Vernissagerede für Eva Borner/Martin Bircher

ValiArt Bern. 02.03.2007

Sehr geehrte Damen und Herren
Liebe Eva, lieber Martin

Hand aufs Herz, gehören Sie auch zu den Menschen, die Bücher mit einem Leuchtstift in der Hand oder kleinen Post-it-Klebern in Griffnähe lesen? Wenn ja, welcher Art von Sätzen gilt ihr Interesse – Fakten, Irritationen, nicht Verstandenem oder Philosophischen, Moralischem? Ist es eher: „Heute ging die Sonne um 6 Uhr 20 auf“ oder, ähnlich und doch ganz anders: „Heute ging die Sonne auf“? Wie auch immer, ich schlage den Angesprochenen vor: Sie fügen ihrem Tun in den nächsten paar Wochen einen zweiten Schritt an: Sie halten auf ihrem Bildschirm stets ein Fenster mit www.saitensprung-online.ch offen und schreiben all das, was sie packt in die kleine, weisse Zeile auf blauem Grund, die da  für Einträge bereit ist. Achtung: 160 Zeichen maximal – das ist etwas mehr als früher bei den in der Zeichenzahl beschränkten SMS. Und noch etwas: Auch Anfänger sind eingeladen, mitzutun, vielleicht gerade nach meinen Worten, oben im Empfangsraum gibt es ja einen entsprechenden Terminal.

Sie unterstützen damit nicht nur Eva Borner und Martin Bircher, deren interaktive Installation „Das Dilemma der Einsamkeit“ oder „www.saitensprung-online.ch“ nur so wirklich funktionieren kann, sie werden sich auch viel besser an diese Sätze erinnern, weil sie sie nicht nur gelesen oder gedacht, sondern auch getippt  und abgeschickt haben. Und vielleicht laufen beim Knopfdruck auf „send“ ihre Gedanken weiter: Wem schicke ich meine Fundstücke, meine Beobachtungen, meine Betroffenheit weiter? Was heisst das, dass ich nie erfahren werde, wer meine Sätze liest?

Lesen – würde es dabei bleiben, wäre die Installation von Borner/Bircher eine literarische. Auch der Schriftsteller weiss nicht, wer seine Bücher liest und wie sich seine Sätze in den Köpfen der  Leser und Leserinnen verwandeln. Doch wir sind hier nur bedingt im Literaturclub. Es geht hier nur zum Teil um Inhaltliches, thematisiert ist viel mehr das, was sich strukturell abspielt, vom Gedanken zum Bildschirm, vom einen PC via digitale Codierung und Glasfaser-Kabel an einen andern PC, der seinerseits mit einer ganz anders verschlüsselten Gestalt in Form einer Geige mit langem (Elektro)-Schweif und seltsamem Klanginstrumentarium verbunden ist.  Was spielt sich da im wahrsten Sinne des Wortes ab?

Wir, die wir hier sind, wir können quasi hinter Platons Vorhang schauen, den Schatten austricksen und die Geige sehen, die da auf einem auf Achselhöhe schwebenden Stab fixiert ist und mit einer nie gesehenen Mechanik streichende und zupfende Klänge erzeugt. Eigenartig: Im Schattenbild können wir den weiss auf blauen Grund projizierten Text lesen, aber in der materiellen Welt der hölzernen Geige, der metallenen, filzbezogenen Bohrer und der kleinen, hellen Holzrondellen mit den weissen Widerhaken, da ist der Text spiegelverkehrt und wir können ihn nicht mehr fassen. Da hat sich irgendetwas vertauscht – der Schatten ist mit der Realität gekoppelt und das Reale mit dem Spiegel davon… Bin ich damit gemeint, die ich am PC mit meinen Fingern einen Gedanken eintippe, der hier ankommt, aber niemand weiss, wie Rumpelstilzchen heisst.

