Gedanken zum Kunstschaffen von Marcel Stüssi

Man muss immer aussenden

 Text für Katalog, herausgegeben von der Galerie Harry Zellweger, Basel 1992

Annelise Zwez

1987 hat Aurel Schmidt in der Basler Zeitung einen Text unter dem Titel „Auf Stüssis Spuren“ publiziert. Am Schluss schreibt er:  „Ich habe mich aufgemacht, um einen Künstler zu suchen, und ich muss am Ende gestehen, dass ich ihn nicht gefunden habe, nur seine Spur, seine Umrisse, seinen Schatten. Ein paar spärliche Anhaltspunkte, mehr nicht…. Die Frage bleibt daher weiter bestehen: Wer ist er?“

Auch fünf Jahre danach eine Herausforderung.

Doch ist es mir besser gegangen als Aurel Schmidt bei meinem Versuch, mich Marcel Stüssi zu nähern?  Wenn ich nur von den Informationen ausgehe, die mir Marcel im Gespräch in seiner etwas überheizten Atelierbehausung in der „Kaserne“  (Atelier-haus Klingental) in Basel gegeben hat, heisst die Antwort: „Nein“. Auch ich erlebte wie Marcel Fragen aufnahm, einen Moment nervös mit den Augen zwinkerte und eine Spur schneller in den Bartstoppeln fingerte und schliesslich beredt vom Persönlichen zum Allgemeinen überging. Es ist das Unausgesprochene zwischen den Zeilen, es sind die Strukturen seines Lebens, die Mechanismen seines Kunstschaffens, die mir das Eine und das Andere verraten.

Da ist zunächst das Paradox, dass sich in Marcel Stüssis Kunst im Kern alles um die eigene Existenz dreht, dass die künstle-rischen Arbeiten aber gleichzeitig darauf ausgerichtet sind, diese Existenz weitgehend abzuschirmen. Und es geht lange bis die unbewussten Spiegel zu reflektieren beginnen. „Es gibt Momente, da muss man alles Persönliche hinter sich lassen und nur noch vorwärts schauen“, sagt Marcel Stüssi. Ich denke, er verkennt dabei wohl, dass man das nicht kann, auch wenn man es sich wünscht. Da ist zum Beispiel die Frage, warum sich Marcel so intensiv mit dem zweiten Weltkrieg befasst, warum „The Drop of Berlin“ eines der am häufigsten wiederkehrenden Themen im 1988 begonnenen „Continuo“-Zyklus darstellt. Die Frage, ob dieses „Drop“ ein Lexikon-Fehler sei, beantwortet das Werk selbst, steht doch auf einem der quadratischen Kartons „The Drop (fall) of Berlin“. Er setzt das rein sprachlich falsche Wort also bewusst ein. Wie er mir später erklärt, klinge das Wort „fall“ für ihn zu deutsch, „drop“ hingegen sei klar englisch. Dieser Eigenwilligkeit im Umgang mit der Sprache steht eine analoge Freiheit in der Interpretation der geschichtlichen Ereignisse gegenüber. Dieser Eigen-Sinn geht allerdings nicht dahin, die Engländer oder Amerikaner zu den primären Befreiern Berlins zu machen. Wahrscheinlich kennt er ganz einfach die russischen Worte und die kyrillische Schrift nicht – Englisch hingegen hatte er eben bei der GGG gelernt ( die „Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige“ bietet in Basel die billigsten Englisch-Kurse an) und so ist Englisch nun als „Fremd“-Sprache geeignet, das Nicht-Deutsche, das Andere zu markieren

