Text von Annelise Zwez für das Buch „Über das Sehen – Über das Gehen“, erschienen 1993 im Vexer-Verlag St. Gallen, herausgegeben von Andreas Meier, Centre Pasquart, Biel

 

Sehen ist zunächst ein physiologischer Vorgang. Unsere Augen sind ein exquisites optisches Gerät. Kein anderes Organ wird von so vielen Nervenfasern versorgt wie das Auge. Es ist das von der Roboter-Technik am schwierigsten zu kopierende Sinnes-Instrument. Es besteht aus lichtempfindlichen Sinneszellen und Hilfseinrichtungen, die den Lichtzutritt regeln. Durch die transparente Hornhaut und durch die Linse fällt auf die Netzhaut ein umgekehrtes, aber präzises Abbild, das von den lichtempfindlichen Stäbchen und Zäpfchen der Retina in elektrische Impulse zerlegt wird. Die Trennschärfe ist in der Zentralgrube, der tiefsten Stelle des “Gelben Flecks”, am grössten.  Die in den Sehnerv abgeleitete Erregung ist indes eine noch ungeformte Nachricht. Die Verarbeitung der neuroelektrischen Erregung zur optischen Wahrnehmung ist eine Leistung der Grosshirnrinde.

Sehen als komplexes, funktionelles Prinzip ist naturwissenschaftlich interessant, erklärt aber nicht, was der Mensch durch das Sehen wirklich erfährt; und auch nicht, wo seine visuelle Wahrnehmungsfähigkeit endet. In den gängigen Lexika finden unter dem Stichwort “Sehen” ausschliesslich die physiologischen Aspekte Erwähnung, nicht aber die psychischen und metaphysischen Bedeutungen. “Sehen” umfasst neben dem rein visuellen Geschehen auch Phänomene wie Begreifen, Verstehen, Spüren, Empfinden und Glauben. Unsere „Sehschärfe“ ist ebenso von körperlichen, wie von geistigen und seelischen Kräften bestimmt.

Sehen ist ein Vorgang, der Aeusseres im Inneren zu Eigenem verschmilzt. Doch Vorsicht – wie weit ist das Eigene eigen? Wie weit ist visuelle Wahrnehmung autonom, wie weit ist sieprogrammiert?  Denken wir etwa an optische Täuschungen, welche die Vorliebe unserer Augenfür Symmetrie, Parallelität, rechte Winkel, landschaftsähnliche und figürliche Anordnungen demonstrieren. Oft jedoch trügt der Schein; Visualität als Instrument der Erkenntnisfindung ist  fragwürdig.

Mit dem Begriff “Sehen” lässt sich Kunstgeschichte schreiben. Leonardo da Vinci notierte in sein Tagebuch: “Das Auge ist der universale Richter über alle Dinge”. Sogenannte Naturtreue war ab der Renaissance jahrhundertelang Maxime der Kunst. Erst im 19. Jahrhundert geriet das äussere Abbild als Wertmasstab ins Wanken und im 20. Jahrhundert fiel der Glaube an die Strukturen der äusserlichen Sichtbarkeit in sich zusammen. Der Kubismus löste das Abbild in geometrische Grundformen auf, der Expressionismus fügte ihm die psychische Geste hinzu, der Surrealismus verfremdete es durch Inhalte des Unbewussten. Das Informel zelebrierte die Ueberwindung des Abbildes, die Pop Art holte es zurück, die Konzept-Kunst unterwarf es Denk-Strukturen und die Post-Moderne öffnete das Füllhorn zum „alles ist möglich“. Dass viele Künstler am Ende des 20. Jahrhunderts den Glauben an die Gültigkeit des Visuellen verloren haben, wundert nicht.

Auch Roman Buxbaums Auseinandersetzung mit dem Thema “Sehen”  ist eine kritische Befragung der Visualität. Zwar führt uns der Künstler in vielen Werken an die Grundkonstitutiven des Sehens heran, scheint gar das Sehen durch Aesthetik zu lobpreisen, doch in der Verwandlung der Wahrnehmung in Erkenntnis wird die Lust am Hinsehen oft zum betretenem Wegsehen.