Die Musik – oder besser, diese seltsamen Klangmuster, diese melancholischen,  gedehnten Striche und diese kurzen, traurigen Staccati in Moll, sie füllen den ganzen Raum hinten und vorne, dringen in den Körper ein und lassen uns eine Art Dissonanz spüren, weniger im musikalischen Sinn als in der Struktur der Wahrnehmung. Es ist Musik, gewiss, aber Mozart ist es nicht, obwohl die Geige bei Mozart ganz wichtig ist. Neue Musik? Ja, schon eher, aber keine elektronische Musik, da sind Saiten, die mechanisch in Schwingung versetzt werden, auch wenn die Befehle an die sechs Motörchen  – es sollen Scheibenwischer-Motörchen sein, habe ich gehört – vom Computer her kommen. Welten begegnen sich.  Aber irgendwie fremd, jedenfalls nicht romantisch, obwohl die Installation visuell eigentlich eine poetische ist, eine verführerische, eine, die nach Mozart ruft, aber nicht Mozart ist. Kunst ist, wenn wir nicht ganz verstehen, wenn wir aber verstehen möchten und am Schmerz dazwischen leiden. Die Installation heisst „Das Dilemma der Einsamkeit“.

Eine Weile aufmerksam hören und wir merken, dass es nur wenige Klänge sind, die sich in unterschiedlichsten Kombinationen, Längen und Rhythmen treffen. Ich weiss nicht, ob ich  von selbst auf „Alphabet“ gekommen wäre, hätte es mir Eva Borner nicht schon im Vorfeld gesagt. Die Klänge sind, Buchstaben für Buchstaben, eine Umsetzung der via Internet eingesandten Kurz-Texte. Jeder Buchstabe hat dabei seinen längeren oder kürzeren, eine, zwei oder alle sechs Saiten beanspruchenden Code. Eva Borner hat lange daran getüftelt. Dieser praktische Aspekt gibt mir Anlass, im Folgenden ein bisschen technischer auf die Arbeit einzugehen.

Am Anfang war die Schulbank, an der Fachhochschule Aargau, in Aarau. Da waren die Basler Dekorationsgestalterin, Grafikerin und Medienkunst-Studentin Eva Borner und der um einiges jüngere Aarauer Elektromonteur, Webdesigner und ebenfalls Medienkunst-Student Martin Bircher Banknachbarn. So lag es nahe, sich für eine Semester-Arbeit zusammen zu tun. Dies wurde umso ergiebiger als sich die Fähigkeiten der beiden prima ergänzten. Sie hatte eine Vorstellung und er hatte Ideen, wie man diese umsetzen könnte. Ihr ging es um Präsenz und Absenz, um da sein und nicht da sein, um Kommunikation, die letztlich keine ist, obwohl man meint (und träumt), man sei mit der Welt verbunden. Er setzte auf das Inter-Aktive, sprach von Software und Mechanik, von Geigen und Saiten. Wenn letztendlich – Sie können sich vorstellen, dass der Weg keineswegs linear war – ein Projekt entstand, das in mehrerer Hinsicht ausserordentlich ist, so zeigt das, in welchem Mass es beides braucht – das Visionäre und das Praktische und darüber hinaus die Fähigkeit, das eine in das andere übergehen zu lassen. Hier ganz konkret darin, dass das Inter-Aktive so vorangetrieben ist, dass effektiv ein Austausch von Aktionen und Daten und Handlungsebenen stattfindet, dass es sich nicht einfach um das x-tausendste Multimedia-Projekt handelt, sondern um ein Medienprojekt im engeren Sinn. Eine Arbeit, die gleichzeitig technisch konsequent durchgearbeitet ist wie die eigene Struktur so thematisiert, dass sie von der Technik überspringt ins Gesellschaftliche, in die menschlichen Empfindungen im Kontext der wachsenden Alltäglichkeit Neuer Medien.

