70 Jahre künstlerisch unterwegs
Zu Leben und Werk von Gertrud Guyer Wyrsch (Text zu Monographie)
Annelise Zwez
Gertrud Guyer Wyrschs Spätwerk ist verblüffend. Da wachsen einer über 70-jährigen Künstlerin mit einem Mal Flügel und sie lässt Türme in den Himmel wachsen. So zumindest scheint es, so hat es die Öffentlichkeit in den letzten 15 Jahren wahrgenommen.
Doch nicht einmal Flügel wachsen aus dem Nichts. Gertrud Guyers Kunstschaffen setzt in den 1940er-Jahren ein, wandelt sich zu den 50er-, den 60er-, den 70er-, den 80er-Jahren…bis schliesslich (1992) der erste, zehnstöckige Turm entsteht, dann die ersten „Kopfplastiken“, die „Endlosschleifen“, die „Muschelkörper“ und jetzt die Eisenplastiken.
Das Spätwerk ist keine „Laune“ der Künstlerin; Fäden verbinden es mit vorangegangenen Kapiteln. Da gibt es zwar, oft von Wohnorts-Wechseln ausgelöste, Neu-Anfänge – von der Gegenständlichkeit zum Informel, von der Malerei zum Relief, vom Intuitiven zum Konstruktiven, vom Surrealen zum Skripturalen, vom Zwei- zum Dreidimensionalen – doch immer sind im Neuen Elemente, die früher schon da waren.
Es ist nicht überraschend, dass dies bisher kaum thematisiert wurde. Denn bis in die 1980er-Jahre wurde Gertrud Guyer in Ausstellungsrezensionen nie mehr als nur gerade erwähnt. Wenn auch früher lange nicht so viel publiziert wurde, so ist das doch typisch für die Nichtbeachtung von Künstlerinnen bis spät ins 20te Jahrhundert. Ebenso ihr Kommentar: „Wenn ich irgendwo keinen Erfolg hatte, so dachte ich, meine Arbeit sei schlecht. Und wenn ich nicht eingeladen wurde, so bestand halt kein Interesse. Ich hatte viel zu wenig Selbstbewusstsein, um das als Diskriminierung einzustufen.“
Wenn Gertrud Guyers Werk heute überregional Beachtung findet, so liegt das in erster Linie an der Qualität ihres späten Schaffens, ist aber auch signifikant für zahlreiche Künstlerinnen ihrer Generation, die aufgrund des frauenfreundlicheren Klimas der letzten 30 Jahre, im Alter die Kraft fanden ihr bisheriges Schaffen zu bündeln und bildnerisch „jung“ zu werden.
Es ist höchste Zeit, Leben und Werk der Künstlerin chronologisch zu betrachten.
Gertrud Guyer wurde am 12. März 1920 als drittes Mädchen des in Marseille aufgewachsenen Schweizer Kunsthistorikers Samuel Guyer (1879-1950) und der Berner Bürgerstocher Hanna Bäschlin (1888-1952), in Gersau geboren. Der Ort der Geburt ist in gewissem Sinn zufällig. Maria (1910-1999) und Elisabeth (1913-1985) waren in Aidussina an der österreichischen-italienisch-slowenischen Grenze geboren. Die Eltern lebten nach ihrer Heirat (1908) daselbst im bescheidenen, aber wunderschönen Familiengut mit Namen „Palli“. Auch Gertrud verbinden intensive Ferienerinnerungen mit dem Ort.
Nach dem ersten Weltkrieg nahm der Vater eine Stelle im Bereich der Kulturgüter-Inventarisation an und erhielt die Innerschweiz zugeteilt. So zog die Familie temporär nach Gersau, wo sie in einer Dépendance des „Hotel Müller“ lebte. Den Vater zieht es aber wieder zurück in die archäologische Forschung. So ziehen die Guyers inklusive Nona Emma Rieter 1922 nach München, wo sie im Vorort Waldtrudering ein Haus mit Garten erwerben. Sie sei in einer behüteten Atmosphäre aufgewachsen, sagt Gertrud Guyer. Man habe sehr sparsam gelebt, da der Vater an dem später als „Grundlagen Mittelalterlicher Baukunst“ (Benziger Verlag) erschienenen Buch arbeitete und keine Anstellung hatte. Bildung, so sei ihr vermittelt worden, sei ein Wert in sich und Geld investiere man besser in Ausbildung als in einen neuen Mantel. Dass sich in Deutschland derweil Unheilvolles zusammenbraute, nahm sie nur bedingt wahr. Zwar realisierte sie, dass immer mehr jüdische Mitschülerinnen wegzogen und in der Neuen Pinakothek, die sie so gerne – und oft allein am Sonntagnachmittag – besuchte, immer mehr Bilder verschwanden. Ihren Eltern sei gewiss mehr bewusst gewesen, umsomehr als zu Vaters Umfeld auch jüdische Forscher gehörten. Doch sie habe die Dimension nicht erfassen können.
