Lilly Keller bei René Steiner in Erlach 2010

Gab der Vitalität des Lebens tausend Bilder

 www.annelisezwez.ch          Annelise Zwez im Bieler Tagblatt vom 9. Oktober 2010


Sie ist eine der Doyennes der Schweizer Kunst: Lilly Keller. Ihr immenses Werk umfasst nahezu 60 Jahre künstlerischer Tätigkeit. Eine kleine Retrospektive in der Galerie René Steiner in Erlach erzählt davon.

Die seit 1962 in Cudrefin am Neuenburgersee lebende Berner Künstlerin war schon in der Schule eine Rebellin, die nicht still sitzen mochte, lieber die ganze Welt in Bewegung versetzt hätte. Und dieser unermüdliche Motor treibt Lilly Keller noch heute, mit 81 Jahren, täglich an, ihr Werk fortzusetzen. Die Arbeiten von 1962 bis 2010 umfassende Ausstellung bei René Steiner im Mayhaus in Erlach zeigt es.

Begonnen hat sie 1949 mit einer Grafik-Ausbildung an der Kunstgewerbeschule in Zürich. Doch das Strenge war nicht nach ihrem Sinn, also nahm sie Farbe und Pinsel und malte und integrierte sich in die äusserst lebendige Kunstszene Zürichs rund um Friedrich Kuhn. Um der „Wildheit“ Einhalt zu gebieten, wechselte sie von der Leinwand zum Webstuhl und begann ihre Bilder mit Zettel und Schuss zu „malen“. Zahlreiche grosse Wandteppiche (u.a. Gymnasium Langenthal) erzählen bis heute vom lebendigen Schwung, den sie als webende Malerin in die Textilkunst der Zeit einbrachte. Parallel dazu entstand – bereits in Cudrefin – eine Vielzahl von mittelformatigen, abstrakten Neocolor-Arbeiten auf Papier, die nun – erstmals (!) – in Erlach ausgestellt sind.

Sie zeigen in ihrer Üppigkeit, ihrer Farbigkeit, ihrer Nähe zu Körper und Naturformen ein zentrales Moment im stilistisch, methodisch und thematisch weit ausfächernden Werk der Künstlerin. Es ist der Einfluss der zusammen mit Toni Grieb betreuten Gartenanlage mit Bambus, Blumen, Teichen, Hühnern, Hunden, Katzen, Pfauen und vielem mehr rund um ihr altes Bauernhaus in Cudrefin. Die Vitalität des Lebens und des unbändigen Wachstums ist zugleich ein Spiegel ihrer eigenen quirligen Kreativität wie auch der  Kraft, welche ihr immenses künstlerisches Werk vorantreibt. Zugleich sind die abstrakten Neocolor-Arbeiten und Gouachen der Zeit aber auch Ausdruck der Stilepoche der Kunst der 1960er-Jahre zwischen Pop-Art und fantastischem Surrealismus.

1983 hört Lilly Keller mit der „Weberei“ auf – zu sehr leidet sie unter der Ghettoisierung der Textilkunst durch die „offizielle“ Kunstszene. Ein einziger „Teppich“ aus der Sammlung von René Steiner erinnert an die Epoche. Die beiden verbindet ja bekanntlich mehr als die Beziehung Künstlerin – Galerist; zwischen 1976 und 1983 unternahmen sie gemeinsam mehrere abenteuerliche Weltreisen, die sie unter anderem bis nach Afghanistan führten.

An die Stelle des Textilen tritt  in den 1980er-Jahren unter anderem der Kunststoff  Polyurethan, mit dem sich in Verbindung mit Maschengittern nun quasi „Stoff“ formen und anschliessend bemalen lässt.  Mit einem Seitenhieb auf den Kunstbetrieb malt sie nun „Teppiche“. Der anfänglich weiche Kunststoff lässt aber auch die Integration anderer Materialien – meist aus dem alltäglichen Umfeld – zu. Die Bilder werden zu Reliefs, werden zu Skulpturen. Zeigte die Ausstellung im Museum Bickel in Walenstadt 2008 ganze Bergmassive, Materialwände und Glasskulpturen, sind in Erlach nicht ganz so grosse und auch kleine Arbeiten zu sehen. Die Zeichnungen, Bilder, Reliefs, Sockel-Skulpturen, Collagen und Lithographien geben einen notgedrungen lückenhaften, aber denn guten Einblick in Lilly Kellers Gesamtkunstwerk.

Der ganz grosse Durchbruch ist Lilly Keller nie gelungen. Der Grund mag darin liegen, dass bisher niemand den roten Faden in dem in tausend Richtungen ausufernden Werk gefunden hat. Etwas, das lange auch für ihre Freundin Meret Oppenheim galt. Lilly Keller sagt: „Ich denke nicht, ich mache“.  Für Kunsthistoriker ist ein solcher Satz ein „rotes Tuch“. Das Verbindende ist denn auch nicht benennbarer Natur, liegt aber sehr wohl in der stupenden Fähigkeit der Künstlerin, ihre Bewunderung für die Kraft und die Vielfalt des Lebens mit bereits Erlebtem und Geschaffenem zu verbinden und daraus Neues zu gestalten. Blätter, Blüten, Kapseln, Federn wie sie Natur jedes Jahr hunderttausendfach hervorbringt, sind denn auch Zeichen, die in ihrem Werk immer wieder aufscheinen; oft in ornamentale Kontexte gesetzt, die ihrerseits Repetitives betonen.

In den nächsten Wochen wird im Benteli-Verlag die erste Monographie zu Leben und Werk von Lilly Keller erscheinen. Der Nidauer Filmemacher Peter Battanta arbeitet schon seit einigen Jahren an einem Filmporträt. Ob diese Übersichten die Stellung Lilly Kellers in der Schweizer Kunstgeschichte zu verändern vermögen, wird sich zeigen. Für den Moment bleibt die schmerzhafte Tatsache, dass kein einziges, öffentliches Schweizer Museum je eine repräsentative Ausstellung zeigte, auch nicht zur ihrem 80sten Geburtstag vor einem Jahr.

 

Info: Vernissage: Sonntag, 10. Oktober, ab 15 Uhr. Peter Battanta zeigt Ausschnitte aus dem entstehenden Film „Lilly Keller: Die Kunst der Entgrenzung“. Do, Fr, Sa, So 14 – 19 Uhr. Finissage. 28. November.

 

Die Zukunft der Galerie

Die Galerie René Steiner wird in naher Zukunft umbenannt.

Sohn Ilja Steiner (geb. 1989) tritt nach Abschluss der kaufmännischen Berufsmatura und einem Jahr Praktikum am kunstgeschichtlichen Institut der Universität Bern ins Geschäft des Vaters ein.

René Steiners erste Galerie hatte ihr Domizil in Thun (ab 1961), die zweite in New York. Seit den frühen 1980er-Jahren ist sie im Mayhaus in Erlach beheimatet.

Schwerpunkt war lange Jahre das Werk von Martin Disler.

Ende der 1980er-Jahre wohnten russische Künstler im Mayhaus und schufen hier Werke.

Ab 1998 zeigte die Galerie vermehrt Werke von Künstlern und Künstlerinnen aus der Region und lancierte den „Fil rouge“, eine Art Künstler-Schneeball-Projekt.

Nach eher ruhigen Jahren, soll die Galerie nun neue Impulse erhalten.    azw