An der Fachhochschule seinerzeit kamen die beiden mit ihrem Projekt bis ins Stadium des Prototyps.  Das Projekt war nicht mehr als eine Andeutung dessen, was es sein könnte, sagen sie im Rückblick. Und da wäre es wohl auch stehen geblieben, wenn die Jury der ValiArt nicht das Potenzial gespürt und einen Beitrag von 20000 Franken zur Realisierung des Projektes gesprochen hätte. Medienkunst ist eine teure Kunst, umsomehr als sie der Wartung bedarf, als sie technischem Wandel unterliegt, summa summarum eher ein Kunst-Ereignis ist, als ein in der Zeit dauerndes Kunst-Produkt. Sie ist in diesem Sinn der Performance näher als der Bronze-Skulptur. Mit dem grossen Plus, dass sie eine enorme Verdichtung aufweist, im Moment, da sie stattfindet. Auch das Theater drängt sich als Vergleich auf. Das heisst aber auch, dass Medienkunst nur entstehen kann, wenn finanzielle Mittel vorhanden sind. Der Kunsttheoretiker Hans Ulrich Reck sagte schon vor langen Jahren einmal an einem Symposium in Boswil: „Mäzen ist nicht, wer Kunst kauft, Mäzen ist, wer Kunst ermöglicht.“ Ich lasse mich jetzt nicht darauf ein, was Mäzenatentum ist und was Sponsoring, doch Fakt ist, dass die Institution ValiArt mit Werkbeiträgen ermöglicht, dass Kunst entsteht und wir sie erleben dürfen.

Wie weit der Weg von einem Prototyp zu einer professionellen Installation ist, das brauche ich Eva Borner und Martin Bircher nicht mehr zu erklären, denn sie haben es intensivst erlebt in den vergangenen Monaten, wobei erschwerend dazu kam, dass Martin Bircher zur Zeit einen Lehrauftrag in Finnland hat, sodass die Grenzen der globalen Kommunikation sich nicht nur philosophisch, sondern auch ganz handfest bemerkbar machte. Oder anders ausgedrückt: Es wurde bald einmal klar, dass eine technisch derart komplexe Arbeit nur im Team mit Fachleuten professionalisiert werden kann, dass es  einen Geigenbauer, in diesem Fall Andreas Merkli in Rombach, einen Mechaniker, hier Niklaus Döbeli in Bubendorf, und einen Tontechniker, Hanspeter Gutjahr in Aarau, braucht, um nach Angaben der Kunstschaffenden die Vernetzung von Vision, Informatik, Objekt und Klang so voranzutreiben, dass die verschiedenen Ebenen im Innern wie im Äussern stimmen. Dabei sind alle ausserordentlich gefordert, denn hier gilt nicht, was für den Geigenbauer normalerweise richtig ist, hier ist nicht gesucht, was für einen Synthesizer stimmt, hier ist nicht High Tech, sondern High Tech, die mit Low Tech kompatibel ist, gesucht. Und bei allem darf vor allem eines nicht Flöten gehen – die Vision, das ständige Überdenken, ob das Konzept, die Stimmung, die Wandlung, die Assoziationen noch stimmen. Alle leisten dabei Pionierarbeit – und gerade das ist entscheidend – nicht nur für die Installation hier – sondern in einem übergeordneten Sinn, nämlich dass Kunst grundsätzlich kunstfremde Bereiche herausfordert, ein anderes Denken provoziert und dadurch über sich selbst hinaus kreativ wirkt. Man könnte sich nun aus aktuellem Anlass fragen, was die Installation bei einer Bankfachfrau respektive bei einem Bankfachmann an kreativen Lösungen auslöst, wer weiss, vielleicht werden die Kunden der Bank in den nächsten Wochen jeweils mit aktuellsten online-Satz begrüsst, auf dass die Zahlen, um die es geht, plötzlich eine ganz andere Färbung erhalten. Vielleicht kann man so gar das aktuelle Minus an den Börsen rosarot färben, wer weiss.

Spass beiseite: Eva Borner und Martin Bircher haben eine Arbeit realisiert, die  hochkomplex ist und die wir – das scheint mir wesentlich – nicht einfach mit einem kurzen Blick rundum in die Tasche stecken können, die wir vielmehr mitnehmen in den Alltag – in Gedanken noch manchmal drehen und wenden und sei es auch nur, um die Sätze zu finden, die fortan jeden Tag zu ValiArt fliegen sollen. Eines frage ich mich ernsthaft: Wann beginnen die Figuren im Zytglogge-Turm Ihre Sätze zu spielen anstelle der ihnen seit langen, langen Zeiten eingeschriebenen?

Ich danke fürs Zuhören.