Sie sei keine gute Schülerin gewesen, sagt sie, und habe darum die Schulzeit mit dem Lyceum (vergleichbar mit einer Diplom-Mittelschule) beendet. Gerne und viel habe sie hingegen gezeichnet und sich zuweilen gewundert, dass eine Nachbarin, die Malerin war, immer wieder Zeichnungen von ihr zur Seite legte. Eine Berufsausbildung wurde nicht in Erwägung gezogen; für Mädchen war sie nicht nötig und in Deutschland um 1935/36 sowieso nicht möglich. So besucht sie auf eigenen Wunsch die private Malschule von Wilhelm Georg Maxon (1894-1971).1 Viele Mädchen aus höheren Schichten seien da gewesen, viele langweilig und einer, ein Nazi, so richtig ein „Bremsklotz“, erinnert sie sich. Eine einzige überraschend grosszügige Landschaft auf Papier, die sie während einer Landpartie mit dem Velo malte, ist aus dieser Zeit erhalten.
Um 1937 absolviert Gertrud Guyer, schweizerischen Gepflogenheiten entsprechend, ein Welschlandjahr.
Aufgrund der politischen Bedrohungslage kehren die Guyers 1938 in die Schweiz zurück. Sie leben zunächst in Bern, wo mütterlicherseits ein Familiennetz besteht, dann ziehen sie weiter nach Rom und ca. 11/2 Jahre später nach Florenz. Gertrud Guyer pendelt, bildet sich in Rom an der „Scuola del Nudo“, wo – wie der Name sagt – vor allem Aktzeichnen geübt wird, weiter und absolviert in der Schweiz, wie viele unverheiratete Frauen, eine Ausbildung zur FHD (militärischer Frauenhilfsdienst). Sie wird einem Fliegerbeobachtungsposten zugeteilt.
Mehr und mehr wird Bern zur Wirkstätte. Sie lebt mit ihrer Schwester Maria, die inzwischen ein Studium der Volkswirtschaft absolviert hat, im „Rosenberg“-Gut der Familie Thormann. Obwohl es keine konkrete Vorstellung einer Zukunft als Künstlerin gibt, sucht sie sogleich wieder nach Möglichkeiten der Weiterbildung. In Bern gab es damals zwei private Kunstschulen, jene von Margrit und Viktor Surbek und (seit 1940) jene von Max von Mühlenen. Sie entschliesst sich schon nach einem ersten Kursabend bei Surbek (um 1941) zu von Mühlenen zu wechseln, der im Bern der Zeit als fortschrittlicher gilt, selbst „moderner“ als die Kunstgewerbeschule. Eine Frauendiskriminierung gibt es nicht. Unterricht erhält, wer dafür bezahlt. Schülerinnen sind besonders willkommen, da sie die Nachmittagskurse belegen; neben Gertrud Guyer damals auch Judith Müller, Vreni Bähler (später Stein), Hanni Kasser und andere.
Obwohl Gertrud Guyer betont, sie sei Max von Mühlenen nie so „verfallen“ gewesen wie andere Schülerinnen, ist die Begegnung mit der Lehrer- und Künstlerpersönlich-keit von Mühlenens auch für sie die bisher künstlerisch wichtigste. Von Mühlenens Charisma, seine Fähigkeit Selbstbewusstsein zu fördern, war insbesondere für seine Schülerinnen von heute kaum mehr vorstellbarer Bedeutung. Dennoch bleibt sie nur zwei Jahre, mit Abständen. Nachhaltig eingeschrieben hat sich ein Schullager im Wallis, wo vor Ort draussen gezeichnet wurde. Die Landschaft lässt mehr als Stilleben und Figürliches eine rhythmische Bewegtheit zu, lässt sich plastisch freier ausgestalten. Tonio Ciaolinas spätere Bemerkung, sie mache ja „Bildhauerzeich-nungen“, zeigt sich bereits in den Anfängen und trifft auch den Punkt, dass die mit dem Radiergummi ins Malerische gesteigerten Zeichnungen eigenständiger sind als die Malerei in dieser Zeit.