In den 80er Jahren malte Roman Buxbaum Bilder und gestaltete Objekte aus gefundenen Materialien. Das Spiel von Zeigen und Verstecken verwies bereits damals auf das Thema des Sehens (s. Katalog Malerei, 1990). Die Zweifel an der visuellen Erkenntnisfähigkeit des Menschen formulierte Buxbaum 1989/90 in Arbeiten, die sich mit Theorien zur Physiognomie befassen. Wie steht das optische Erscheinungsbild des Gesichtes mit dem Leben seines Trägers in Beziehung? Die Plakataktionen mit den nach Leopold Szondi benannten Köpfen (s. Seite ..)und die Arbeiten mit den Fotos von Verbrechern aus  dem Psysiognomiebuch „L’Homme criminel“ von Cesare Lomboroso von 1895 untersuchten das Streben der Physiognomieforschung, die visuelle Erscheinung des menschlichen Gesichts mit objektivenVermessungs-methoden zu erfassen. Auch Abbildungen von paranormalen Erscheinungen (Ausstellung „Geistesblitze“, Kunsthaus Oerlikon, 1989) dienten dem Künstler dazu, einen  Zusammenhang von Sehen und Realität zu untersuchen und die Grenzen unserer Sehfähigkeit zu befragen.

Mit der Arbeit Genio e follia (erstmals1990 in der „Galerie in Lenzburg“ installiert) führteBuxbaum  den direkten Verweis auf die Thematik des Sehens ein, indem er die Gesichter der Verbrecher durch die E-Haken des Schnellschen Sehtests, wie sie der Optiker verwendet, in ihrem  visuellen Erscheinungsbild störte (s. Katalog Color – celare, 1990).  Den Schnellschen Sehtest verwendete Buxbaum auch in einer Installation in der Münchner Galerie Mosel und Tschechow, zusammen mit weissen Blindenstöcken und Röntgenbildern  (s. Abb.  S.24/25) .Der Gedanke des Sehens respektive der Sehbehinderung ist hier auf die Spitze getrieben. Noch tiefer dringt Buxbaum jedoch mit der Verwendung der eigenen Augen in die Thematik ein. 1991  liess er von einem Ophtalmologen das Innere seiner beiden Augen fotografieren. Die Abbilder zeigen kreisförmige, orangefarbene Ausschnitte des zentralen Teils der Netzhaut des linken und rechten Augapfels auf schwarzem Grund. Je zu sehen ist auch der Gelbe Fleck – der “kostbarste Quadratmillimeter des menschlichen Körpers, der Ort des scharfen Sehens” (R.B.) –  und der Blinde Fleck, der Eintritt des Sehnervs und der Blutgefässe in den Augapfel.  Mit diesem Blick ins Auge wird der normale Sehvorgang quasi umgekehrt,  das heisst, dasHineinsehen tritt an die Stelle des Hinaussehens. Im Doppelobjekt Augenlicht(Sammlung Städtische Galerie im Lenbachhaus, München)  hat Roman Buxbaum diese Fotos 1991 erstmals eingesetzt: In grosse Beleuchtungslampen montiert  „schauten“ sie von der Decke herab. In der Kunsthalle Wil, im Centre PasquArt in Biel und in der Städtischen Galerie  Lothringerstrasse in München hat Roman Buxbaum eine Vielzahl seiner Augen in Form von Offsetdrucken bodenfüllend aufgeklebt; die Augen als Fundament. Wer in den Raum treten wollte, musste auf den Augen des Künstlers umhergehen. Die einen Besucher taten dies ohne weiteres, entzückt von der aesthetischen Wirkung der Vervielfachung und der Farben. Andere achteten darauf, nur auf die schwarzen Umrandungen zu treten und nicht „ins Auge zu gehen“. Wenige zogen sogar die Schuhe aus, um das “Seh-Feld” nicht zu verletzen. Wäre im Raum auch nur ein einziges, reales Auge ausgestellt gewesen, die allermeisten Besucher wären angeekelt zurückgetreten. Die Täuschung durch die mediatisierte Form veränderte die Wirkung.

Die Bodeninstallation In meinen Augen (s. Abb. S. 20/21 und S.27)baut auf dem Prinzip der seriellen Anordnung, das Buxbaum in vielen Arbeiten zur Anwendung bringt. Multiplikation von Gleichem beinhaltet sowohl Steigerung wie Abschwächung. Formal erreicht der Künstler eine ästhetische Intensivierung durch die ausgeprägte Symmetrie und Ordnung der Motive. Die Wahrnehmung der Bild-Inhalte wird durch die Repetition jedoch abgeschwächt. Das menschliche Nervensystem beantwortet einen  schnell wiederholten Reiz mit immer geringerer Antwort. Diese gezielt anvisierte Desensibilisierung  (wie wir sie von Kriegsbildern am Fernsehen kennen oder wie sie in übenden Verfahren in der Psychotherapie von Angstkrankheiten angewendet wird) erachtet der Künstler neben der ästhetischen Konzeption als Mittel, durch Kunst beängstigende Phänomene zu bannen. Dieses Schein-angebot an den Betrachter,  sich beruhigen zu lassen, steht in grobem Kontrast zu den verwendeten Inhaltenwie Röntgenbildern, AIDS-verseuchten  Spritzen oder Verbrechergesichtern.

