobenem Finger, sichtlich denkend, leicht nach vorne gebückt einer Backstein-Mauer entlang geht. Um seinen Kopf, kaum sichtbar, Fliegen. Da summt es offenbar unablässig und der Prophet – ganz offensichtlich eine Facette des Künstlers, heisst doch das Buch im Untertitel „The Prophet and the Fly“. Einmal trägt der Prophet in sich keinen kleinen Doppelgänger, das Ich und das Ich. Gebannt von Bild zu Bild gehend erinnert man sich sogleich, das gab es doch schon auf der andern Seite; dort war es ein Schwein im Schwein, das an einer Felsklippe einem nackten Mann begegnete. Wer weiss, vielleicht ist der Ort nur wenig entfernt von jener geheimnisvollen Mikro-Makro-Bucht, auf der ein kleines Mädchen einmal von links nach rechts und dann, einige Bilder weiter, von rechts nach links geht. Sicher ist es nicht, aber man könnte ja, dem Künstler gleich, probieren mit aufgeklebten Fetzen von Pauspapier das eine dem anderen zu überlagern, um so schauen, ob die Geschichte zu rollen beginnt.

Francis Alÿs „Obra pictura“ – so der Titel der Ausstellung – ist von einer emotionalen Vielschichtigkeit, die unter die Haut geht, einem entführt in eine andere Welt, eine Welt mit sehr viel Herz – darum kommt einem auch zuweilen St. Exupéry in den Sinn – ohne einem indes den Gefallen zu tun, die andere Welt von der Realität abzukoppeln. Alÿs trifft damit eine Befindlichkeit, die wir als Spannung zwischen Hoffnung und Angst täglich erleben und das ist wohl der Grund für das enorme Echo, das seine Malerei auslöst.

Die Ausstellung ist eine Koproduktion mit Rom und Madrid. Das Künstlerbuch (Turner Libros, Madrid) ist während der Ausstellung nur im Kunsthaus Zürich erhältlich.