Persönlicher Blick ins Lebenswerk: Vernissagerede zu Ruth Kruysse(1942-1992) im Zimmermannshaus in Brugg

23. Oktober 1993, Annelise Zwez

Sehr geehrte Damen und Herren

Ich freue mich nicht nur darum, heute diese Ausstellung in Brugg eröffnen zu dürfen, weil damit ein Ausschnitt aus der Retrospektive, die das Kunstmuseum Solothurn für Ruth Kruysse eingerichtet hat, auch im Aargau zu sehen ist, sondern noch aus einem weiteren Grund:

Im Herbst 1991 – also vor rund zwei Jahren – war Ruth Kruysse zusammen mit ihrer Freundin, Lisa Stauffer, hier in der Galerie und vereinbarte mit Marlies del Buono eine Ausstellung. Parallel – und vorerst unabhängig davon – habe ich in einem Moment, in dem berufliche Zielsetzung und emotionelle Engagiertheit aufeinanderprallten, beschlossen, einen Katalog zum Schaffen von Ruth herauszugeben. Alle wussten wir, dass die Zeit drängt.  Und letztlich war  die Zeit schneller als wir – das Begonnene blieb Projekt. Nun aber stehen wir doch da und eröffnen eine Ausstellung, in der wir anhand von Bildern aus knapp 15 Jahren Ruths innere Befindlichkeit und äussere Gestaltung nacherleben können. Und als Ergänzung liegt der Katalog auf, den das Kunstmuseum Solothurn – auch mit Unterstützung des Aargaus und der Stadt Brugg – herausgegeben hat und für den ich den Text schreiben durfte.

Ich mag hier nicht einfach repetieren, was im Katalog nachzulesen ist, ich möchte Ihnen vielmehr etwas von dem erzählen, was ich erlebt habe im vertieften Umgang mit dem Werk von Ruth Kruysse. Was uns ja alle, die wir sie gekannt haben, immer wieder verblüfft, mehr noch,  was uns immer wieder staunend still werden liess, war die enorme Zielgerichtetheit, mit der Ruth ihr Werk vorangetrieben hat, durch alle schwierigen Zeiten hindurch. Ihr Drang: Ich muss, ich will – war  dabei nicht Ehrgeiz. Es war einerseits Ueberlebenswille, andererseits aber zweifellos auch eine  schwer definierbare Kraft, die ihr zu spüren gab, dass sie noch nicht alle Bilder gemalt hatte. Woher, woher nur nimmt sie diesen Willen, haben wir uns oft gefragt.

Noch in der ersten Phase des Projektes, als Ruth noch lebte, habe ich sie gefragt, ob ich – obwohl nur Astrologie-Freundin, und nicht Fachfrau – ihr Astrogramm zeichnen lassen dürfe. Und dank ihren Angaben bekam ich es. Ich will die Vernissage-Rede nicht in einen Astrologie-Kurs ummünzen, aber ich muss Ihnen gestehen, dass ich schlichtweg einen Stuhl brauchte, als ich die Konstellation sah. Ruth hatte nicht weniger als die Hälfte der relevanten Zeichen in jenem Bereich angesiedelt, in dem sich persönliche Kraft nach aussen manifestieren will. Und das kombiniert mit der Sturheit des Stiers, der Denkfreude des Zwillings und dem schöpferischen Impuls des Krebses. Da war sie wohl, die Anlage zu dem, was wir so staunend registriert haben.