Damit ist die Motivation für die Thematik an sich aber noch nicht begründet. Im Kern ist sie wohl in der Biographie des 1943 in Sargans geborenen Künstlers zu suchen. Da ist zunächst die Tante in Olten, bei welcher Marcel Stüssi mehrheitlich aufgewachsen ist. „Sie war Deutsche, eine kleine untersetzte Frau mit klaren Prinzipien“, sagt Marcel, und mit verhalten liebevollem Ton fügt er an: „Sie war ein kleinbürgerliches Relikt aus dem wilhelminischen Kaiserreich.“ In ihr gründet wohl das primäre Interesse für Deutschland. Dann war es in den 60er Jahren ausserordentlich Mode, nach Israel zu fahren. Unter den Kibbuz-Touristen waren auch Marcel Stüssi und einer seiner Schulkollegen. Die jüdische Geschichte, die für unsere Gene-ration ja engstens mit dem 2. Weltkrieg verbunden ist, geht ihnen unter die Haut. Weil die beiden eben ausgelernten Bau-zeichner pleite sind, arbeiten sie ein halbes Jahr (schwarz) bei einem Architekten in Tel Aviv; ein „prägendes Erlebnis“. In den 70er Jahren schliesslich unternimmt Marcel Stüssi beim Besuch eines, inzwischen zum Bühnenbildner avancierten, Schulkollegen (aus der Malklasse von Franz Fedier) in München einen Ausflug ins ehemalige Konzentrationslager Dachau. „Genudelt“ habe ihn die Nähe zum grausamen Geschehen, sagt er.

Diese Koordinaten erklären das persönliche Interesse für den zweiten Weltkrieg, aber noch nicht die existenzielle Dimension, die ihn unablässig vorantreibt. Dass die „Continuo“- Tagebuch-Blätter keine historischen Analysen sind, zeigt sich auf den ersten Blick – so erzählfreudig Marcel Stüssi im Gespräch ist und damit auch sein breites Wissen dokumentiert, so zurückhaltend ist er im Ausdruck seiner Kunst. In den frühen 80er Jahren sind zwar zahlreiche, collageartig gemalte Bilder entstanden, die mehr Erzählerisches einschliessen als die neueren Tagebuch-Arbeiten. Aber dazwischen liegt ein Aufenthalt im aargauischen Boswil( 1986/87). Künstlerisch wird er hier zunächst aus der Bahn geworfen – die Farben der Landschaft laden zum Informel. Was er schliesslich 1988 von Boswil zurück nach Basel nimmt, ist eine um ein Vielfaches erweiterte Kenntnis zeitgenössischer Musik ( in der „Alten Kirche Boswil“ finden alljährlich Symposien für zeitgenössische Musik statt). Damals habe er erkannt, sagt er, dass unser Leben von Rhythmen bestimmt sei; der Verkehr auf den Strassen, die tägliche Arbeit, das Fernsehen, alles sei Rhythmus. Aus diesem Erlebnis kommen wohl die Impulse, der expressive Gestus der Hand oder gar das Stampfen mit eingefärbten Schuhen in den neueren Arbeiten. Die Musik ist Ausdruck ohne Worte, scheinbar ohne Preisgabe des eigenen Ich – etwas, das Marcel Stüssi zweifellos gefällt. Für die Continuo-Blätter heisst das nun, dass die wenigen Geschichtsfetzen, die als Sprache erscheinen, nur Rand-Zeichen eines rhythmisch bewegten Geschehens sind, das schliesslich in den „Drop of Berlin“, in „Hitlers End“ und viele andere Themen mündet.

Immer noch bleibt die Frage nach der innersten Triebfeder.

„Stalin ist der Retter der Schweiz“ sagt Marcel Stüssi unverhofft. Auf meine höchst erstaunte Reaktion, ergänzt Marcel, dass er denke, wenn Stalin den Deutschen nicht eine Niederlage beigebracht hätte, so wäre bald darauf gewiss auch die Schweiz germanisiert worden. Damit nannte er wohl den Kern seines zeitweise dominanten Interesses am Fall von Berlin 1945. Der Sieg der Russen hat in seinen Augen die Schweiz und damit auch ihn vor dem Niedergang gerettet. Somit ist seine persönliche Freiheit gekoppelt mit dem Fall der deutschen Hauptstadt. Das erklärt wohl die Bedeutung des Themas, das zentral oder unterschwellig in vielen Arbeiten mitschwingt, auch wenn sie gleichzeitig andere Motive, andere Zeitgeschehnisse ( vom Tod John Lennons bis zum 125-Jahr-Jubiläum des Basler Kunstvereins) mittragen. Doch wie stellt er diese Geschehnisse denn überhaupt dar? Die Worte allein sind ja noch nicht der künstlerische Ausdruck.

