Martin Müller-Reinhart Jahresportrait Solothurn 1998

Räume die das Innen im Aussen und das Aussen im Innen spiegeln

www.annelisezwez.ch    Annelise Zwez in „Jahresportrait Solothurn 1998“, Katalog des                                    Kunstvereins Solothurn

Thema der Kunst von Martin Müller-Reinhart ist der Raum.

Wenn wir das Wort laut aussprechen und auf seine Schwingung hören, spüren wir die dunkle Weite, die der Künstler meint, wenn er Räume schafft.

Räume jenseits der Gesetze der Physik und doch der Architektur nahe. Räume zum Begehen mit der (Seh-)Kraft der Vorstellung. Räume zum Durchschreiten ohne auf die Schwerkraft zu achten. Räume, die nach oben offen sind. Wände, die sich beiseite schieben lassen. Um das Davor und das Dahinter, das Sichtbare und das Versteckte zu erfahren. Das Aussen wird Innen und das Innen wird Aussen. Und nichts ist geschlossen.

Das Schwarz ist nicht undurchdringbar, sondern warm und weich. Aber erst, wenn wir den Mut haben, es so zu spüren. Das luftige Gelb, das fein ziseliserte Grau tragen nicht. Sie heissen einem weitergehen, hindurchgehen, sich drehen und mit den Sinnen, als wären sie Tentakel, den Raum auf seine Form und seine Qualität hin auszuloten, das Feste und das Luftige zugleich wahrzunehmen.

Martin Müller-Reinhart arbeitet in primär drei Techniken, die sich ergänzen, thematisch jedoch alle der Leitidee sich frei durchdringender Räume folgen. In der Drucktechnik, die einen gewichtigen Teil des Oeuvres bildet, ist die Räumlichkeit bis auf die Nuancen von Prägedruckelementen Illusion. In den Sperrholz-Reliefs ist die Materialität greifbar. Die Schichten lassen sich deutlich voneinander unterscheiden. Das Davor und das Dahinter ist durch Einschnitte und Fenster real sichtbar. Die Skulpturen greifen in den Raum aus. Es gibt kein Hinten und kein Vorne, da sich im Umschreiten das eine ins Andere wandelt. Der Körper bewegt sich im Skulptur-Raum.

Die Erscheinungsformen der drei Ausdrucksweisen sind nicht einem Weg von der Materie zur Immaterie gleichzusetzen, quasi Körper hier, Geist dort. Sie sind vielmehr als Gleichzeitigkeit miteinander zu verzahnen. Analog der Arbeitsweise des Künstlers, der nicht in Etappen mal am einen, mal am andern arbeitet, sondern täglich wechselt. Der Vormittag gehört normalerweise den Drucktechniken, der Nachmittag der „Malerei“. Er braucht zwar im Gespräch die Begriffe „Relief“ und „Skulptur“, aber beide sind für ihn offenbar letztlich mehrdimensionale „Malerei“. Die Sorgfalt, die er den Oberflächen beimisst, sie glänzend, matt, strukturiert, roh erscheinen lässt, ist eine Erklärung dafür. Die Präsentation der relativ flachen Reliefs an der Wand eine andere. Hintergründiger ist aber wohl der Begriff „Bild“, da er von der materiellen Erscheinungsform auf die metaphorische Bedeutung hinweist. Martin Müller-Reinhart schafft Bilder, die durch den Auftrag von Farbe zur Malerei werden, egal ob zwei- oder dreidimensional.

Martin Müller-Reinhart ist als Solothurner in Bern aufgewachsen, wo er die Schulzeit 1974 mit der Matura abschloss. Sein Weg zur Kunst ist ein direkter, aber nicht ein „normaler“. Die persönliche Erfahrung, das Handwerk suchend, absolvierte er nicht eine der schweizerischen Schulen für Gestaltung, sondern eine Lehre im Papier- und Druckatelier von François Lafranca in Locarno.

Die enorme Vertrautheit mit der Technik, die das druckgraphische Oeuvre von Martin Müller ausstrahlt, hat hier ihre Wurzeln. Nie kommt der Gedanke auf, dass die Graphik für ihn ein Medium der Vervielfältigung sein könnte. Wohl aber, dass spezifische Strukturen des Druckens, wie zum Beispiel das Arbeiten mit mehreren Platten oder die spiegelverkehrte Erscheinung, die Inhaltlichkeit seines Werkes im Sinne gegebener Konstitutiven beeinflusst hat.