Parallel dazu besucht sie als Hörerin Vorlesungen in Kunst- und Literaturgeschichte an der Universität Bern und hat Kontakte zu jüdischen Emigranten, u.a. zu Professor Otto Homburger und Professor Julius Baum, mit dem sie Abende lang Bücher liest. Gerne nimmt sie auch die Einladung von Hedy Hahnloser an, sich in Winterthur mit den Werken ihrer Sammlung an Werken von Valloton, Bonnard und anderen Nachimpressionisten auseinanderzusetzen.
Bis in die 1950er-Jahre pflegt Gertrud Guyer eine weitgehend französisch geprägte, nachimpressionistische Malweise wie sie damals in der Schweiz weit verbreitet war. Die Leinwände erinnern an Auberjonois, an Bonnard, an Cézanne und andere mehr. Obwohl nicht von einem erkennbaren, eigenen Stil gesprochen werden kann, erreicht sie insbesondere im Bereich des Stillebens beachtliche Qualität, was sich nicht zuletzt im 1950 getätigten Ankauf des „Stilleben auf schwarzem Klapptisch“ von 1948 durch die Eidgenossenschaft manifestiert.
Dass sich Gertrud Guyer mehr und mehr als Künstlerin versteht, zeigt sich unter anderem im Beitritt zur Schweizer Künstlerinnen-Gesellschaft (GSMBK), dem Werkbund und der Bewerbung um das Berner Louise Aeschlimann-Stipendium, das sie 1948 auch tatsächlich erstmals erhält. Ein wichtiges Jahr ist 1950; man kann jetzt wieder reisen und blickt mutiger als noch in den 1940er-Jahren in die Zukunft. Mit einem Beitrag der Kiefer-Hablitzel-Stiftung2 fährt Gertrud Guyer für drei Monate nach Mallorca. Die temporäre Befreiung von der Lohnarbeit – sie ist als Buchhändlerin bei Scherz in Bern tätig – und das Erlebnis der spanischen Landschaft, lösen einen künstlerischen Schub aus. Wie schon früher, packt sie der Rhythmus der Landschaft, die Bäume und ihre Formen, nun aber auch die Kuben der Felsen, der Himmel und das Meer. Es ist die Landschaft, die ihr den Weg in die Abstraktion aufzeigt.
1950 bringt auch im Persönlichen eine Zäsur. Samuel Guyer stirbt 71-jährig in Italien. Die Mutter zieht zu den Töchtern nach Bern, was Gertrud Guyer räumlich so sehr einschränkt, dass sie 1951 den Mut fasst auszuziehen und an der Junkerngasse eine Atelierwohnung zu mieten. Aus einem kleinen Erbe kauft sie sich eine Vespa, nimmt erstmals (und später immer wieder) einen Monat unbezahlten Urlaub und fährt mit ihrem Roller – allein mit Sack und Pack – in die Provence. 1952 ist das Ziel Paris, wo sie im Hotelzimmer ihr erstes ungegenständliches Bild malt.
Es gilt sich zu vergegenwärtigen, dass Arnold Rüdlinger seit den späten 1940er-Jahren regelmässig zeitgenössische Kunst in die Kunsthalle Bern brachte; so auch 1952 die „Tendences actuelles de l’Ecole de Paris“, die Gertrud Guyer nachhaltig beeinflussen. Umsomehr als sie in Paris Kurse bei Gustave Singier (1911-1984) besucht und über eine Freundin direkten Kontakt zum Umfeld des Pariser Künstlers Alfred Manessier (1911-1993) hat.
Das erste gültige abstrakte Bild verbindet denn auch in der Kombination von Organischem, Konstruktiven, Flächigem und Linearem die verschiedensten Einflüsse. Um 1955 bricht sich das Ungegenständliche definitiv Bahn. Gertrud Guyer reagiert damit auf die breite Umwälzung der Kunst in der Schweiz hin zur Abstraktion. Ihrem Naturel entsprechend entstehen die Arbeiten einer eher erfühlten als konzipierten Vorstellung entsprechend und nicht aufgrund definierter Skizzen. Das gibt den Werken jenes zeitlebens Charakteristische im Schaffen von Gertrud Guyer: Die Spontaneität des direkt im Schaffensprozess Ertasteten, sich einer Vorstellung Annähernden, mitsamt der Gefahr, dass einmal etwas nicht gelingt.