Für mich verwandelte sich das Staunen mit dem Wissen in Freude darüber, dass Ruth das alles so genutzt hat und gleichzeitig fiel das Staunen irgendwie weg und damit auch ein Stück der äusseren Biographie. Ich konnte mich nun ganz auf ihr künstlerisches Schaffen konzentrieren. Manchen Nachmittag habe ich allein  – vereinzelt auch mit Han Kruysse oder André Kamber – im Atelier der Künstlerin in Solothurn verbracht. Dank dem Einsatz der Familie war zu diesem Zeitpunkt bereits alles chronologisch geordnet. Und da waren auch die textilen Arbeiten, von denen Ruth immer sagte – „ach weisst Du, die sind im Estrich“. Das, was mich bei der Durchsicht nun zum Staunen brachte, war vor allem eines: Die formale Konsequenz. Im Werk von Ruth Kruysse gibt es nicht einen einzigen Bruch, weder vom Textilen zum Collagierten, weder von der Collage zur Pastellkreide, weder von der Pastellkreide zur Gouache. Immer schmolz das eine ins Andere. Auch wenn die Inhalte scheinbar grosse Sprünge unternahmen, das Formale hat das alles immer getragen. Eigenartig wie diesem exakten Weiterstossen eine eher nachlässige Ebene im Bereich des „Finish“ – etwa des Fixierens der Pastellkreide  oder des Klebens von Textilien – gegenüberstand. Offenbar ging es nicht darum, Werke – im Sinne von Materie – zu schaffen, sondern darum Bilder aus dem immateriellen Raum  überhaupt sichtbar zu machen. Ich denke, man darf Ruths Bilder bis zu einem gewissen Grad als Visionen bezeichnen – und die waren schon immer aus Luft und nicht für die bleibende Materie bestimmt. Wir hier sind es, die möchten, dass das alles bleibt und es darum rahmen und fixieren, darüber schreiben und das Geschriebene drucken, damit uns die Bilder von Ruth erhalten bleiben.

Zurück zur Präzision. Ich möchte Ihnen anhand einiger Beispiele zeigen, was ich meine. 1979 tauchen im Werk von Ruth Kruysse erste Dreiecksformen auf, die vage an Flügel erinnern. 1980/81 werden die abstrahierten Flügelformen zu Bildern von Vögeln – schwarzen und weissen, aufklebten und ausgesparten. Dann weichen die Teile voneinander – die Flügel werden selbständig und auch der Vogelkörper – sie können dies in der Pyramide hier sehr schön nachvollziehen. Und auf einmal wird der Vogelkörper dann Menschenfigur. Doch halt  – da ist nicht einfach ein Entscheid, sondern – wie immer – eine Entwicklung. Zu Beginn des Jahres 1985 wagt sich Ruth erstmals  seit den Wandteppichen an grosse Formate. Und sie stellt dabei fest – ein anfangenes, aber nicht beendetes Werk zeigt uns das  – dass diese Vogelkörper nicht bebliebig vergrössert werden können; da lässt sie die letzten Rundungen und Einkerbungen weg und aus dem Vogelkörper wird die Menschenfigur, welche dann bis 1987 werkbestimmend ist.