Die Graphik war nie alleinige Ausdrucksweise. Das Haus seiner Grossel¬tern am Stalden in Solothurn, wo seine Eltern heute wieder wohnen, und wo auch Martin Müller seine Solothurner Absteige hat, ist ein Stück weit persönliches Museum des Künstlers. Das heisst, man kann da Werke aus mehr als zwei Jahrzehnten sehen. Zum einen gibt es da Bilder, auf denen die Farbe nicht mit dem Pinsel aufgemalt, sondern in regelmässigen Vertikalen direkt aus der Tube auf die Leinwand gelegt und so als in den Raum ausgreifende Substanz eingesetzt ist (um 1977).

Das Reduzierte, das Rhythmische, das Geometrische, das Reliefartige, verbunden mit sinnlicher Präsenz von Material, das alles ist heute noch da, wenn auch anders. Da gibt es aber auch expressive Bilder, die körperliche Züge tragen. Rumpf, Arme, Beine werden darin zu autonomen Formen, die sich miteinander verbinden. Der Einsatz von Wellkarton bringt auch hier zuweilen Reliefartiges und zugleich Strukturiertes mit hinein (1978).

Körperliches, so scheint es wenigstens auf den ersten Blick, gibt es in den neueren Arbeiten nicht mehr. Und doch. Ein eindrückliches Bild von 1984 verbindet die beiden Stränge am Kreuzpunkt zum heutigen Werk. Vorerst ist jedoch die Biographie nachzutragen.

1977 zieht Martin Müller-Reinhart nach Paris. Auf die Frage, warum denn ausgerechnet Paris, das in den 70er Jahren seinen legendären Ruf als Kunstmetropole doch längst verloren hatte, antwortet der Künstler: „Paris schien mir eine Stadt so gross wie ein Meer, in das man eintauchen, in dem man untertauchen kann. Eine Stadt, die einem nicht empfängt, sondern Widerstände entgegensetzt.“ Er erwähnt auch Alberto Giacometti und meint damit wohl nicht nur die Werke des Künstlers, sondern vor allem auch den Menschen; das existentielle Moment somit. Die Wahl von Paris als neuem  Wohnort hatte also etwas mit sich selber Aussetzen zu tun. Und war doch nur eine Tagesreise von zuhause weg.
$
Im bekannten Druckatelier Lacourière-Frélaut findet Martin Müller-Reinhart einen Ort, wo er seine druckgraphischen Kenntnisse erweitern kann und wo sich in der Arbeit für zahlreiche Pariser Künstler, darunter Pierre Soulages, neue Horizonte öffnen.

Ein entscheidendes Erlebnis datiert von 1982. Schon längere Zeit beschäftigte sich Martin Müller-Reinhart mit der Kunst des Mittelalters, ihren Bildern, ihrer Architektur. Die Bibliothèque Nationale de Paris war ihm oft Studienort. Doch nun war im Louvre das berühmte Florentiner „Kreuz“ von Cimbabue (Florenz um 1240/45 – Pisa nach 1302) zu sehen, ein von der byzantinischen Kunst beeinflusstes, 4,5 x 3.9 Meter grosses Holzbild.

„Es war frei in die grosse Bildergalerie gehängt – ich sah da auf ganz einmalige Weise die offene Form des Kreuzes, als wäre sie aus dem Umraum herausgeschnitten worden. Ich erkannte, dass auch in der Malerei Aehnliches geschehen kann wie in der Skulptur, dass der Umraum gleichermassen bedeutsam sein kann wie das Bildkreuz, wobei das eine das andere bedingt und umgekehrt“. Auffallend ist, dass die Figur Jesu in Cimbabues Kreuz in die T-Form eingepasst ist, jener Kreuzform, die im Werk von Martin Müller-Reinhart immer und immer wieder er¬scheint. Cimabue malte den Kopf des Gekreuzigten seitlich auf den rechten Arm gelegt, sodass er diesen nur wenig überhöht. Das die menschliche Figur spiegelnde Kreuz ist die symbolbeladenste Form der Ge¬schichte. Ihre Bedeutung kann hier nicht allgemein abgehandelt werden. Wichtig scheint jedoch der Hinweis, dass das „T“-Kreuz, wie es hier relevant ist, im Laufe der Geschichte nie ein Hinrichtungskreuz war.

Zurück in die elterliche „Gemäldegalerie“ in Solothurn. Das oben er¬wähnte Bild von 1984 (Acryl/Kohle auf Papier) zeigt mehrere Kreuzformen ineinander verschränkt. Das Körper- und das Formmoment durchwirken sich. An anderer Stelle hängt eine kleine auf Rot aufgebaute Pinsel¬zeich¬nung aus einer Serie von 1986. Sie ist mit Bostitch-Klammern auf dem Untergrund festgemacht – ein wohl zugleich nachlässiger wie hintergründiger Akt. Sie zeigt, an Cimabue erinnernd, einen Körper am Kreuz.