Nicht zuletzt dieses intuitive, sich immer wieder neu auf die Entwicklung einer Bildformation Konzentrierende bringt es mit sich, dass auch das ungegenständliche Werk Gertrud Guyers nicht im engeren Sinn eine Einheit bildet. Die einzelnen, durch die Farbgebung klar definierten, zuweilen durch Linien in den Raum ausschwingen-den Formen oszillieren frei zwischen den Möglichkeiten des Konstruktiven und des Bewegten, auch des Flächigen und des Räumlichen.
Das Jahr 1956 bildet hierbei so etwas wie einen Höhepunkt. Darum wundert es nicht, dass Max von Mühlenen Gertrud Guyer 1957 für die von Marcel Joray kuratierte gesamtschweizerisch erstmalige Überblicks-Austellung „La peinture abstraite en Suisse“ im Kunstmuseum Neuenburg vorschlägt; als jüngste der fünf Künstlerinnen3 unter den ingesamt 68 Ausstellenden von Max Bill über Claude Loewer bis Rolf Iseli. Die Hoffnung, daselbst etwas verkaufen zu können zerschlägt sich, aber im Jahr darauf erwirbt die Eidgenossenschaft an der SAFFA4 in Zürich „Komposition auf dunklem Grund“. Auch die Städte Bern und Thun haben zu diesem Zeitpunkt bereits Werke in ihren Sammlungen.
1957 stellt Gertrud Guyer im Kantonalen Gewerbemuseum (dem heutigen Kornhaus) in Bern aus; zusammen mit dem „tim“ (team), jenen Berner Kunstschaffenden mit denen sie schon längere Zeit in Kontakt steht, nämlich Jörg Leist, Hermann Plattner, Kurt Wirth und Werner Witschi. Das seien, im Gegensatz zu Bernhard „Luginbühl & Co.“ die „braven“ im damaligen Bern gewesen, jene die sich eher naserümpfend über die Querköpfe im „Commerce“ geäussert hätten, sagt Gertrud Guyer lachend. Trotzdem ist auch sie dann und wann im legendären „Commerce“, schicksalshaft sogar. Denn unter den daselbst versammelten Schauspielern für Daniel Spoerris Picasso-Stück „Wie man Wünsche am Schwanz packt“ ist auch der Nidwaldner Volkswirtschaft-Student Diego Wyrsch (geb. 1930), der fortan Gertrud Guyers Leben begleiten wird.
Die Heirat und die Geburt von Tochter Anna (1960) bilden eine Zäsur. So eigenständig Gertrud Guyer ihr Leben in den 1950er-Jahren gestaltete, so sehr passt sie sich nun – ohne Gram und aus einem Gefühl der Selbstverständlichkeit heraus – den gesellschaftlichen Erwartungen der Zeit an, das heisst sie ist primär für Mann und Kind da und nur noch am Rand für die Kunst. Es kommt hinzu, dass Diego Wyrsch aufgrund seiner Laufbahn bei der SBB in kurzen Abständen den Wohnort wechseln muss. Bis 1966 zieht die Familie fünf Mal um, wohnt in Solothurn, Brugg, Zürich, Lyss und erst dann wieder in Bern. Zwar versucht Gertrud Guyer die Fäden zu halten, doch es gibt wenig Greifbares aus der Zeit. „Gezeichnet habe ich immer“, betont sie, und meint: „Die Zeichnung ist bis heute das Medium, in dem ich all mein Tun ‚erde’.“ In der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre hat sie wieder vereinzelt Gelegenheit zu malen. Es entstehen zum Teil respektable Formate, die mit den 1950er-Jahren nurmehr wenig gemein haben. Der Bild-Raum ist nun weit, fast monochrom. Mal ist er winterlich weiss, mal mediterran blau (die Familie verbringt ihre Ferien mit Vorliebe in Spanien), atmet nur durch die Züge des Pinsels. Wenige fleckig gesetzte Kuben deuten auf Gebautes, auf die Welt.