Man solle das Irrationale nicht unterschätzen, sagt Marcel Stüssi im Verlauf des Gesprächs. Meint er damit die expressiven Bewegungen, das Nicht-Fassbare der sich „wild“ gebärdenden Tusch- oder Farbschwünge, die nur von Wortbalken, oder auch  Collage-Einschüben in der Bild-Balance gehalten werden? Ja und Nein. Ich denke, da muss noch eine weitere Ebene sein. Eine Ebene, in der Berlin nur noch Symbol ist, Symbol für ein Chaos, eine Niederlage, die ihm letztlich den Joker zuspielt. Der Begriff Joker taucht mehrfach auf; der Joker als Garant für ein Leben in Freiheit, allen Widerwärtigkeiten des Lebens zum Trotz.

In den frühen 80er Jahren verbringt Marcel Stüssi viel Zeit in den Basler Bibliotheken. Seine Forschungen gelten immer wieder geschichtlichen Figuren – oft aus Basel – , die aus irgend einem Grund „unter die Räder“ gekommen sind, vielleicht weil sie das Falsche zur falschen Zeit gedacht oder gar veröffentlicht haben. Dass ihre Geschichten, ihre Gedanken, ihre Bücher heute noch greifbar sind, beweist ihr zumindest literarisches und geschichtliches Ueberleben.

Sind das nicht zwei Ebenen, die übereinanderliegen – die des Jokers im Chaos und die der Werke, die trotz allem überleben? In einer Vernissageansprache hat Dr.Werner Brönnimann einmal von der „existentiellen Dokumentationswut“ von Marcel Stüssi gesprochen und damit wohl den Nagel auf den Kopf getroffen. Denn ist es nicht so, dass unsere gesamte Welt mit ihrem rasenden Wandel, ihrem gehetzten Rhythmus, ein Chaos ist, das uns täglich zu verschlingen droht? Marcel Stüssi versucht es zu bannen indem er filmt, fotografiert, malt, schreibt, collagiert und fotokopiert und alles feinsäuberlich aufbewahrt. Sodass später einmal seine Spuren wiedergefunden werden können. Auch wenn er jetzt nicht eben auf der Sonnenseite des Lebens wohnt.

Und so ist er denn ständig unterwegs, seine Zeichen zu setzen, das Ich und die Welt zu verknüpfen. Die ausgedehnte „Mail-Art“, die ihn seit Jahren mit Menschen aus vielen Ländern verbin-det, die  ganze filmische Produktion, die schon 1973 einsetzt, gehört hier genannt. Auch die Technik der Collage, die ursprünglich in der Dada-Zeit aufkam, gehört mit zum Versuch von Marcel Stüssi, die Akzeleration der Zeit einzufangen. Wer die Dokumentation von Marcel Stüssis Auftritten ( in Ausstellungen, an Videoveranstaltungen, in Zeitungen etc.) liest, kann denken, er habe es mit einem weltberühmten Künstler zu tun. Nichts darf bei Marcel Stüssi verloren gehen – Verlorenes wäre ein Stück Verlust der eigenen Identität. Darum wohl hat er Beuys Satz „Man muss immer aussenden“ zu einem seiner Leitsätze gemacht. Er tut dies nicht mit Arroganz oder Agressivität, sondern mit Beharrlich-keit: „Es ist wie im Sport, nach einem Fehlstart musst Du wieder starten“ – ein schöner Satz. Er begründet nicht nur Marcel Stüssis bewunderswertes Durchsteh-Vermögen, sondern auch seine Einstellung zur Gesellschaft. Marcel Stüssi ist zweifellos ein Aussenseiter, aber eigentlich ein unfreiwilliger. Marcel Stüssi ist kein Weltverachter, kein Revolutionär und auch kein Clochard. Er bemüht sich auf eine im Kern faszinierende Art und Weise, mit seinen oft querliegenden Ideen in der Gesellschaft zu stehen, immer wieder zu versuchen, in dieser Welt zu Anerkennung zu gelangen. Seine besten künstlerischen Werke entstehen indes dann, wenn es ihm gelingt, ganz sich selbst zu sein. Wenn er sich – zum Beispiel im Rahmen von öffentlichen Wettbewerben – zu stark anzupassen versucht, dann kann es sein, dass das Besondere verloren geht.

