Vernissagerede für Odile Petitpierre, anlässlich ihrer Ausstellung in der Galerie Twerenbold in Luzern, 17. September 1993

 Von Annelise Zwez

Sehr geehrte Damen und Herren

Odile Petitpierre weilte von August 1992 bis Januar 1993 in Paraguay. Paraguay? An was denken wir? Vielleicht an Südamerika, an Indianer, Spanier, an die Jesuiten, an Stroessner – oder eben nicht mehr Stroessner. An Korruption, an Drogen, an Armut. An saftige Vegetation und verstepptes Land. In der Ausstellung eines Malers aus dem 16. oder 17. Jahrhundert – aus der Zeit als die Künstler mit dem grossen Expeditionen unterwegs waren – würden wir hier das Land in akribischen Zeichnungen, in denen sich die Realität und der Wissensstand der Zeit spiegeln, kennenlernen. In der Ausstellung eines Malers des späten 19. oder frühen 20. Jahrhunderts – oder auch eines rückwärts orientierten, heutigen Malers – würden wir Paraguay als atmosphärische Schilderung von Land und Leuten finden.

Und heute, hier? Wenn ich Ihnen nicht erzählte, dass der Grossteil dieser Bilder und Keramiken während oder aufgrund eines Aufenthaltes in Paraguay entstanden ist – sie würden es nicht merken. Zwar weisen die satten Farben auf Lichtverhältnisse und wohl auch auf volkskundliche Traditionen, die nicht zum Bild der Schweiz gehören. Und auch die da und dort fassbare, üppige Vegetation weist auf eine andere Natur. Auch der durch die Raku-Technik schwarz erscheinende Ton enthält ein  Moment, das auf Fremde weist, sei sie nun geographischer oder zeitlicher Natur. Die christliche Ikonographie, die in einzelnen Bildern erscheint, gibt indes ein eigenartiges, verbindendes Moment.

Ein Mehr an Information fassbarer Art wird von der Künstlerin nicht angestrebt. Das Reportagehafte ist Aufgabe von Film und Fotografie. Dennoch enthalten die Arbeiten von Odile Petitpierre erzählerische Momente. Es geht dabei aber nicht um Aeusseres, Abbildhaftes, sondern um die Visualisierung von Erlebnisqualität. Nicht das Sichtbare an sich ist interessant, sondern, das, was es im Menschen auslöst. Anders ausgedrückt: Nicht das Objektive steht im Mittelpunkt, sondern das Subjektive. Das heisst, das von der persönlichen Empfindung geprägte.  Und das wiederum beinhaltet, dass sich das Aeussere – in diesem Fall die Reise nach Paraguay – mit allem mischt, was bereits im Menschen vorhanden ist – und das ist mehr als wir bewusst wissen. Es heisst auch, dass wir alles, was in uns ist, stets mitnehmen. Das gilt ebenso für die Künstlerin, wie für uns, die wir ihre bildnerische Arbeit betrachten. So ist es möglich, dass die stilistische Darstellungsweise von Odile Petitpierre für uns gleichzeitig Fremdes wie Vertrautes beinhaltet. Und zwar auf zwei Ebenen:

Zunächst eine äussere, quasi in der Zeit enthaltene. Odile Petipierre ist zwar  – ihr Name verrät es – keine Innerschweizerin. Sie kam seinerzeit als kleine Tochter eines Neuenburger Vaters und einer Appenzeller Mutter in die Region. Aber – und das ist halt doch prägend – sie hat in den für Luzern künstlerisch äusserst wichtigen 70er Jahren hier die Schule für Gestaltung besucht. Zu jener Zeit also, da an der Schule wichtige Vertreter der sogenannten „Innerschweizer Innerlichkeit“ unterrichteten. Zu jener Zeit auch, da man in der ganzen Schweiz von der Kunst der Region sprach und hier auch wichtige Ausstellungen – ich denke dabei nicht nur ans Kunsthaus, sondern zum Beispiel auch an die Galerie von Beni Raeber – stattfanden. Dieser Atmosphäre konnten sich kaum jemand entziehen.  Und so gibt es – schwer zu formulieren – irgendein Fluidum, dass die Künstler und Künstlerinnen, die von dieser Zeit geprägt sind, miteinander verbindet. Das ist positiv und negativ zugleich; schwierig vor allem für jene, die erst relativ spät damit an die Oeffentlichkeit getreten sind. Odile Petipierre ist nicht mit fliegenden Fahnen in diese Kunstszene eingefahren. Als Nicht-Stadtluzernerin, als Nicht-Katholikin und als Nicht-Mann standen ihr dazu neben charakterlichen Strukturen nicht zu unterschätzende, gesellschaftliche Barrieren im Weg.