1970 zieht die Familie nach Kilchberg bei Zürich. Gertrud Guyer ist nun 50, Anna 10 Jahre alt. Erstmals hat sie wieder ein Atelier. Das beflügelt. Die neue Lust manifestiert sich im Material. Sie besorgt sich Holz und kauft eine Stichsäge. Von da rührt die bekannte Anekdote, dass der Verkäufer sich zweimal überlegt habe, ob er einer Frau eine solche überhaupt verkaufen wolle. Die Männer realisierten nicht, dass einen Haushalt führen ein ständiges Anpassen an neue Maschinen bedeutet. Und genau so nutzt Gertrud Guyer ihr neues Instrument, vorsichtig drauf los. Präzision ist erwünscht, aber das Nichterreichen derselben wird nicht als Mangel angesehen, sondern als Teil des künstlerischen Ausdrucks. Es ist dies ein typisches Phänomen für die Kunst von Frauen in dieser Zeit.
Formal orientiert sich Gertrud Guyer an Zürich, wo um 1970 die „konkrete Kunst“ der zweiten Generation in Hochblüte steht. Der Schritt ist nach den ungegenständlichen Arbeiten der 1950er/60er-Jahre nicht weit, öffnet diese quasi in den Raum. Aus vielfach quadratischen Sperrholzplatten sägt sie einzelne Formelemente, die sie so anschleift, dass beim wieder Zusammenfügen der rund und eckig kombinierenden Teile Abstände entstehen, die sie überdies durch Höhenunterschiede akzentuiert. So bilden Flächen und Linien sowie Farbe und Schattenwürfe zusammen den Charakter der Relief-Kompositionen.
Sie beteiligt sich damit unter anderem an den unjurierten Weihnachtsausstellungen in den Züspa-Hallen. Die damalige „BBC“ ( Brown Boveri &Co) kauft mehrere Arbeiten. Vor allem aber wird der Chefarchitekt des sich im Umbau befindlichen Berner Bahnhofs auf Gertrud Guyer aufmerksam und erteilt ihr den Auftrag, eine geometrische Zeichensprache für den neuen Bahnhof zu entwerfen. So entstehen die sich als Farbenreihe entwickelnden Winkel-Zeichen, die noch heute die Beton-Wände des Berner Bahnhofs charakterisieren. Die Erinnerung der Künstlerin an diese Arbeit ist allerdings durchzogen: „Ich war nicht sehr souverän und hatte viel zu wenig Erfahrung.“
Das Gesamtwerk im Blick haben die „konkreten“ Reliefs keine vorrangige Bedeutung. Sie sind eine Schule der Präzision, markieren einen wichtigen Schritt zum späteren plastischen Werk, doch stilistisch sind sie in Bezug auf die Kunst in der Schweiz in den 1970er-Jahren zu wenig innovativ. Das scheint die Künstlerin zu spüren, denn mit der Rückkehr der Familie nach Bern im Jahre 1975 wendet sie sich davon ab und bricht zu neuen Horizonten auf. Wie viele Berner Kunstschaffende in dieser Zeit besucht sie Grafik-Kurse bei Hansjörg Brunner. Die Kupferdruck-Technik fordert die Verbindung von Formalem und Zeichnerischem. Das kommt Gertrud Guyer zu pass. Sie, die parallel zum Hauptwerk immer zeichnete und Bern im Vergleich zu Zürich als Stadt des Surrealismus (Klee, Brignoni, Tschumi, Oppenheim usw.) wahrnimmt, lässt nun dichte Schlaufen zu „surrealistisch“ anmutenden (Natur)-Formen wachsen, bündelt sie in Köpfen, bricht sie in Schraffuren auf. Es ist eine Zwischenstation; ab 1979 mündet sie in die sogenannten „Hudel“: Tücher, Laken, die Gertrud Guyer zunächst mit einfachen architektonischen Zeichen versieht, dann aber bald schon einfärbt und mit impressionistischen, kurzen Pinselstrichen minutiös zu „beschreiben“ beginnt.
