Hans Ulrich Theilkäs Riedhubel 1995

Katalogtext

Der Horizont – Wo Erde und Himmel aufeinandertreffen

Gedanken zur Videoinstallation „Standort Riedhubel“

 

www.annelisezwez.ch

 

Seit sieben Jahren beschäftigt sich Hans-Ulrich Theilkäs mit der Horizontlinie, wie sie sich als 360° Panorama vom „Riedhubel“ unweit von Bern präsentiert. Der Begriff der Linie ist wörtlich zu verstehen, denn nicht die Landschaft interessiert ihn, sondern die Strukturen der Wahrnehmung am Rande von Erde und Himmel. In immer wieder neuen Aspekten und neuen Medien hat er das sich aus Büschen, Bäumen, Hügeln, Wiesen und Bergen ergebende Profil befragt. Seine Stossrichtung war dabei nicht primär eine bildhaft-sinnliche, sondern in erster Linie eine konzeptuelle, ausgerichtet auf die Komplexität und gleichzeitig die Relativität unseres Schauens und Verstehens.

 

Wenn ein Künstler über Jahre hinweg ein einziges Thema bearbeitet, so kann sich dies ebenso in der Horizontalen wie in der Vertikalen abspielen; das heisst in oberflächlichen Varianten oder als kontinuierliche Vertiefung hin zu einem, letztlich unauffindbaren, Kern. Entscheidender Faktor für das eine oder andere ist das Thema selbst. Erschöpft es sich in Drehungen um sich selbst oder ist es Gefäss für immer neues Erkennen. Zweifellos ist der Horizont, die Trennlinie zwischen Erde und Himmel, zwischen Materie und Luft, zwischen dem Fassbaren und dem Unfassbaren ein Thema mit offenem Ende. Und das macht die Beschäftigung mit dem Schaffen von Hans-Ulrich Theilkäs spannend. Die Gefahr schummriger Mystik – etwas, das dem Künstler fremd ist – bannt er durch ein Vorangehen in kleinen, präzisen – fast naturwissenschaftlichen – Wandlungen.

 

Der Medienwechsel vom zwei- oder dreidimensionalen Bild respektive Objekt zur Video-Projektion ist, technisch gesehen, ein grosser Schritt. Dass er durch ein intensives Studium der Eigenheiten und Möglichkeiten vorbereitet werden musste, war für Hans-Ulrich Theilkäs Selbstverständlichkeit. An der Basis geprägt von einem handwerklichen Beruf, war ihm Gewissenhaftigkeit schon immer ein Anliegen. Ein Medienwechsel ist indes nur gerechtfertigt, wenn mit dem neuen Ausdrucksmittel etwas vermittelt, erkennbar gemacht werden kann, was mit den bisherigen Darstellungsmethoden nicht möglich war. Dieses wichtige Moment ist in der Video-Installation „Riedhubel“ von Hans-Ulrich Theilkäs klar gegeben, sogar mehrfach.

 

Die Linie, welche vom Video-Band auf die Ausstellungwand projiziert wird, ist immer dieselbe: Der 360° Grad-Horizont des Standortes Riedhubel. Im feinen, von der menschlichen Optik und der gewählten Grösse geprägten Profil zeigt sich das Nahe und das Ferne, das Grosse und das Kleine als Kurve rund um die eigene, standortgegebene (Welt)-Achse. Erschien der Horizont in früheren Arbeiten als Markierung, die ihn als etwas Reales erscheinen liess oder als Trennung zweier Flächen oder Materialien, die ihn nur indirekt sichtbar machten, so wird er in der Umsetzung auf Video als Licht-Profil so immateriell und zugleich fassbar, wie wir ihn erleben, nämlich als etwas, das gleichzeitig ist und nicht ist. Es kommt hinzu, dass die grossräumige Rundum-Installation (Radius 4,5 Meter), die ein Mitdrehen der Betrachtenden erfordert, eine Annäherung an die Real-Situation der 360° Horizont-Linie bein-haltet und dadurch etwas vom „Statistischen“ der zweidimensionalen Bearbeitung verliert. Das körperliche Erlebnis des Sicht-Kreises rückt in den Vordergrund und macht zugleich die Weite wie die Enge und Geschlossenheit der eigenen Position, letztlich der eigenen Wahrnehmungsfähigkeit, erfahrbar. Vielleicht dringt auch die bedingte Bedeutung der sichtbaren Horizontlinie, die sich von jedem Standort aus anders präsentiert als Gleichnis der Relativität individuellen Denkens und Erkennes ins Bewusstsein.