Sie ging weg und unterrichtete bis 1982 an der Kantonsschule in Chur. Da war aber etwas Unerfülltes in ihr. So ging sie erneut weg. Diesmal nach Italien, wo sie bis 1985 das Istituto d’Arte per la Ceramica in Faenza besuchte. Als Zeichenlehrerin, als Malerin und als Keramikerin kam sie 1986 in die Region Innerschweiz zurück. Doch wieder fand sie sich in einer Randposition gegenüber der Kunstzsene. Diesmal war es das Stichwort „Keramik“, das ausgrenzte. Ich kann bis heute nicht nachvollziehen, warum Gestaltung aus Ton – oder auch aus textilem oder papierenem Material – a priori Nicht-Kunst sein soll. Ich kann auch nicht begreifen, warum ein Maler, der sich eine Leinwand als Grundform nimmt, sogenannt „freie“ Kunst schafft, während eine Keramikerin, die ein Gefäss als Grundstruktur schafft, „angewandte“ – und damit zweitrangige – Kunst schafft. Was zählt ist doch einzig und allein die Qualität und das wiederum heisst: Eigenständigkeit und Echtheit.

Ich breche diesen Diskurs hier ab, da Odile Petitpierre mit dieser Ausstellung zeigt, dass es für sie zwei Aeusserungsformen gibt – die eine tatsächlich und bewusst „angewandt“ – diese ist heute nicht hier – die andere in sich selbst ruhend. Dass dies nicht gleichbedeutend ist mit Keramik dort und Malerei hier, scheint mir äusserst wichtig. Denn – und da bin ich jetzt sehr subjektiv im bereits genannten Sinn – mir scheint, dass es Odile Petitpierre gerade in den Keramiken gelingt, zwei Ebenen zusammenzuführen, die etwas Neues entstehen lassen. Es ist bekannt, dass der Ton für sehr viele Frauen etwas äusserst Faszinierendes ausstrahlt und es verwundert darum auch nicht, dass es primär Künstlerinnen sind, denen es gerade heute endlich gelingt, die verkrustete Trennlinie von der ich gesprochen habe, zu durchbrechen. Leiko Ikemura, Marianne Geiger, Dorothee Sauter – sie alle sind in den letzten Monaten mit freien Keramik-Arbeiten in Schweizer Museen aufgetaucht. Da gelingt es Künstlerinnen, ihre besondere Beziehung zum Material – eine Beziehung, die eher ein „Gespräch“ als ein Gefügigmachen ist – umzusetzen in Formen, welche die Eigenschaften des Materials bewusst einbeziehen.

Odile Petitpierres Keramiken sind  – glücklicherweise – nicht linear in die genannte Reihe zu setzen, aber sie beinhalten auch eine Aeusserungsform, die mit allem Gängigen nichts zu tun hat. Sie sind nicht Keramik mit dekorativer Malerei, sondern Keramik und Malerei in einem. Das heisst die Formen der Malerei sind die Formen der Keramik und weil die Eigenschaften des Tons das Offene, das Hohle erlauben, sind sie auch Gefäss oder vielleicht auch Haus oder Fenster oder Tor. Wenn Sie die Acryl-Arbeiten auf Papier mit dem Keramikobjekten vergleichen, so fällt Ihnen sicherlich Verwandtschaft auf. Da ist dieselbe Spannung zwischen Architektur und Innenleben, derselbe Kontrast zwischen Statischem und Lebendig-Bewegtem, dasselbe Neben- und Ineinander von Stein oder Erde und Pflanzen oder Figuren.

Im Gespräch weiss Odile Petitpierre sehr oft zu erzählen, welche Beobachtung zum einen oder anderen Bild geführt hat – von Hütten und Verkaufsständen, von Kirchen, Gärten, von Flüssen und Booten ist dabei die Rede. Diese Dinge in den Bildern zu suchen, um das Dargestellte zu finden, wäre indes eine falsche Annäherung. Denn im Wandel vom Optischen zum Gemalten findet auch eine inhaltliche Wandlung statt – vom Aeusseren zum Inneren oder vom Sichtbaren zum Symbolischen. Es ist ein faszinierendes Phänomen, dass wir alle auf Bilder reagieren, die uns betreffen. Je präziser wir die Formen und Farben eines uns, in fast wörtlichem Sinn, ansprechenden Bildes zu analysieren beginnen, desto mehr können wir erkennen, wie sehr wir dabei auf ein Bild unserer Selbst oder Facetten unseres Selbst – Selbst im Sinne C.G. Jungs – gestossen sind. Und das, was wir als Betrachtende erleben, gilt natürlich – und noch in viel ausgeprägterem Masse – für eine Künstlerin wie Odile Petitpierre, die in einem Text einmal geschrieben hat, der Massstab für ihre Bilder sei die Intuition, also das spontane Wissen um eine Beziehung zwischen dem aeusseren Bild und der inneren Befindlichkeit.