Dazu ein kleiner Exkurs: Gertrud Guyer ist wie alle Frauen ihrer Generation immer auch „Hausfrau“, ob sie nun will oder nicht. So wird auch sie in der Zeit als man von den mühsamen Leintüchern, die es täglich zu strecken galt, endlich zu den praktischen Fix-Leintücher wechselt mit der Frage konfrontiert, was sie denn nun mit all dem Stoff soll, wo doch im Schrank auch noch die Textilien aus dem Nachlass der Mutter auf Verwendung warteten. Der Schluss ist „logisch“: Als Träger für Kunst verwenden, ist Malerei doch schon immer Farbe auf Textilem. Es wurde in Texten der 1990er-Jahre rückblickend ein Zusammenhang zwischen den Hudeln und dem Wunsch, Alltäglichem neuen Wert zu geben, konstruiert. Das ist bei Gertrud Guyer wohl nur bedingt richtig, denn sie sagt klar: „Gebrauchen konnte ich nur die nicht verzogenen Tücher, die sich Raumteilern gleich aufhängen liessen.“ Das heisst, das Material stand im Vordergrund.
Aber: Sie provozierte diese Rezeption dadurch, dass sie von „Hudeln“ spricht, ohne zu realisieren, dass sie damit in die typisch weibliche Falle der Abwertung des eigenen Tuns tritt. Indem sie die Haushalt-Herkunft der Tücher dem inzwischen blühenden Feminismus entsprechend abschätzig als „Hudel“ bezeichnet, integriert sie sich selbst in den Minderwert, obwohl sie ihn gleichzeitig subversiv unterläuft. So erzählt sie: „Ich liebte die Grossformate der Tücher und ich bewarb mich auch gerne damit um Ausstellungsbeteiligungen, denn damit blieb mir erspart, dass man mich in eine kleine Ecke hängte; entweder man wählte das Werk und präsentierte es entsprechend oder dann eben nicht.“
Mit den „Hudeln“ wird noch ein ganz anderes Moment aktiv:
1980 stirbt Gertrud Guyers Schwiegervater, der Stanser Psychiater und Schriftsteller Jakob Wyrsch. Seine Frau war ihm schon 10 Jahre vorangegangen. Das heisst, das Tottikon-Haus in Stans war nun leer und muss eine neue Identität finden. Gertrud und Diego Wyrsch richten sich vorerst im sog. Waschhaus eine kleine Wohnung ein, die sie allerdings bis zur Pensionierung von Diego Wyrsch erst in begrenztem Umfang nutzen können. Dennoch ist im Leben und Schaffen von Gertrud Guyer deutlich, dass die Innerschweiz ab den frühen 1980er-Jahren zu einer Art Heimat wird. Sie war im Ausland aufgewachsen und hatte nie tiefgreifende Wurzeln. Durch das Nachrutschen in der Generationenfolge identifiziert sie sich nun gefühlsmässig mit jenen ihres Mannes.
Mit der Innerschweiz erhält die Natur eine neue Wichtigkeit. Hatten die frühen Landschaften Objektcharakter, eignet sie sich die Natur nun quasi an und bringt sie als Sprache einer neuen Befindlichkeit zum Ausdruck. Man vergesse dabei den Zeitgeist nicht. Harald Szeemann prägt um 1970 den Begriff der „Individuellen Mythologien“ und 1970-80 ist die grosse Zeit der „Innerschweizer Innerlichkeit“. Das liegt in der Luft, wenn Gertrud Guyer 1979/80 mit den „Hudeln“ beginnt.
Die Tücher stehen stilistisch in deutlicher Wechselwirkung zu den Radierungen der Vorjahre, die ihrerseits stark beeinflusst sind vom zeichnerischen Werk. Zugleich sind sie durch ihren skripturalen Charakter aber bis auf Andeutungen von Horizonten von Gegenständlichkeit gelöst. Interessant, und für die inzwischen 60-jährige Künstlerin mehr und mehr typisch, ist die Gleichzeitigkeit von Referenzen, die ihrer Generation entsprechen wie von zeitgenössischen Einflüssen. Das heisst es gibt Rückbindungen über Paul Klee (Ad Parnassum!) – in gewissem Sinn auch Mark Tobey – bis zurück zu den Pointillisten, andererseits sind aber auch meditative und skripturale Momente, wie sie Teil der Minimal- und Konzept-Kunst der 1960er- und 70er-Jahre sind, darin enthalten.5
Die frühen „Hudel“ betonen ihre Existenz als Stoffe dadurch, dass sie lediglich eingefärbt und dann bemalt sind; das heisst sie zeigen ihre textilen Eigenschaften auch in der Präsentation. Später geht Gertrud Guyer dazu über die Lein- und Tischtücher zu grundieren und sie damit ähnlich zu behandeln wie Maler, die statt Leinwand Baumwolle als Bildträger wählen. Der Unterschied besteht nun nur noch darin, dass sie nicht auf Keilrahmen aufgespannt sind und so auch an der Wand auf ihre textile Beschaffenheit hinweisen.
