Werkstoff Textil

Eine Ausstellung im Kornhaus Rorschach

Vernissage-Einführung von Annelise Zwez, Oktober 1993

Es ist ein eigenartiges Gefühl, das der Aufgang zu den Ausstellungen in der Galerie im Kornhaus in Rorschach vermittelt, ein Gefühl einer für unser Fassungsvermögen schon fast unendlichen Lebens-Zeit. Als schwer zu definierende Schwingung spüren wir das Gleichgerichtete zwischen der Frau aus der Pfahlbau-Zeit, die vor vielleicht 5000 Jahren am Webstuhl gesessen hat, um aus selbstgesponnenem Flachs Kleidung zu weben und den Künstlerinnen, die heute – 5000 Jahre später –  mit dem Werkstoff Textil Bilder und Objekte schaffen. Werke, die nicht mehr so einfach auf eine fassbare Funktion ausgerichtet sind,  die wir – mit unserer heutigen Bewusstseinsstruktur – aber genau so nötig haben wie Kleidung. Vielleicht kann der Begriff „Wärme“ im realen wie im übertragenen Sinn das Gemeinsame bündeln. Ich habe Annemarie Klingler nicht gefragt, aber ich bin überzeugt, dass die Altmeisterin unter den hier vertretenen Künstlerinnen gerade aus diesem Grund diese zwei aus Wolle und Seide gewobenen Kleid-Objekte – es sind etwas ältere Arbeiten – in diese Ausstellung gegeben hat. Und ich freue mich über diese Sensibilität gegenüber dem Ort. Auch in Marianne Josts Bild-Teppichen in Kelim-Technik – auch da könnten wir nochmals über Zeit sprechen –  auch da ist im Kleinen der Bogen fassbar, indem die Künstlerin in den hier gezeigten Arbeiten nicht nur Schaf- und Ziegen-Wolle, Seide und Baumwolle einsetzt, sondern auch aus Flachs gewonnenes Leinen, an der Basis jenes Material also, das schon die Jungsteinzeit-Frau brauchte. Die Schafwolle kannte sie – zumindest hier im mitteleuropäischen Raum – noch nicht. Man könnte nun natürlich die ganze Vernissage-Rede auf diesen Bogen aufbauen – sagen, dass es sicher auch schon zur Pfahlbauzeit feurige und steinerne Herzen gab wie sie Verena Welten zeigt – schon zur Pfahlbauzeit der Regenbogen leuchtete, wie er als Farbinspiration in Inga Vatters Werken wirkt und auch der Tageslauf mit Tag und Nacht wie er sich in Beatrix Sitters „Zenit“ spiegelt eine unendliche Geschichte sei. Mir liegt vom Grundgedanken aus etwas Anderes am Herzen. Nämlich die Tatsache, dass wir über die ganze Zeitspanne hinweg nur von Frauen sprechen. Ich weiss  nicht aufgrund welcher Beweismittel die Archäologie behauptet, dass es die Frauen waren, die woben und die Männer, welche die Pfeilspitzen schliffen, ich habe aber nie eine andere Darstellung gesehen, also gehe ich einmal davon aus, dass dem so war. Das heisst nun aber, dass die Tradition, welche hinter den Arbeiten hier in dieser Ausstellung steht, 1000ende von Jahren umfasst. Wo sind die Männer, die noch Löcher in Steinäxte bohren, noch Steinmesser schleifen, Horn aushöhlen, mit steinernen Schlaghammern Pfähle einschlagen?

Wenn heute über Charakteristiken weiblicher Kunst gesprochen wird, so fällt oft der Verweis auf die besondere, die fast körperliche Beziehung der Frau zum Material, das sie verwendet. Wundert das nun noch? Ist es nicht gerade hier in diesem Haus und ganz speziell mit dieser Ausstellung aufs Schönste spürbar – ich sage bewusst spürbar, denn Beziehungen sind so tief in uns drin, dass analytische Worte den Kern nicht greifen können. Ich denke fast, dass Harry Rickenbach – wie Sie sicher wissen, der Veranstalter dieser Ausstellung – dies intuitiv erfasste als er seiner Idee den Titel „Werkstoff Textil“ gab. Eine sehr ähnliche Ausstellung wie hier wurde vergangenen Sonntag im Alten Kunsthaus in Zug eröffnet; sie heisst aber „Tendenzen textiler Kunst“. Wenn auch die beiden Veranstaltungen im Kern dieselbe Stossrichtung haben, nämlich die Vielfalt heutiger Ausdrucksweise im Bereich des Kunstschaffens mit textilen Materialien aufzuzeigen, so ist der Ansatzpunkt doch verschieden. In Zug hatte ich – ich habe den Text für den kleinen Katalog geschrieben – sofort das Bedürfnis auf die Ungerechtigkeit hinzuweisen, dass die textile Kunst sich nur im Ghetto ihrer Technik Gehör verschaffen könne, von der Kunstszene als Ganzes aber immer noch verfemt werde – nicht zuletzt, weil es ein Frauenbereich sei, zu dem die Männer nicht dieselbe innere Beziehung hätten. Auf diesen Punkt sind wir hier ja schon gestossen, aber mit „Werkstoff Textil“ und der Pfahlbaufrau im Hintergrund merke ich wie sich das Rückgrat streckt und so etwas wie Stolz als Impuls zum Hirn hinaufschickt.

