1. Newsletter III 2025
  2. „Kiss“  – Frühwerk der signapurisch-britischen Künstlerin Kim Lim (1936-1997). Portland-Stein, 1959. Teil der Ausstellung „Daiga Grantina – Notes on Kim Lim“ im Kunstmuseumn Appenzell

    Unter den Ausstellungen, die ich im letzten Monat besuchte, haben sich zwei ganz besonders eingenistet. Es sind dies die monographische Ausstellung zu Marisa Merz (1926-2019) im Kunstmuseum Bern und «Daiga Grantina – Notes on Kim Lim» in Appenzell, ein werkbezogener Dialog zwischen der singapurisch-britischen Bildhauerin Kim Lim (1936-1997) und der lettischen Künstlerin Daiga Grantina (*1985). Auf sie will ich hier primär eingehen, nicht ohne zu erwähnen, dass die Liebe zu einer Ausstellung nicht selbstverständlich ist. Denn ebenso gut könnte ich hier von meiner Enttäuschung über die Ausstellung der Afro-Amerikanerin «Precious Okoyomon» (*1993) in Bregenz erzählen oder hinterfragen, ob das Werk der lichtensteinischen «Wutfrau» Anna Jehle (1937-2000) qualitativ ausreicht, um mehr als ein zeitgeschichtliches Psychogramm zu sein.

    Zu Marisa Merz hatte ich schon immer ein besonderes Verhältnis, weil ich durch ihr Lenzburger Bürgerrecht eine fiktive Beziehung konstruierte (ich wohnte von 1971 bis 1998 in Lenzburg), kennen gelernt habe ich sie aber erst jetzt in Bern, obwohl ich bereits 1995 über ihre Ausstellung im Kunstmuseum Winterthur schrieb. http://https://annelisezwez.ch/wp-content/uploads/Marisa-Merz-1926-2019-Kunstmuseum-Winterthur-1995.pdf

  3. 1995 war Marisa Merz noch aktiv an der Gestaltung beteiligt, schuf wie immer eine Ausstellung, die – wie häufig zitiert wird – ein Werk in sich war, d.h. sie kombinierte ältere und neue Werke so, dass sie miteinander und mit dem sie umgebenden Raum ein Gespräch führten. Das tat sie vor 30 Jahren sehr radikal, sehr reduziert – so wie es der damalige Winterthurer Direktor Dieter Schwarz mochte. Das in vielerlei Hinsicht sehr persönliche Alterswerk war noch gar nicht enstanden (Merz starb erst 2019, 24 Jahre nach der Schau in Winterthur). Obwohl zum Beispiel die variabel arrangierbaren, gestrickten Kupferdraht-Vierecke mit ihren Schattenwürfen damals und heute Teil der Präsentation waren/sind, wurden sie im Kontext sehr viel abstrakter interpretiert als nun in einer Ausstellung, die der persönlichen Lebens- und Kunstvision der Künstlerin deutlich mehr Raum gewährt. Auch jetzt fehlen Merz’ Intention folgend keine Datierungen und Titel, aber es gibt zumindest eine ausführliche Biographie und darin eine gewisse chronologische Einordnungsmöglich-keit. Das spirituelle Moment im Sinne eines Joseph Beuys wird augenscheinlicher, vor allem auch durch das Spätwerk, in dem sich Merz – insbesondere nach dem Tod ihres Gatten Mario Merz (2003) – deutlicher auf die italienischen Malerei des 14./15. Jh. bezieht und ebenso auf die byzantinischen Ikonenmalerei. In sehr freien, eigenständigen, aber deutlich anteilnehmenden Bildkompositionen sind z.B. Marien-Darstellungen wiederkehrend. Und immer ist da wieder dieser Kupferdraht, mit dem sie ihre Kompositionen in übergeordnete Energie-Netzwerke einbindet.

    Die aus Ton geformten an die Grenzen der Erkennbarkeit vorangetriebenen Köpfe der 80er-Jahre gehören zu den bekanntesten Werken von Marisa Merz; sie haben auch in Bern, wo sie als eine Art Versammlung auf einzelnen Sockeln präsentiert werden, grosse Bedeutung. Eingebunden in eine Vielzahl weiterer Porträts  – u.a. ein wunderbares Konvolut von Zeichnungen –  wirkt weniger die Reduktion ihrer Form, als vielmehr ihre gleichsam in einer anderen Welt beheimatete Erscheinung; ja es ergibt sich – für mich neu – eine gewisse Zärtlichkeit, Behutsamkeit, die sich von da ausgehend überall entdecken lässt. Darüber hinaus gab es für mich auch noch eine überraschende Assoziation. In der Ausstellung ist ein Werk (diesmal datiert) von 1977 – ein rundes Tischchen mit einer eingesteckten weissen Orchidee und einem feinen Kupferdraht Gespinst drum herum. Es ist ganz klar ein Werk von Marisa Merz, aber ich konnte nicht anders als gleichzeitig an Meret Oppenheim zu denken – ein nicht benennbares, poetisches Moment verband sich für mich im Anblick.