Ich bin mir bewusst, dass ich mit dieser Annäherung in gewissem Sinn ruth-konform bin, das heisst, ich spreche über Aeusseres. Sie wissen mit mir, dass Ruth nie über Inhalte ihrer Werke gesprochen hat. Ich glaube nicht, dass sie sich der Symbole nicht bewusst war – aber was heisst bewusst – in unserer Gesellschaft meinen wir immer  „bewusst“ sei identisch mit sprachlicher Formulierung. Und ich als Journalistin steckte da wacker mit drin. Aber: Wir stehen vor dem Phänomen, dass es jede Menge Künstlerinnen gibt, die sich dieser Form von Bewusstheit verweigern, nicht zuletzt um des Füllhorns, aus dem sie ihre Kunst schöpfen, nicht verlustig zu gehen. Wir können dieses Thema durchaus aargauisch angehen: Weder Ilse Weber, noch Vreny Brand, noch Gertrud Debrunner, noch Emma Kunz, noch – Ruth Kruysse wollten oder wollen ihre Bilder analysiert haben. Von Ilse Weber sagt man, sie habe das Buch, das ihre Tochter, Marie-Louise Lienhard noch zu Lebzeiten der Künstlerin geschrieben hat, nicht ein einziges Mal gelesen. Warum? Wahrscheinlich hat es etwas mit Intuition und Ratio zu tun, wobei ich denke, dass das gesellschaftsspezifisch und nicht strukturell ist. Ueber die Intuition – die übrigens im Astrogramm von Ruth Kruysse an sehr prominenter Stelle liegt – haben wir die Fähigkeit zu einem Bilder-Reichtum zu gelangen, der weit hinter unser Bewusstsein zurückgeht. C.G. Jung würde hier vermutlich vom Kollektiven Unbewussten sprechen. Da sind auch die Symbole zuhause. All diese Bilder spielen in unserer merkurischen Gesellschaftsform eine minimale  – oder vielleicht besser – eine sehr versteckte Rolle. In diesem Ungleichgewicht fällt es nicht schwer, zu begreifen, dass die beiden Wissensformen im Clinch miteinander stehen und dass man sich mit den Strukturen des einen Bereiches, den Zugang zum anderen verschanzen kann. Und gerade das wussten oder wissen diese Künstlerinnen und darum lassen sie einfach die Bilder stehen, vertrauend darauf, dass sie  – ohne Worte – ihren Weg in die Körper der Betrachtenden finden. Paul Klee,der ja ganz gewiss auch aus diesem Füllhorn geschöpft hat, sagte demgegenüber einmal: „Ein bisschen Denken kann nie schaden“ – darum berufe ich mich so gerne auf ihn. Aber ich begreife all die Künstlerinnen, die sich den Zugang zu ihrer Bildwelt nicht mit „warum“ und „wieso“ – Fragen versperren lassen wollen. Da dring liegt offensichtlich – mit Ausnahmen selbstverständlich – auch ein geschlechtsspezifisches Moment. Dieser Tage habe ich in der Kunst-Zeitschrift Parkett, die eine Umfrage zum Thema „Cherchez la femme“ machte,  eine „Erklärung“ gefunden, formuliert von Patrick Frey. Er sagt in seinem kurzen Text sinngemäss: Die Frauen haben aufgrund ihres Körpers die Fähigkeit, mit Geheimnissen zu leben. Er nimmt dabei klar auf die Sexualität und Schwangerschaft bezug und drückt mit seiner Ansicht wohl sein Staunen aus, dass Frauen Kinder in sich wachsen lassen können, ohne dass sie das sehen. Und da liegt doch das vom Nichtbenötigen  von Analysen, weil man sich über das Spüren der Sache sicher genug ist, eigentlich offen da. Sicher ist damit noch nicht alles gesagt, aber mir scheint etwas Wesentliches, das zumindest mir noch nie so in den Sinn gekommen ist, vielleicht weil’s mir zu selbstverständlich ist.

Ruth konnte mit diesem Geheimnis leben  – das Analytische, das Beobachtende hat sie auf die Bilderscheinung, auf das Formale konzentriert.  Neben der Intuition gab es da noch eine andere Methode, um zu Bildzeichen zu kommen: Das beobachtende Auge, das man mit dem Fotoapparat materialisieren kann. Ruth hat vor allem in den letzten Jahren viel fotografiert oder fotografieren lassen. Der Katalog kann die Wechselwirkungen sehr schön aufzeigen. Ich erinnere mich, wie ich die vielen Fotos im Atelier entdeckt habe, mich plötzlich eines Bildes erinnerte und den Zusammenhang entdeckte. Da ging ein Suchen los. Aber alles habe ich nicht gefunden, obwohl ich’s eigentlich hätte finden können. In der Serie der technischen Landschaften von 1987 gibt es unter anderem eine Art Pyramiden, die jedoch – entgegen den aegyptischen einseitig geöffnet sind und so wie fremdartige Hangare aussehen. Als ich kürzlich durch den Park oberhalb des Kunsthauses ging, blieb mir plötzlich der Mund offen: Da waren sie – doch was in den Bildern von Ruth als bedeutungsschwangere Formen erscheint – sind an der Basis Abluft-Schächte des AEW in Aarau. Ob Ruth diese Dreieck-Häuschen je bewusst betrachtet hat oder ob sie sich quasi durch die Hintertür in den Bild-Speicher eingenistet haben oder ob dieser Querverweis am Ende gar nicht stimmt, weiss ich nicht. Aber da zeigt sich doch die komplexe Struktur dessen, wie sich alles Sichtbare in uns zu ganz Anderem wandeln kann. Vielleicht müssten wir alle mal versuchen, die Verwandlungen sichtbar zu machen.

Ich danke fürs Zuhören.