Vernissagerede für Simone Bonzon und Anneliese Dorer anlässlich ihrer Ausstellung im „Alten Schützenhaus“ in Zofingen, 1. Mai 1993

 Annelise Zwez

Sehr geehrte Damen und Herren

Heute ist 1. Mai – Tag der Arbeit. Wenn wir mal alles Politische weglassen, kann es durchaus symbolisch sein, wenn wir gerade heute eine Ausstellung mit Werken von Anneliese Dorer und Simone Bonzon eröffnen. Denn für beide Künstlerinnen ist Arbeit als Prozess des Kunst Findens sehr wichtig.  Wenn man Simone Bonzon zuhört wie sie mit innerer Anteilnahme von den Farb-Lasuren spricht, die sich langsam zum Bild verdichten; wenn man Anneliese Dorer zuhört, wie sie den Weg vom Tonmodell zur Bronce-Skulptur beschreibt, dann ist da die Liebe zum „Können“, zum „Wissen wie“ deutlich spürbar. Ueber ein sorgfältiges Beherrschen des Métiers – einst an den Kunstgewerbeschulen von Genf respektive Zürich erworben – darf man die Werke der beiden Künstlerinnen indes nicht zusammenbinden.

Gewiss, da ist noch die mehr oder weniger gemeinsame Generation. Eine Generation, in welcher die Künstlerinnen noch sehr deutlich in der Minderzahl sind und welche lange Zeit kaum von einem fördernden Zeitgeist getragen wurde. Sowohl Simone Bonzon wie Anneliese Dorer haben dieses nicht zu unterschätzende Handicap gemeistert indem sie ihr Künstlerinnendasein stets als Berufsdasein betrachteten und Auftragsarbeiten – auch Wettbewerbsarbeiten – genauso engagiert angingen wie ihre freischöpferische Tätigkeit. Es entbehrt indes nicht einer gewissen Tragik, dass ihr freies Schaffen heute, da den Künstlerinnen grössere Beachtung geschenkt wird, von der inzwischen weit jüngeren Kunst-Offizialität unreflektiert als „traditionell“ abqualifiziert wird.

Doch wir wollen heute nicht in Kulturkritik machen – den Zofingern wird eh „gschmuech“ wenn ich – in ihren Ohren – feministische Töne anschlage. Versuchen wir stattdessen, das Spezifische der beiden künstlerischen Ausdrucksformen herauszuschälen.

Anneliese Dorer ist eine temperamentvolle, fröhliche, hilfsbereite, wache und vife Frau. Die 20 Jahre zwischen uns waren im Gespräch, das wir im Vorfeld dieser Ausstellung miteinander geführt haben, kaum spürbar. Und doch sind sie wichtig, denn Anneliese Dorer wurde in ihrer Ausbildungszeit in Zürich und dann vor allem im Tessin, später auch in Florenz von der Nachkriegszeit geprägt. Von der Zeit, da die Kunst nicht nur in Paris, sondern auch bei uns Grenzen zu sprengen begann. Aber eben: „begann“.

Es ist für mich erstaunlich, dass die Künstlerin heute noch in jedem Gespräch über ihre Kunst von ihren Lehrern, insbesondere dem Tessiner Bildhauer Remo Rossi, spricht. Und man hat den Eindruck, die Erlebnisse seien taufrisch. Gewiss, die Erinnerungen sind sehr stark technischer Natur und in der Anwendung sind sie bis heute gültig. Und doch irritiert mich das; wahrscheinlich weil ich spüre, dass es sehr viel aussagt. Nämlich, dass diese Ausbildungszeit eine überaus glückliche und anregende war, die später im Aargauer Klima nicht im selben Mass Forsetzung fand, aus welchen Gründen auch immer. Zwar hat sich das Werk Anneliese Dorers im Laufe der Jahre zweifellos entwickelt, doch kunstgeschichtlich gesehen blieben die 50er Jahre einflussprägend.