    In Winterthur gab es seinerzeit auch ein Porträt mit Holzbalken über den Augen – ein deutlicher Hinweis auf Marisa Merz’ zuweilen der Gesellschaft gegenüber klar kritische Haltung. Diese Sicht ist in Bern – wenn ich richtig hingeschaut habe – weniger präsent. Livia Wermuth, die Berner Kuratorin der Ausstellung, die zusammen mit der Merz-Nachlass-Stiftung entstand, wollte neben dem Kontext Arte Povera, offenbar vor allem auch Marisa Merz selbst spürbar machen; das meinte ich mit der eingangs erwähnten Bemerkung, dass ich sie erst in Bern kennen gelernt hätte.

    Die Ausstellung «Notes on Kim Lim» in Appenzell besuchte ich an einem wunderschönen Sonntagmorgen. Das heisst, ich war bereit für eine stille Ausstellung, in der mir die erklärenden Worte im obligaten Kleinstbüchlein von Stefanie Gschwend zwar hilfreich waren, das Wesentliche aber wortlos zu erspüren war. Kim Lim (1936-1997) vereinte in ihrem plastischen Schaffen westliche Kunstpraxis und fernöstliches Hören auf die Stimmen der Natur.  Der Blick aus den grossen Museums-Fenstern auf die Appenzeller Landschaft war gleichsam ein Echo dazu.

  4. Kombiniert ist die Ausstellung (bis 4. Mai) mit materialsensitiven Werken der in Paris lebenden lettischen Künstlerin Daiga Grantina (*1985).

    In einem ausführlichen Mail schrieb mir die Kuratorin wie es zur Ausstellung kam, was sehr aufschlussreich ist in Bezug auf die komplexen Vernetzungen, die es zuweilen braucht, bis eine gültige Form für eine zunächst offene Idee braucht. Stefanie Gschwend war vor ihrer Wahl nach Appenzell (2022) Interimsdirektorin des Kunsthaus Biel/Bienne (Pasquart) und plante da eine Schau mit Daiga Grantina, welche Lettland 2019 in Venedig vertreten hatte,  zusammen mit Bern. Es kam anders, der Kontakt indes blieb. Sie machte Gschwend auf eine Ausstellung von Kim Lim in London aufmerksam und so entwickelte sich langsam das Konzept von einer angedachten Solo-Retrospektive zum jetzt laufenden «assoziativen» Dialog der beiden, verschiedenen Kulturen und Generationen angehörenden Künstlerinnen, was gerade durch das «Gespräch» ungemein bereichernd ist. Wie  z.B. «Kiss» von 1959 (zwei  Köpfe  aus Portland-Stein, siehe Titelbild) zeigt, wurzelt Lims Werk in der Nachkriegskunst, in welcher das Figurative immer reduzierter wird, schliesslich nurmehr Spuren von Beziehungen im Raum thematisiert. Die Transformation bei Daiga Grantina ist in einer auf mikrokosmische Naturerscheinungen  konzentrierten, vor allem aber auch durch Materialien fernab klassischer Werkstoffe (Silikon, Gewebe, Federn u.v.a.m.) begründet.  Was eine erstaunliche interdisziplinäre Verbindung schafft, ist ein poetisches Einfühlen in die Motive – seien es bei Kim Lim die Lineaturen in einem Stein, die an sanft wellendes Wasser denken lassen, seien es bei Daiga Grantina z.B. Verpuppungen respektive Ausschlüpfen von nicht näher benannten Lebensäusserungen.

    Was ebenso zum Dialoghaften beiträgt, ist das hier wie dort konstruktive Moment. Bei Kim Lim zeigt es sich in Holzskulpturen der 1970er-Jahre betont geometrisch und wird mit Raum, Wand, Boden subtil in Beziehung gebracht, bis der Weg in den 1980ern, nun deutlich wider den Mainstream, zurück führt zu andeutungsweise organischen, dennoch aber streng geordneten Skulpturen, wie z.B. in «Spiral II» (Stein), wo 7 Steine einen zum Licht hin offenen Kreis mit einer spiralförmigen Einkerbung zeigen. Bei Daiga Gratina wächst das Konstruktive entweder fast zufällig aus einer Wachstums- oder Transformationszone (vgl. «Joana’s Joy» 2024) manifestiert sich zuweilen aber auch sehr deutlich und klar. Etwa wenn Tausende von kleinen, blauen Pfauenfederchen  einen E-förmigen Balken bilden.

    Es ist immer wieder das Erkennen und das über Form und Material Hinausweisende, das in der Kombination die ganz spezielle Atmosphäre dieser wunderschönen Ausstellung ausmachen.