Demnach können wir Odile Petitpierres Bilder trotz ihrem Rückhalt im Erlebnis Paraguay  als Empfindungsbilder der Künstlerin selbst lesen. Das ist die zweite, die innere Ebene, in der wir in Odile Petitpierres Kunst Fremdes und Vertrautes finden. Sie erinnern sich: Ich habe das Klima Luzerns in den 70er Jahren als die erste und äussere Ebene genannt. Die Symbole in den Bildern sind im Kern oft sehr einfach, aber sie haben tausend Gesichter. Nur zwei Aspekte mag ich hier herausschälen: das Gerüst oder Haus und das Blatt. In vielen Bildern – und ich meine dabei jetzt primär die Arbeiten auf Papier – erkennen wir ordnende Strukturen – Stelen, fensterartige Oeffnungen, Tische, Tore, Höhlen, Wände, die Räume nach innen oder aussen begrenzen. Wenn wir  an unser Leben oder auch an unseren Körper denken, so können wir auch da solche Trenn- oder Stützmauern oder -gerüste erkennen. Was wären wir ohne Skelett, was wäre Freiheit ohne schützenden Raum. Diese Strukturen finden wir nicht nur bei Odile Petitpierre, sondern bei vielen Künstlerinnen und Künstlern.

Entscheidend ist, dass diese Symbolik hier nicht einengend erscheint. Die Assoziation „Käfig“ stellt sich – für mich zumindest – nicht ein. Da ist vielmehr ein ständiges Suchen nach Gleichgewicht – ein Gleichgewicht, das ohne strenge Geometrie auskommt, sich quasi von innen heraus formt. Diesselbe Struktur finden wir – noch ausgeprägter – in den Keramiken, die ihre Chance, dreidimensional zu sein, voll ausschöpfen. Das Räumliche aber auch die Andersartigkeit von Hinten und Vorne wird als gestalterische Möglichkeit eingesetzt. Und gerade weil  Objekte greifbar sind – in den Bildern ist ja jede Dreidimensionalität nur eine Vorstellung in unserem Kopf – wird hier die Spannung zwischen Geradem und Gerundetem, Gebautem und Gewachsenem, zwischen Aussen und Innen, zwischen schwarzem Ton und verhaltener Farbigkeit so eindrücklich erfahrbar. Die Spannung ist hier auch in der Technik enthalten. Wir sehen das schon am Gestaltungsprozess – der Ton wir mit beiden Händen bearbeitet, aus Körper wird Körper, im Gegensatz zur Malerei, wo der Pinsel, oder auch die Kreide, der Bleistift, ein Zwischenmedium darstellt, das Befehle ausführt.

Und verstärkt erscheint diese Spannung  dann noch in der Raku-Technik, wenn die glühend-heissen Objekte in einer Schock-Therapie vom Feuer in den Sand gelegt werden und da in einen chemischen Prozess dunkel werden. Da wird das Lebendige, Expressive blitzartig zum Festen, nicht mehr Verformbaren, wobei auch die Gefahr des Zerfallens dazu gehört. Die Symbolik von Haus, Gerüst, Ordnung ist zweifellos eine Allgemeingültige; es ist jedoch beobachtbar, dass Künstlerinnen das Haus – und zwar sowohl das zum Haus zum darin Wohnen wie das Haus – der Körper – zum darin Leben immer wieder als Ich-Zeichen und damit als weibliches Zeichen einsetzen. Ich denke zum Beispiel an Louise Bourgeois oder Miriam Cahn. Der zweite Aspekt ist diesem Weiblichen sehr viel deutlicher zugeordnet. Das ovale Blatt, das oft auch einfach als abstraktes Oval erscheint, ist sowohl als feste Form wie auch als Oeffnung eine Urform des Weiblichen. Es einseitig mit Sexualität oder Fortpflanzung in Verbindung zu bringen ist falsch. Diese Prägung kommt deutlich aus dem männlichen Blick. Wenn das Oval im weitesten Sinn auch in der Kunst von Frauen ein sehr grosse Rolle spielt, so aus der Fülle und der Ganzheit der Empfindung der eigenen, weiblichen Identität. Ich hoffe, Ich habe Ihnen etwas Lust vermittelt, die Kunst von Odile Petitpierre nun für sich zu befragen. Ich danke fürs Zuhören.