Vermutlich ist die kunstgeschichtliche Annäherung – wie bei vielen Künstlerinnen – ganz einfach nicht die richtige. Unter den Vorbildern Anneliese Dorers figuriert Henry Moore an 1. Stelle. Warum? Henry Moore hat u.a. grandiose weibliche Figuren-Landschaften geformt. Im Gegensatz zu vielen anderen, männlichen Weiblichkeits-Projektionen formte er die Körper nicht primär geschlechtlich, sondern zärtlich, weich, gefühlsbetont, als seine eigene Anima. Und das mag der Grund sein, warum Henry Moore bei vielen Künstlerinnen Entscheidendes ausgelöst hat. Die Identifikation mit seinen Figuren war und ist für Künstlerinnen eine positive. Und weil sich Frauen ganz allgemein sehr viel stärker über Identifikationen finden als über Projektionen, konnte und kann Moores Empfinden auf Künstlerinnen sehr anregend wirken. Was – wie wir in dieser Ausstellung hier sehen – nicht heissen muss, dass dann Plagiate entstehen.

Ich erwähnte eingangs, dass für Anneliese Dorer das Hand-Werk sehr wichtig sei. Das ist mindestens doppelt zu verstehen. Zum einen ist jeder Schöpfungsprozess ein Gebärprozess und während sich dieser bei den einen eher intellektuell äussert, findet er bei Anneliese Dorer und vielen anderen im hand-werklichen Wandel von Form und Materie statt. Die Hand kann indes sehr Vieles, Positives und Negatives. Sie kann unter anderem Form geben, aber sie kann auch streicheln oder Sinnlichkeit empfinden. Diese Elemente schwingen bei Anneliese Dorer im Gleichklang. Ihr Formen ist immer auch ein Streicheln. Nachvollziehen kann dies eigentlich nur, wer ihre Skulpturen be-greift, die Rundungen in der Hand fühlt, merkt wie sie in die Handform passen, wie die Einkerbungen und auch die weichen Drehungen als Daumen-Striche erfahrbar sind.

Einer Skulptur von Anneliese Dorer mag eine figürliche oder eine abstrakte Idee zu Grunde liegen, das Entscheidende bei der Umsetzung geschieht jedoch mit der Hand, im Spüren der – eigenen – Körperlichkeit, im Spiel mit dem Empfinden für künstlerisch-aesthetische Gestalt. Als Kunstkritikerin bin ich gewohnt, nach intellektuellen Reflektionen zu forschen , doch ich habe schnell gemerkt, dass ich hier damit nicht weiterkomme. Kunst schaffen beruht bei Anneliese Dorer auf der Basis einer Grundidee so stark auf intuitivem und auch körperlichem Eingehen auf die Gestalt-Vision, dass letztlich die Hände die Arbeiten besser verstehen als der Kopf. Wobei – dies in dieser Ausstellung nur nebenbei – in dieser Fähigkeit, Form zu sehen und gleichzeitig zu spüren, wohl auch Anneliese Dorers ausserordentliches Porträtier-Talent enthalten ist.

Diese Gedanken zu den Skulpturen lassen sich nicht einfach so auf die Bilder von Simone Bonzon übertragen. Die  innere Vorstellung eines Bildes spielt hier eine wesentlich grössere Rolle und das Bemühen konzentriert sich darauf, die Vision so facettenreich wie sie in der Vorstellungswelt existiert ins Bild zu übertragen. Dass das nicht nur um ein Scannern – um die Computersprache zu gebrauchen – geht, nicht nur  um ein reines Uebertragen vom einen Medium ins andere, können wir uns vielleicht vorstellen, wenn wir daran denken, dass wir selbst versuchen müssten, einen Traum als Bild greifbar zu machen. Nun will ich damit nicht sagen, dass Simone Bonzon eine malende Traumdeuterin sei, das wäre falsch, aber ihre Bilder unterstehen einer ähnlichen Dialektik zwischen Fiktion und Realität wie die Träume. Es sind im eigentlichen Sinn „Bilder“.

