Rudolf Blättler Retrospektive Kunstmuseum Luzern 2004

Das Männliche im Weiblichen – eine Utopie?

www.annelisezwez.ch    Annelise Zwez in Bieler Tagblatt vom 19. März 2004 und in Solothurner Zeitung vom 2. März 2004

Er hat durchbeissen müssen, die letzten zehn Jahre, als niemand von Plastik sprach. Jetzt zeigt Luzern das bildhauerische Schaffen von Rudolf Blättler (63) in einer punktuellen Retrospektive.

«Ich wusste immer, sie gehören zusammen», sagte Rudolf Blättler. Er meint damit die frühen tempelartigen Architektur-Skulpturen der 70er-Jahre und die jüngsten figürlichen Plastiken, die Mann und Frau in einem sind. Die beiden Pole bilden die Eckpfeiler der sparsam inszenierten Einzelausstellung des Innerschweizers von nationalem Format im Kunstmuseum Luzern. Was die Pole verbindet und was erst heute ganz fassbar wird, ist die Utopie. Die romantische Vorstellung, «l’origine du monde» fassen zu können; als Leben, das Mann und Frau nicht trennt.

Peter Fischer, Direktor des Kunstmuseums Luzern, nennt als Charakteristikum für Blättlers Schaffen die Ambivalenz; die Gleichzeitigkeit von Verletzlichkeit und Selbstbewusstsein. Eine träfe Feststellung, die sowohl in den als Modelle für gigantische Tempelanlagen geschaffenen Architekturen zu finden ist wie in der jüngsten Figur, die eigentlich auch ein Modell ist.

In den frühen Arbeiten ist der verletzliche Kern – die Reliquie des Lebens – stets in eine Erdkammer abgesenkt und in einem Zustand zwischen Ausfahren und Einstülpen festgehalten. Gleichzeitig ist das Kleinod zwischen Vulva und Phallus umbaut von mächtigen Steinen mit Anspruch auf Präsenz und Beachtung.

In ähnlicher Spannung verharrt die jüngste, erst in weissen Gips geformte, stehende Figur von 2003. «Frau» heisst sie, aber ihre Brüste scheinen angeschraubt und ihr Geschlecht ist verdeckt von fingrigen Händen. Ihr Kopf wird aufgelegt, der Hals ist zu dick und ihr Blick ist nicht weiblich, sondern eher jener eines jungen Mannes.

Das Ungleiche bannt. Die Figur ist und ist nicht; sie ist Modell, Vision, Utopie. Was somit früh erst Vorstellung, archaischer Traum, Religio ist, wird, knapp 30 Jahre später, zur Form, zur Figur – auf dem Sockel. Unweigerlich denkt man gesellschaftlich – an die aktuellen Tendenzen von Geschlechterauflösung, weiss das Blättler das nicht meint, oder etwa doch?

Unter diesem Spannungsbogen hat Rudolf Blättler eine lange, dichte, oft emotional aufreibende und Proteste auslösende Entwicklung durchlaufen. Die Körperzeichen zwischen Mann und Frau erhoben sich aus der Versenkung, wurden zum monumentalen Bronze-Kopf «Ubinas», wurden zum «Grossen Weib». Dann trat der Mann auf, zwischen den Beinen der Frau zunächst, dann auf sie gelehnt und schliesslich im grossen Geschlechtsakt mit ihr verschmolzen.

Punktuell ist die grosse Entwicklung, die Blättler in Ausstellungen von Olten über Schaffhausen bis Bex und Môtiers zeigte, in die Teilretrospektive in Luzern integriert.

Spätestens hier drängt sich die Bemerkung auf, dass die Inhaltlichkeit von Blättlers Schaffen wohl faszinierend ist, ein Emanzipationsprozess in gewissem Sinn, dass das Werk aber zugleich eminent skulptural ist, dass jede Figur unabhängig von darstellenden Momenten durch- und durchgearbeitete Form ist. Mächtig, haptisch, archaisch, erotisch.

Zeichnungen und Aquarelle von 1974 bis 2003 facettieren Blätters Recherchen zwischen Urgründen, Lichtschächten und Wachstumskräften zusätzlich. Eindrücklich zum Beispiel die grossformatigen Chinatuschen von 2000/2001, die in dezidiertem malerischem Pinselzug männliche und weibliche Geschlechtlichkeit ausloten und in ihrer Polarität auflösen.