 

Wichtig ist dem Künstler die Zeitkongruenz, welche die geographischen Süd/West/Nord/Ost – Achsen wahrt. Das heisst das dreiminütige Band, das in Projektionen von jeweils 15 Kreisgraden von der Decke an die Wand gestrahlt wird, braucht drei Minuten für eine Umdrehung. Eine zusätzliche Dimension bringt das weisse Licht, das als Subtraktion des gleichwertig codierten roten, blauen und grünen Lichtstrahls des Video-Beams erzeugt wird. Durch die Präsenz der Farbe – durch eine dazwischengeschobene Glasscheibe akzentuiert – und der Erscheinung als Weiss wird auf einer weiteren Ebene auf die Abhängigkeit der Wahrnehmung von der Struktur der menschlichen Sinne aufmerksam gemacht. Es könnte ja sein, dass wir mit einer anderen Optik das Licht in den Facetten des Regenbogens sähen.

 

Die kreisende Horizontlinie wird von zwei Klangebenen begleitet. Dominant ist ein dichtes Gewebe von Stimmen, mit verstecktem Tonband aufgenommen im Café des Pyrénées, einer einschlägigen Berner Stammbeiz . Im Gegensatz zur (scheinbaren) Klarheit und Gleichmässigkeit des umfliessenden Horizontes wirkt die eigenartige Rhythmik des unverständlichen Stimmengewirrs irritierend  – als überlagerten sich eine Vielzahl von „Standorten“ und „Sichtbilder“, übersetzt vom Visuellen ins Klangliche. In den Stimmenlärm eingeflochten sind zwei Cembalo-Soli aus dem Ricercare des „Musikalischen Opfers“ von Johann Sebastian Bach. Es sind einfache, klare Tonfolgen, deren Analogie zum Wechselspiel des Auf und Ab des Horizontes leicht fassbar ist und zugleich die Vereinzelung gegenüber der Vielheit zum Ausdruck bringt. So gelingt es Hans-Ulrich Theilkäs durch den Einbezug von Klangebenen, die Aussage seines Horizontthemas zu verdeutlichen.

 

Keine Arbeit entsteht in einem luftleeren Raum; so gibt es auch im Schaffen von Hans-Ulrich Theilkäs Querverbindungen zum Denken und Gestalten anderer Kunstschaffenden. Der Horizont durchzieht als Element die gesamte Landschaftsmalerei; man denke zum Beispiel an die Epoche der Romantik, zweifellos aber auch an Ferdinand Hodler. Mit dieser atmosphärischen Behandlung des Horizontes hat Theilkäs‘ Annäherung ans Thema nur bedingt zu tun. Wesentlicher ist die Bedeutung der auf Phänomene der Wahrnehmung ausgerichteten Konzeptkunst der 70er Jahre und hier insbesondere Facetten des Schaffens von Markus Raetz. „Ein Ding ist zugleich sein Foto, seine Beschreibung, seine Bewegung, sein Nichtexistieren, seine physikalische, psychologische Analyse“, notiert Raetz 1970 und 1974 schreibt er u.a. „Oft Gesehenes neu sehen durch Drehung des Kopfes“ (beide Zitate publiziert in „Das Beobachten des Beobachtens“, Bern 1977/78). Der eine und der andere Gedanke spiegelt sich in Theilkäs‘ Schaffen, nicht in formalem, wohl aber in strukturellem Sinn. Man könnte sagen, was der produktive  Markus Raetz einst als Gedankenblitz notierte, macht Hans-Ulrich Theilkäs zum Ausgangspunkt seiner intensiven, langjährigen Forschungen.