Im Laufe der Zeit hat sich Martin Müller-Reinharts Werk ausgeweitet, hat viele andere Bedeutungen der T-Form aufgegriffen, sich mit neuen Raume¬lementen verbunden, ist abstrakter und offener geworden. Doch im Kern ist die Symbolik von Körper und Kreuz als treibende Kraft des Formens, des Denkens, des Empfindens wohl immer präsent. Das heisst, die exi¬stentielle Dimension – Paris ist ja auch die Stadt des Existentialismus – ist immer mitzudenken bis hin zu Fragen nach der Transzendenz von Raum und Zeit, von Leben und Tod.

Ab Mitte der 80er Jahre erscheint Martin Müller-Reinharts Schaffen in Einzel- und Gruppenausstellungen sowohl in der Schweiz wie in Paris und dann auch in Belgien und in Kanada. Ab 1987 gehört er zu den regelmässigen Gästen der Jahresausstellungen im Kunstmuseum Solothurn. Mehr dem „Betriebssystem Kunst“ denn den ureigenen Intentionen des Künstlers entsprechend, sind es vorab seine Druckgraphiken, die international gezeigt werden. Das noch nicht realisierte Projekt eines „Inventars“, das 674 Kupferdrucke aus den Jahren 1978 bis 1996 auf 50 grossen Papieren zu einem „Gespräch“ über die Beschaffenheit von Räumen zusammenführen möchte, zeigt die zahlenmässige Dimension des graphischen Schaffens von Martin Müller. Umsomehr als es hier nur um die kleinformatigen, somit nur einen Teil der Arbeiten ginge. Einige Probedrucke zeigen indes schon heute die inhaltliche Spannweite der Entwicklung.

Immer geht es um emotionale Architekturen, um Räume evozierende Flächen, die durch ihre Formen, ihre Geometrien, ihre Beziehungen, ihre Zeichenhaftigkeit unterschiedliche Atmosphären schaffen, die zugleich zum Gehen, zum Hindurchgehen auffordern wie Grenzen setzen, Bedrohungen aufzeigen. Vertikale stossen auf Horizontale, Balken tragen Schrägen, Kreuze bilden Tore. Manchmal erscheinen sie traditionell auf dem rechteckigen Papier, oft steigert der Künstler indes die evozierte „Realität“ der Raumhaftigkeit durch das Beschneiden der Papiere entlang den Bildkanten. Bild- und Umraum durchdringen sich, Bildillusion und Bildrealität steigern sich. Es entstehen Raumemotionen zwischen Vorstellung und Körperhaftigkeit jenseits der rechten Winkel.

Lange Zeit arbeitete Martin Müller vor allem in Lichtwerten zwischen schwarz und weiss, die er indes durch unterschiedliche Techniken in ihren Oberflächenerscheinungen breit auffächerte. Da sind – im Druck! – weiche, samtige, leicht poröse, gerippte, gänzende, matte, satte, verschattete Zonen, die sich ihrer Struktur entsprechend einprägen. Da gibt es monochrome Flächen, aber auch durch feine Striche vibrierende oder durch expressive Lineaturen in Spannung versetzte. Da sind aber durch Aetzvorgänge malerisch erscheinende, durch Schraffuren rhythmisierte, von Arbeitsspuren geprägte Flächen. Analoges gilt für die schwarzen Reliefs derselben Zeit.

Erst vor einigen Jahren fand Martin Müller-Reinhart zur Farbe, zu rostrot, zu blau, zu gelb insbesondere. Die Wirkung übereinandergelegter Druckplatten im Spiel den Farbintensitäten und -strukturen wird zur Herausforderung. Im Relief gilt das eine, im Druck das andere; die Wechselwirkung schärft die Wahrnehmung. Gleichzeitig findet ein Abstraktionsprozess statt. Räumlichkeit wird zurückgedrängt zugunsten von Schichtungen und Ueberlagerungen. Die Aussenformen werden reicher, die Beziehungen der ineinander und übereinander gelagerten Flächen vielfältiger. Die Einblicke werden zu Durchblicken, das Durchschreiten zum Durchschweben, der Tanz auf der Bühne zum Luftspiel. Doch trotz der Luftigkeit ist alles viel komplexer. Es braucht die Skulptur als Kontrast, um das Schauen, Fühlen und Greifen nicht zu verlernen.

Bildlegenden: Installation in der Schweizer Botschaft in Paris 1997. – Wandrelief 1992. –  Kapitel aus dem Inventar der Kupferdrucke.