www.annelisezwez.ch  Annelise Zwez in Kunstzeitschrift artis 6_1992

Die weibliche Figur – Skulpturen und Tuschzeichnungen von Rudolf Blättler in der Galerie Elisabeth Staffelbach in Lenzburg März/April 1992

Rudolf Blättler ( geb. 1941 in Kehrsiten/ NW) war in den späten 60er Jahren Schüler an der Kunstgewerbeschule Luzern; in jener Zeit also, da in der Innerschweizer Kunstszene sehr viel aufbrach und zwar – wohl der voralpinen Befindlichkeit der Region entsprechend – meist nach innen. Wenig später wurde der Begriff der „Innerschweizer Innerlichkeit“ geprägt. Mit diesem Keim in sich brach der Bildhauer 1968 aus der Enge aus. Er ging zunächst nach Wien, dann nach Rom, war in Polen, in Russland, reiste in die USA, nach Mexiko, Peru, kehrt e1976 in die Schweiz zurück, stellte, wie fast alle wichtigen Künstler(innen) der „Neuen Innerlichkeit“ in der Galerie Raeber in Luzern aus ( 74/77), brach noch einmal auf, diesmal nach Griechenland, bevor er 1978 definitiv nach Luzern zurückkehrte.

Es steht ausser Zweifel, dass die erdverbundene Mystik indianischer Kulturen sowie die Auseinandersetzung mit Vulkanen als erdöffnenden, landschaftsverändernden Gewalten ein starkes Echo auslösten. Das Erdinnere wurde für den Künstler zum Schoss des Lebens, die Grenzzone zum Feld der künstlerischen Gestaltung. Es entstanden unter anderem von der Erde ausgeformte Lippen, dunkle Räume mit ungeborenem, zweigeschlechtlichem Leben ( Gips patiniert, Blei). 1981 zeigtedas Kunstmuseum Luzern das „Schwarze Haus“, 1982 stellte Rudolf Blättler im Rahmen der Freilichtausstellung „Natur und Kunst“ (Veranstalterin: Galerie in Lenzburg) den „Horchenden“ – ein zwei geschlechtlich ausgeprägter Kopf, der, seitlich liegend und Nord/Süd ausgerichtet, in die Erde hineinhorcht ) aus. 1983 entstand der 3 x 3 Meter grosse „Ubinas“ für Beckenried – ein wulstiger bis zu den Lippen aus der Erde ragender Kopf aus Bronze. 1983 zeigte das Kunstmuseum Olten Arbeiten auf Papier und wenige Skulpturen. 1986 veranstaltete das Kunstmuseum Schaffhausen eine Einzelausstellung. In der Folge setzten seine mächtigen „Weiber“ starke Akzente in den grossen Freilichtausstellungen ( Bex, Motiers, Luzern, Cham, Baden etc.), markieren – nicht ohne Skandale auszulösen – öffentliche Plätze ( unter anderem in Wil, Zug, Luzern).

Von 1983 bis 1990/91 dominierte in Rudolf Blättlers Werk das Weibliche – das Ur-Weibliche im Sinne der „Grossen Mutter“, der lebensspendenden Erdgöttin. Gleichzeitig waren und sind die stehenden und liegenden, im Laufe der Zeit immer mächtiger werdenden und immer wuchtiger ausgeformten „Dreiweiber“ auch von kraftvoller Männersinnlichkeit geprägte Projektionen; Sinn-Bilder der Fruchtbarkeit, Sinnbilder von Lebenskraft .

Die zweite Einzelausstellung von Rudolf Blättler in der Galerie in Lenzburg ( März/April 1992) signalisierte eine Wende. Da erinnerte das hockendeWeib mit dem aufrechten Kopf und den körperumrundenden, überlangen Armen zwar noch an die mystische Erdgöttin. Doch im Zentrum stand eine liegende, weibliche Figur mit mächtig ausgeformten, angezogenen Knien und riesigen, runden Brüsten, die als Senkrechte zwischen Brüsten und Beinen eine kleine, männliche, erregte Figur birgt. Das Feld möglicher Interpretationen ist breit – es reicht von Geburt bis Tod, von Angst und Schutzsuche respektive Schutzgewährung bis zu sinnlicher Lust. Es zeigte sich an dieser Bronze-Figur, wie unterschiedlich Männer und Frauen in diesem Fall auf Kunst reagierten. Frauen identifizierten sich unbewusst sogleich mit der weiblichen Figur und diese strahlt in ihrer Erdverbundenheit und ihre Fülle Sicherheit und Kraft aus. Der Blickwinkel der Interpretation wurde dadurch geprägt – das Moment der Angst zum Beispiel fiel weg, während es bei Männern, die sich analog mit der kleinen, eingeengten,männlichen Figur identifizierten, als erste Reaktion dominant war.

Im gedanklichen Objektivierungsprozess löste sich die Skulptur von der direkten Verflechtung mit dem jeweiligen Ich, doch im Untergrund war sie nicht löschbar. Was hier augenfällig aufschien, ist ein weitgehend unerforschtes kunstgeschichtliches Rezeptionsthema. Es zog sich in der Lenzburger Ausstellung weiter zu einer, ähnlich wie die „Dreiweiber“ auf einem Sockel präsentierten, bronzenen Mann/Frau-Skulptur, bei welcher sich der Mann mit überlangen, schweren Armen über die Schultern der Frau hängt, und gleichzeitig ihre Schamgegend befühlt.Trotz dem durch die übergrossen Füsse markierten Erdkontakt beider Figuren ist die „Stehkraft“ und die „Tragkraft“ der Frau zugeordnet. Nach dem bereits skizzierten Identifikationsmuster waren auch hier Reaktion und Interpretation geschlechtsspezifisch.

Eine weitere, 1991/92 entstandene Kopf-Skulptur mit dem Titel „Mensch“ – also weder Frau noch Mann – verwies in der Ausstellung auf eine sich ausfächernde Thematik wie sie auch in den zahlreichen Tusch-Pinselzeichnungen zum Ausdruck kam.