Die Hinwendung Gertrud Guyers zur Innerschweiz ist keine Einbahnstrasse, im Gegenteil. Nach kleineren Ausstellungen in Bern, findet 1985 die bisher grösste Ausstellung der Künstlerin im Chäslager in Stans statt. Sie markiert den Anfang der nun breit und breiter einsetzenden Würdigung des (Spät)-Werkes der Künstlerin. Gleichzeitig bereitet sich Neues vor; die Strichelemente der Bilder materialisieren sich in kleine, bemalte Holz-Fundstücke, die als eine Art „Mobile“ vor den bemalten Tüchern im Raum baumeln oder – wenig später – zu eigentlichen, skulpturalen Formationen in festen Rahmen werden. Wie schon von den Informel-Bildern zu den Reliefs, weitet Gertrud Guyer Malerei in den Raum aus.
Damit gerät sie ins Blickfeld der für Kunst am Bau in Bern zuständigen Berner Kunstkommission. 1987 wird sie zum entsprechenden Wettbewerb für den Neubau der Polizekaserne eingeladen und kann daraufhin ihre eigenständigste Arbeit im öffentlichen Raum realisieren.
Das späte Interesse des Werke von Frauen endlich mehr und mehr beachtenden Publikums spornt die bald 70-Jährige an als würde sie nicht täglich älter, sondern jünger.
1992 ist ein entscheidendes Jahr. Wie gut 20 Jahre bevor, kauft sie Sperrholz, greift zur Stichsäge und beginnt der Geometrie nahe stehende, aber keinesfalls exakte Formen auszusägen. Stück um Stück verbindet sie vertikale Wänden und horizontale Böden zu einem eigenwilligen, 10stöckigen Rundturm, der ebenso organisch gewachsen wie als Konstruktion gebaut erscheint. In Anlehnung an die Reliefs und die Mobiles setzt sie die Farben als Akzente ein. Die Fantasie kennt keine Grenzen, ein Turm folgt dem nächsten, immer neu, immer anders, aber immer einem Intuitiven, empirischen Duktus folgend und nicht der Logik funktioneller Architektur.
Wie sie auf die Idee gekommen sei, kann die Künstlerin nicht formulieren, sicher ist aber, dass er Symbol ist für ihr eigenes Wachstum als Künstlerin. Entsprechend haben die Türme auch nicht Raketenform, sondern Etagen – analog den Kapiteln ihres Werkes.
Die unerwartet positive Reaktion des Publikums kann sich Gertrud Guyer eigentlich nicht erklären. Das ist häufig so, wenn ein Werk plötzlich zur richtigen Zeit am richtigen Ort erscheint. Und das ist hier der Fall. In den 90er-Jahren erscheinen in zeitgenössischen Ausstellungen kaum mehr Skulpturen – das Interesse gilt nicht der Materie, sondern, im Gegenteil, dem Flüchtigen der sogenannten „Neuen Medien“. In dieses Vakuum stellt Gertrud Guyer ihre Türme – Skulpturen, die formal zugleich an die klassische Moderne, zugleich an ihre eigenen Werke aus den 1950er-Jahren erinnern, in der empirisch-intuitiven Vorgehensweise aber zugleich eine „Handschrift“ des Persönlichen, des Experimentellen, des nicht auf Ewigkeit Angelegten in sich tragen. Man kann sie ohne Aufwand tragen, hier und dorthin stellen. Damit sind sie klassisch und zeitgenössisch in einem und das fasziniert das Publikum, entspricht dem Bedürfnis nach Rückkehr zum Greifbaren als Kontrapunkt zu allem Festen, das sich in der Zeit aufzulösen scheint.6
Nach einigen Jahren, in denen GG parallel auch immer malt, drängt sich das Bedürfnis auf, dem Aufstrebenden, Ausbrechenden körperlich Kompaktes entgegenzustellen. Kopfplastiken nennt sie die ersten gedrungeneren Plastiken, die zum Teil dieselbe empirisch-konstruktive Bauweise haben wie die Türme, zum Teil aber auch aus knorrigen Ästen in eine organische Form gebracht sind oder an die Mobiles der 80er-Jahre anlehnen bis sie schliesslich in den „Endlosschleifen“ aus Vierkant-Holz die wohl gültigste Gegenform zu den Türmen findet. Sie erinnern etwas an die Plastiken des Engländers Richard Deacon (geb. 1948), öffnen sich assoziativ sowohl dem Gedanken von Hirnwindungen wie auch jedwelchem anderem, inneren Körpersystem und erreichen dadurch eine – nun eher weibliche – Mehrdeutigkeit, die sich sehen, denken, auch befühlen, aber dennoch nicht einengend definieren lässt.