Die kleinste Serie besteht aus zwei Elementen, etwa  in der Boden-Arbeit Augenlinsen, die aus zwei grossen Glaslinsen aus einem Theaterscheinwerfer und zwei Fotos besteht. Die halbkugelige Form löst beim Betrachter  spontan Wohlwollen aus; ebenso das scheinbare Erkennen der Bedeutung “Glas-Augen”. Augen üben seit Jahrtausenden eine ganz besondere Anziehungskraft aus, sie wecken die Lust, in sie hineinzusehen. In diesem Moment aber kippthier das Bild:  Die Pupillen entpuppen sich beim näheren Betrachten als die zwei kreisförmigen, schwarzen Zensurbalken eines Pornobildes; die vermeintliche Pupille deckt die Scham einer mit gespreizten Beinen auf dem Bauch liegenden Frau ab. Die Bild-Reaktionrutscht vom Kopf in den Körper hinunter – abstraktes Denken und emotionales Empfinden verschmelzen. Der Schock ist dabei ein Instrument, um aufzuzeigen, wie banal wenig Bild es braucht, um bestimmte Reize, bestimmte Vorstellungen, erotischer Natur zum Beispiel, auszulösen. Hier wird Buxbaums Arbeit auch geschlechtsspezifisch, da das erotische Empfinden der Männer wesentlich stärker auf optische Phänomene ausgerichtet ist. Die evozierten  Bilder und Gedanken in Buxbaums Arbeiten sind häufig körperhafter Natur. Ob Buxbaum von Gesichtern, Augen, Röntgenbildern,  Blindenstöcken, Drogenspritzen oder Schuhen ausgeht, meist ist ein unmittelbarer Bezug zum menschlichen Körper da – sei er nun anwesend oder abwesend. Dieses Faktum hat wohl unter anderem mit der Biographie des Künstlers zu tun respektive seiner medizinischen und   psychiatrischen Ausbildung.  Das Interesse am Menschen und seinem Körper, das ihn zu diesem Studium geführt hat, findet auch in seiner künstlerischen Arbeit Ausdruck. Für die künstlerische Rezeption bedeutet die kontinuierliche Präsenz des Körpers eine Herausforderung, denn in der Auseinandersetzung istimmer ein Stück  körpernahes “Ich” präsent, das einbezogen  – oder abgewehrt- werden muss.

Buxbaums Zweifel an der Validität des Sichtbaren haben ihn immer wieder zur Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Blindseins angeregt. Blindheit ist die extremste Verneinung von Sehen und auch die extremste Infragestellung der erkenntnistheoretischen Bedeutung des Sehens. Äusserlich ist Blindsein zweifellos eine enorme Behinderung. Aber reduziert es die Dimension des innersten Erkennens? Roman Buxbaum thematisierte die Frage in einer Installation. Aesthetik wiederum  als Mittel einsetzend, lehnte er eine Reihe von Blindenstöcken an eine Wand und darüber hängte er die gleiche Anzahl bildmässig gerahmter  Röntgenbilder, die ein sandgestrahltes, unterschiedlich grosses Sehtest-”E” im Zentrum das Rahmenglases tragen. Gegenläufiges fand so zusammen, denn sandstrahlen macht Glas blind,Blindenstöcke jedoch Sehbehinderte “sehend”. Die Schnellschen E-Haken testen die Sehfähigkeit, das Röntgenbild macht Unsichtbares sichtbar – eingerahmt sind sie jedoch unlesbar.

Sehen und Nichtsehen waren eng verwoben; die Frage nach unserer Blindheit respektive unserer Sehschärfe stand im Raum. Doch da klang noch ein anderes Thema an, das des Schicksalhaften, das unterschwellig in vielen Arbeiten  Buxbaums mitschwingt. Die Röntgenbilder stammten aus dem Archiv einer Klinik und wurden, nachdem sie ihre Aktualität verloren hatten und im Abfall gelandet waren, zum Fundstück für den Künstler. -EinRöntgenarchiv stellt eine Art Schnittpunkt vieler Schicksalsfäden dar –  es ist Treffpunkt radiologischer Körpereinsichten verschiedenster Menschen, die sich nie begegnet sind und deren einziger gemeinsamer Punkt das mehr oder minder tragische Schicksal ist, zur gleichen Zeit im gleichen Spital wegen Verdacht auf körperliche Schäden geröntgt zu werden und – seit Buxbaums künstlerischem Eingriff – schicksalshaft für immer in einem Kunstwerk miteinander verbunden zu bleiben.

