Die Lebendigkeit der Kunstszene unter Beweis stellen        Bieler Tagblatt im August 1998

Ein Kunstförderungskonzept des Solothurner Kunstvereins

Zum dritten Mal ist der Kunstverein Solothurn mit vier „Entdeckungen“ im Graphischen Kabinett des Kunstmuseums zu Gast. Sein Anliegen ist es, die Lebendigkeit der Kunstszene „vor der Haustüre“ unter Beweis zu stellen.

Die Zentren der Kunst der 90er Jahre sind die Grosstädte der Welt. Wollen kleinstädtische Gebiete nicht zu Kunstregionen zweiter Klasse werden, müssen sie etwas dafür tun. Der Bieler Kunstverein versucht es mit Atelier-Wochenenden. Der Kunstverein Soloturn hat 1996 ein Fünfjahres-Projekt gestartet, dass alljährlich  vier (noch) unbekanntere Künstler und Künstlerinnen, die an vorangegangenen Weihnachtsausstellungen aufgefallen sind, im Kunstmuseum präsentiert. Ebenso wichtig wie die Ausstellung ist der auf jeden einzelnen mit Bild und Text eingehende Katalog, der an wichtige Kunstadressen sowie an alle Mitglieder des Vereins als Jahresgabe verschickt wird.

Kulturförderung darf nie Heimatschutzcharakter haben; so finden jedes Jahr vor Ort Lebende und an diesen Ort Zurückkehrende zusammen. Zur Zeit sind das der Bildhauer/Fotograf Jürg Hugentobler, die Video- und Objektkünstlerin Rita Baumgartner (beide Solothurn), der Graphiker und Plastiker Martin Müller-Reinhart (Paris) und die Malerin Anita Breiter (Langendorf).Altersgrenzen, wie man sie von Stipendien her kennt, gibt es keine. Gut, denn gerade die laufende Ausstellung zeigt, dass dieses Kriterium immer weniger unserer Zeit entspricht. Mit Ausnahme von Anita Breiter (geb. 1965) sind die Künstler und Künstlerinnen des „Jahresportrait 1998“ in den 50er Jahren geboren. Trotzdem gehören sie überwiegend zur jungen Kunstszene, die ihre gestalterische Ausbildung in den 90er Jahren abgeschlossen hat. Sowohl Rita Baumgartner wie Jürg Hugentobler sind Quereinsteiger; Martin Müller-Reinhart, der seit 1977 in Frankreich lebt, hat seine Beziehung zu Solothurn erst vor einigen Jahren erneuert..

Obwohl die vier Kunstschaffenden nicht unter thematischen, sondern unter qualitativen Kriterien eingeladen wurden, fällt die enorme Bedeutung des Raumes in den meisten Werkgruppen auf. Räume, die nicht als Monumente für sich stehen, sondern als Orte psychischer Qualität nach dem Menschen fragen. Rita Baumgartner frägt in ihrer spannenden

Videoprojektion mit (realem) Geranienkistchen nach unserem Verhalten hinter den Fassaden; ihr Blick hinter Fenster macht das Private zum Oeffentlichen, das Intime zum Sichtbaren, vielleicht auch den Schein zum Sein. Jürg Hugentobler evoziert in bildhauerisch inszenierten und anschliessend grossformatig fotografierten Räumen Wahrnehmungen zwischen Architektur und Körperempfindung. Auch er stellt durch die Kombination der Realebene in Form eines raumhohen Holzsteges die Frage nach Realität und Fiktion.

Martin Müller-Reinhart summiert in den gezeigten Radierungen graphisch-technischer Höchstqualität Arbeiten von 1977 bis 1994. Vergleichbar mit seinen nur im Bild möglichen „Architekturen“, zeigt die auf grosse Blätter zusammengefasste Vielfalt nicht lineare Entwicklung, sondern komplexe Vernetzung. Anders und ähnlich als bei Jürg Hugentobler ist die dazugestellte, konstruktive Skulptur quasi die Reflektion des Bildhaften im greifbaren Raum. Anita Breiters malerische Gedanken auf Buchdeckeln bilden innerhalb der Ausstellung einerseits einen Kontrapunkt. Ihre Arbeiten entführen in äusserlich bewusst bescheidenem Rahmen in die Fülle subjektiver Phantasien zwischen Wissen, Lesen, Träumen und Empfinden.

Könnte die Ausstellung theoretisch auch in Zürich, Basel oder Genf stattfinden oder entspricht sie dem Abseits der Zentren? Die Frage muss gestellt werden. Förderungskonzepte in den Städten haben gesamthaft radikaleren Charakter als das Solothurner Projekt; Klassisches wie die mentalen Architekturen Müller-Reinharts findet man dort zur Zeit kaum. Auch die Malerei hat einen schweren Stand. Setzt man Qualität ohne Trenddenken mit Intensität und Eigenausdruck gleich, so haben die im Rahmen des „Jahresporträt“ gezeigten Werke indes mehrheitlich das Potential über die Region hinauszuwachsen. Mit anderen Worten: Die lokalen Kunstszenen sind nicht zu unterschätzen.                        Annelise Zwez

 

Zu den Fotos

Auf dem Papierbild ist Jürg Hugentober (rechts) im Gespräch mit einem Künstlerkollegen (Hubert Dechant) vor seinen inszenierten Fotografien.

Von den Fotos auf dem Negativ-Streifen, kommt für mich eine der mittleren drei in Frage. Sie zeigt den Holzsteg und eine inszenierte Fotografie von Jürg Hugentobler. Gegebenenfalls auch Nr. 13 (Hochformat): Radierung von Martin Müller-Reinhart.

Mit freundlichem Gruss

Annelise Zwez