Es ist ausgesprochen spannend, wie es Gertrud Guyer gelingt in diesen späten plastischen Arbeiten all ihre Register zu ziehen, wie sie alles, was sie seit den 1950er-Jahren Geschaffene zusammenzieht und immer wieder neu interpretiert. So folgen den Endlosschleifen, die in gewissem Sinn die Lineaturen des Informel aufnehmen, wieder kompaktere – auch hier an die Bilder der 1950er-Jahre erinnernd – muschelartige Raumkörper, die jedoch durch gelochte, geschlitzte, durchbrochene Oberflächen die textilen Malereien der 1980er-Jahre integrieren.
Als Gertrud Guyer mit 87 Jahren daran geht, das Holz durch Eisen zu ersetzen, einen Schweiss-Kurs besucht und ihre Modelle auf die Umsetzung in Metall hin zu konzipieren beginnt, staunt ihre Umgebung noch einmal. Woher nur nimmt sie diese Vitalität? Lässt man das Leben Revue passieren, so stellt man fest, dass Gertrud Guyers Uhr eigentlich immer etwas langsamer tickte – sie heiratete mit 40 Jahren einen 10 Jahre jüngeren Mann, gebar ihre Tochter biologisch spät und wurde dann durch die gesellschaftlich fixierte Rollenverteilung, die sie weder innerlich noch äusserlich umzustossen vermochte, fast 20 Jahre gebremst. So war der Neubeginn um 1980 – das heisst mit 60 Jahren – künstlerisch betrachtet wie ein Startschuss zu einem zweiten Leben. Und das geniesst sie freudig und dankbar in vollen Zügen – hoffentlich noch lange.
P.S. Eben gestand sie, dass sie jetzt wieder mit Aktzeichnen begonnen habe – sie müsse von Zeit zu Zeit einfach immer wieder am Anfang anfangen, um schliesslich weiter voranzukommen.
1 Von 1919 bis 1965 betrieb Wilhelm Georg Maxon die „Weishamer Malschule“. Sein eigenes Werk wurde im Krieg teilweise zerstört. In einem 100teiligen Zyklus malte er sich die Grauen des Krieges „von der Seele“. Noch heute erinnern Fresken in der Weishamer Kapelle (Gemeinde Bernau) an den Maler.
2 In früher publizierten Biographien wird unter 1950 stets ein Kiefer-Hablitzel-Stipendium erwähnt und Gertrud Guyer nennt dieses auch bereits in den 1950er-Jahren in Informationen an das Schweiz. Institut für Kunstwissenschaft. Recherchen haben ergeben, dass die Kiefer-Hablitzel-Stiftung zwar ab 1951 erste Beiträge vergeben hat, die EmpfängerInnen aber nicht überliefert sind. Das eigentliche „Kiefer-Hablitzel-Stipendium“ gibt es erst ab 1953. Daher sind die Umstände dieser Beitragssprechung nicht ganz klar.
3 Weitere Künstlerinnen sind Sophie Täuber-Arp, Lilli Erzinger, Nell Gattiker und Elsa Burckhardt-Blum.
4 Gemeint ist die grossangelegte Schweizerische Austellung für Frauenarbeit in Zürich, durchgeführt vom Gemeinnützigen Frauenverein.
5 Von denke an Agnes Martin, Hanne Darboven, Roman Opalka, Max Matter u.v.a.m.
6 Als Vergleich in der Schweizer Kunstszene sind am ehesten die „Türme“ der Aargauer /Schaffhauser Künstlerin Rosmarie Vogt-Rippmann (geb. 1939) zu nennen, die eine Art semitransparente Hülle zwischen Innen und Aussen, zwischen Körper und Kleid spiegeln.