Es sind Dinge sichtbar, die wir grösstenteils benennen können, bei denen die Bedeutung in Worten aber nicht den Inhalt und nicht die Ausstrahlung der Bilder treffen. Da ist eine Ebene dazwischen. Man kann sie Poesie nennen, man kann ein Stück weit die Eigenart des Surrealismus heranziehen. Wenn schon eine „Schublade“ sein muss, gefällt mir der sogenannte „Magische Realismus“, wie er in den 60er Jahren vor allem in Oesterreich Blüten trieb, am besten. Denn das, was die Katzen, die Ziegen, die Menschen oder Teile davon, die Tauben, Bäume, Früchte usw. von der Realität abhebt, hat immer bis zu einem gewissen Grad beschwörenden, eben magischen Charakter. Ich möchte Simone Bonzon damit nicht etwa als Schamanin bezeichnen und auch nur sehr bedingt als Mystikerin, aber da ist schon die Lust den Dingen Kräfte zu verleihen, die sie im Alltag nicht haben. Wobei ich hier weniger an Dorian Gray denke als an La Fontaine. Die meisten von ihnen wissen, dass Simone Bonzon in Genf aufgewachsen ist und trotz Heirat mit einem Deutschschweizer und trotz 45 Jahren in Baden frankophon geblieben ist – in Sprache und im Denken. La Fontaines Fabeln enden immer mit einer „Moral“ – die müssen wir  hier weglassen, aber den hintergründig-erzählenden Schalk und die Freude, Tieren – bei Simone Bonzon auch Menschen, Pflanzen, Gegenständen – andere Eigenschaften zuzuordnen als gewohnt, finden wir hier wie dort. Wie gelingt ihr das?

Als ich Simone Bonzon im Atelier sagte, ich hätte den Eindruck ihre Bilder seien aus Papier, erschrak sie. Zu Unrecht, denke ich, denn was ich meinte, waren eher Skulpturen aus Papier; geschnittene Flächen und Streifen, die zu fragilen, dreidimensionalen Gebilden verwoben, vernetzt sind; nicht stabil, auch verletzbar, aber mit jener Sorgfalt gebaut, welche die Nicht-Materie erfordert. So erreicht sie jene Bildwirkung, die scheinbar plastisch greifbar ist und doch „nur“  – und das „nur“ in Anführungszeichen – doch „nur“ Bild ist. Stilistische Strukturen wie sie die klassische Moderne anfangs des Jahrhunderts geschaffen hat, sind in dieser Ausdrucksweise zweifellos erkennbar – die Freiheit eines Picasso im Umgang mit Form innerhalb von Gegenständlichkeit empfindet Simone Bonzon als grossartig.

Dennoch, die Intentionen sind anderer Natur. Simone Bonzon hat sich mit ihrem künstlerischen Ausdruck eine eigene Welt geschaffen, eine Welt, in welcher es ihr vermutlich wohler ist als in der – letztlich fremden – Umgebung. Auch bei ihr ist indes das Phänomen Zeit unübersehbar. Ihre Arbeiten scheinen heute nicht mehr in die zeitgenössische Kunstszene zu passen. Sie teilt dieses Schicksal mit praktisch allen, die einer surrealistischen Sprache im weitesten Sinn des Wortes treu geblieben sind, vielleicht weil sie ihnen bis ins Innerste entspricht. Zeit ist indes etwas Relatives und wer weiss, ob nicht schon in wenigen Jahren alle  theoretischen Exkurse über Kunst als Kunst mit dem Prädikat „langweilig“ ad acta gelegt werden und an scheinbar Vergangenes angeknüpft wird. Was in diesem steten Wandel für die  Einzelnen letztlich zählt, ist die – kritisch gestellte –  Frage: „Was stimmt für mich“? Und ich glaube, beide Künstlerinnen, die hier ab heute ausstellen würden die Frage in Bezug auf ihre Kunst positiv beantworten. Und das ist wichtig.

Ich danke fürs Zuhören und wünsche einen anregenden Abend.