Marcel Stüssi ist schon oft „wieder gestartet“ – sein Werk hat keine formale Kohärenz. Es ist die Wesensart des Künstlers selbst, die den roten Faden in sich trägt.In einem weitgespannten Text „Ueber Kunst“ äussert sich  Marcel Stüssi dazu:“In der Kunst gibt es seltsamerweise Leute, welche das ganze Leben lang immer dasselbe tun wollen, ja sogar tun. Dies beeindruckt viele Leute. Ich jedoch vertrete eine Meinung, welche dem Gegenteil entspricht. Ich finde, auch der Künstler muss fähig sein, sich zu verändern. Dies ist, bezogen auf das, was ringsum passiert wahrscheinlich eine viel positivere Haltung. Sie ergibt sich sowohl aus der Art zu denken, als aus der Arbeit selbst.“ Der kleine Abschnitt ist insofern typisch für Marcel Stüssi als er in grosser Distanz zu ihm selbst geschrieben ist und doch ein Bekenntnis beinhaltet, das sein Kunstschaffen bestimmt. Mitte/Ende der 70er Jahre zum Beispiel fotografierte Marcel Stüssi vor allem. Seine Beziehung zur Fotografie geht bis in die Jugendzeit in Olten zurück. Sein Onkel hatte daselbst eine Fotogeschäft – „Fotografieren war damals noch eine Kunst“ (M.S.). Dass da auch für Marcel kleine Hilfsarbeiten und Botengänge anfielen, war für diese Generation noch selbstverständlich. Allerdings versteht sich Marcel Stüssi später nie als Fotograf, sondern stets als fotografierender Künstler.

1974/75 weilte Marcel Stüssi im Basler Atelier der Cité Internationale in Paris. Einem Tourist gleich machte er sich daran, die grossen Monumente zu fotografieren. Er tat dies nie nur einmal, sondern immer gleich einen ganzen Film lang. Das Ich und Notre Dame, das Ich und Sacré Coeur massen sich gegenseitig. Er präsentierte schliesslich auch nicht Einzelfotos, sondern ganze Bögen mit demselben Motiv. Allerdings veränderte er zuvor im Labor die Negative. Er überlagerte das Abgebildete mit expressiven Linien, einer ungegenständlichen Schrift gleich. Die Stadt und die Künstlerhandschrift verwoben sich. Heute gibt es längst Kameras, die ein Motiv in kürzester Zeit zehn-, zwangzigmal fotografieren. Bei Marcel Stüssi ging das damals noch langsam vor sich, vielleicht einen halben Tag. Und so tragen die Fotos auch das Gesehen dieser Zeit in sich: Menschen, die kommen und gehen, Autos, die vorüberfahren usw. Eigentlich war das für Stüssi damals ein Nebeneffekt, doch ein wichtiger, wie er selbst später erkannte. 1977 erhielt er für diese fotografischen Arbeiten ein Eidgenössisches Stipendium. Ansonsten passierte wenig. Marcel Stüssi konnte weder die Arbeiten noch sich selbst „verkaufen“. So kommt es, dass die Fotoarbeiten heute noch fast komplett vorhanden sind, fein säuberlich in grossen Schachteln aufbewahrt. Und wer sie heute sieht, ist verblüfft ob der Qualität, ob der Konsequenz, mit welcher Stüssi seine damalige Idee verwirklicht hat. Die Zeit hat sie eingeholt. Dasselbe gilt unter anderem für ähnlich konzepthafte Arbeiten mit ornamental angelegten Zahlenreihen. Oder auch für die geometrischen Arbeiten der späten 60er Jahre, in die er, in gewissem Sinn analog zum „Drop of Berlin“, Initialen eingewoben hat, zum Beispiel J.F.K ( John F. Kennedy).

So erlebt Marcel Stüssi heute schon ein bisschen, wovon er im Kern träumt – nämlich, dass man irgendwann sein Tun anerkennen wird, dass ein beharrliches Künstlersein nicht vergeblich gewesen sein wird. Im Moment jedoch trifft das zwischen 1982 und 1988 enstandene filmische Selbstporträt, das den Künstler flashartig erscheinen und wieder verschwinden, ihn nirgendwo greifbar werden lässt, noch sehr viel mehr auf seine Lebensgegenwart zu. Dass er in dieses Porträt einen Laurel- und Hardy-Film, das er zufällig in einer Baumulde fand, integrierte,  zeigt, dass Marcel Stüssi letztlich seine Rolle in der Gesellschaft besser kennt als wir vermutlich meinen und er je in Worte fassen würde.