Der Aspekt des Schicksals, des Tragischen und  des Komischen der conditio humana ist Roman Buxbaum sehr wichtig. Explizit kommt er im Ausstellungstitel der Bieler Ausstellung zum Ausdruck, einem leicht abgewandelten Buchtitel von Leopold Szondi: Zwang und Freiheit im Schicksal des Einzelnen. Er ist aber auch in den physiognomischen Installationen und  den neuen Ahnenarbeiten präsent. Das Moment des Nichtwissens, der Unvorhersehbarkeit stellt den Bezug zum Thema des Sehens her – die Frage nach  der Wahrnehmung erweitert sich zur Befragung der Freiheit und Selbstbestimmung des Menschen.

Zwei Arbeiten mit  Zensurbalken verdeutlichen diese enge Verbindung zwischen Wahrnehmung und Schicksal, zwischen Sehen und Gehen. Die Arbeit Augenbalken (s. Abb S.28/29 und S.31) besteht aus einer Serie von Fotografien von Gesichtern gleicher Grösse, auf denen meist nur Nasen- und Stirnpartien zu sehen sind.  Zentral auf jedem der Fotos ist ein schwarzer, rechteckiger Balken, der über die Augen gelegt ist. Es handelt sich um Zensurbalken, die aus Sexanzeigern und medizinischen Abbildungen umfotografiert sind (daher die schlechte Bildqualität und das unterschiedliche Rasterkorn). Bedeutsam ist, dass Roman Buxbaum die Zensurierungen  nicht selbst vorgenommen, sondern lediglich durch ein Vergrössern der Balken in ihrer Bedeutung akzentuiert hat.

Anders verhält es sich mit der zweiten Arbeit zum selben Thema. Es ist eine Eck-Installation mit verschiedensten, gerahmten Bildchen: Postkarten, Fotografien, Abbildungen aus Büchern. Alle Lebewesen auf den Bildern tragen Zensurbalken über den Augen. Im Gegensatz zur ersten Arbeit sind die Balken  hier vom Künstler selbst angelegt worden. Maria und Christus sind erkennbar, ein Heiliger während der Erleuchtung, ein Putenengel, ein Schaf, ein Pferd, ein Gartenzwerg, Familienbilder, Porträts, darunter dasjenige von Meret Oppenheim. Die Aufzählung zeigt, dass die Erkennbarkeit trotz der Balken gewahrt bleibt. Dennoch: Die Verunstaltung löst Irritation aus, weil der Ausdruck der Augen fehlt. Das beidseitige Nicht-Sehen-Können erweist sich somit trotz der Negation als Kraft. Zensurbalken sollen gemäss Konvention dem Persönlichkeitsschutz von Inserenten (bzw. Patienten) dienen oder wenigstens die gute Absicht des Veröffentlichers signalisieren, die Identität  seiner Klienten zu schützen. Das optische Wiedererkennen von Menschen ist indes nicht an die Sichtbarkeit der Augen gebunden; die Mund- und Nasenpartie und der übrige Kopf genügen , um ein Gesicht zu erkennen. Die Augenbalken haben somit wenig mit Identitätsschutz zu tun, vielmehr sind sie ein Bannritual, das den Betrachter schützt! Auffallend ist, dass es immer Randgruppen und mit tragischen Schicksalen Behaftete sind, die mit Zensurbalken gebrandmarkt werden: Verbrecher und ihre Opfer, Prostituierte, kranke Menschen. Die Zensur betrifft die Augen, aber auch die Genitalien, also die stärksten visuellen Gefühlszonen des Körpers. Die schwarzen Balken sind somit eigentlich Emotionszensuren , die vor dem magischen Übel schützen sollen, das durch freien Augenkontakt oder durch die Geschlechtsteile wirken könnte.

Roman Buxbaum will mit seinem künstlerischen Schaffen nicht beweisen, dass wir ausserstande sind, differenziert zu sehen. Aber er versucht die brennenden Fragen, die ihn in diesem Zusammenhang bedrängen, bildnerisch zu untersuchen. Den Rezipienten bleibt es überlassen, auf der optischen Ebene zu bleiben oder sich den existentiellen Inhalten zu nähern.