Der Begriff Werkstoff bringt automatisch die Hand ins Spiel. Das Textile, das mit den Händen zum Werk verwoben, verknüpft, geformt wird. Material und Werk stehen also in einem sehr engen Kontext. Wie ist das denn in der Malerei oder in der Skulptur – den klassischen Künsten quasi? Kommt die Malerin mit ihrer Farbe in Berührung? – Wenn sie mit den Händen malt – wie etwa Miriam Cahn in ihren neuen Arbeiten, dann ja – aber gängigerweise ist doch da die Palette mit den Farben und der Pinsel, der als Hand-Verlängerung greift und die Farben Hirn-Impulsen folgend auf die Leinwand gibt. Da ist ein Distanz-Moment.

Und in der Bildhauerei?  In der Arbeit mit Gips, Wachs oder Ton formen die Hände direkt – aber, was wir in Ausstellungen sehen, sind in der Regel Abgüsse. Wir könnten das nun weitertreiben zur Objektkunst, zum Video usw. Für die Textilkunst bleibt das Prinzip des Materials, das unmittelbar zum Werk wird. Sie möchten nun vielleicht entgegnen, da sei doch zum Beispiel der Webstuhl und das „Schiffchen“, das die Wolle trage. Sie haben recht, aber stellen Sie sich Ul’Jana Zmetakova vor, wie sie arbeitet, wenn Sie an ihrem Webstuhl sitzt und jede Materialposition prüft oder Christina Lauchenaucher wie sie die Tücher, die sie mit Nadel und Faden bestickt, vor sich hat, vielleicht sogar auf dem Schoss. Da von Distanz zu sprechen, ist dann doch spitzfindig, lassen wir’s drum. Fragen wir uns vielmehr, was diese Nähe bedeutet. Im Zuger Katalog habe ich es wie folgt umschrieben: „Es ist falsch, Textilkunst nur unter farblichen und formalen Auspizien zu betrachten ohne die Ausstrahlungskraft des Materials zu berücksichtigen. Textilkunst ist nicht nur Form (eventuell Volumen)  und Farbe – die klassischen Komponenten von Malerei und Skulptur – sondern immer Form, Farbe und Material. Nur die Dreiheit umfasst das Ganze. Somit gilt es beim Betrachten von Textilkunst in einem weitgefassten Sinn über Strukturen und Eigenschaften von Wolle, Seide, Garn, Leinen, Kunstfaser, Papier“ – in Zug kam dann noch Hanf, Bast, Kupfer- und Eisendraht dazu – hier in Rorschach ist es noch das Ziegen- und das Rosshaar und schliesslich  müssen wir über das Wachs nachdenken. Wichtig ist, und nun folge ich wieder meinem Zuger Text, dass wir „dies nicht beschränkt auf die Wirkung nach aussen tun – also nicht eingeengt auf den Glanz der Seide, die Regelmässigkeit des Garns, die matte, lockere Fasrigkeit der Wolle. Die Auseinandersetzung muss zum Beispiel auch die Herkunft des Materials vom Tier, vom Menschen, von der Pflanze, aus der industriellen Produktion, sie muss die Eigenschaften, die verschiedenen Verarbeitungsmethoden, vielleicht sogar die Stellung des Materials in Geschichte und Gesellschaft miteinbeziehen. Schauen wir uns doch nur als Beispiel den grossen, geknüpften Teppich von Marianne Jost an. Er vereint drei Arten von tierischem Material, nämlich den Seidenfaden, die Schafwollfaser und das Ziegenhaar und zwei Arten von pflanzlichem Material, nämlich Baumwolle und Leinen. Was das für eine Fülle ist, die da zusammenkommt – das Kostbare der Seide mit ihrer Ganzen Geschichte von Ost nach West, das Wärmende, Weiche der Schafwolle, auf der wir sitzen, die wir als Winter-Kleider tragen, das Harte, Widerspenstige des Ziegenhaares, das uns heute arachaisch anmutet usw. Man kann noch viel mehr ins Detail gehen – nehmen wir zum Beispiel die Wand-Decken von Ulla Wolfender – das drahtige, gekräuselte Rosshaar – das Verena Brunner in ihren früheren Arbeiten als deutlich erotische Komponente einbezogen hat – wirkt hier als kompakte Matte, doch wenn wir die Farben betrachten – dann haben wir plötzlich eine Weide mit weissen, schwarzen, hell-, mittel- und dunkelbraunen Pferden vor uns. Die Materialkomponente ist selbstverständlich nicht eine Konstante. Ihre Bedeutung ist fliessend. Es gibt auch Textilkunst, die tendiert näher zur Malerei, benutzt aber die Eigenschaften der Web-Technik mit ihren Längs- und Querfäden als bewusstes Gestalt-Moment; schauen Sie die dazu die Arbeiten von Beatrix Sitter und Inga Vatter an, wie gut die vorgängig bemalten weiss-grau-schwarzen Bänder sich eignen, Etappen von Zeit sichtbar zu machen, wie der offene Zettel und das fest Gewobene als Mittel eingesetzt werden können, um Materie und ihren Widerschein darzustellen.

Die Textilkunst hat in den letzten 20 bis 30 Jahren eine enorme Entwicklung vollzogen, eine Entwicklung, die parallel zur Frauenbewegung läuft, auch wenn sie an der Basis von einem Mann initiiert wurde. Die Entwicklung ist nicht beschränkt auf die Textilkunst, sie ist überall festzustellen von der Kultur bis zur Politik, wenn auch – das alte Liedchen will einfach nicht verstummen –  ihre gesellschaftliche Gleichwertigkeit noch lange nicht erreicht ist. Und für die Textilkunst – vor allem jene in einem engeren Sinn, sehe ich eigentlich eine schwierige Zeit kommen, denn nicht nur hier in dieser Ausstellung textiler Kunst fehlen die ganz jungen Künstlerinnen – wieso sich in einem Bereich engagieren, der eh diskriminiert wird?  Und bis die Männer selbstsicher genug sind – fast paradox, so etwas zu sagen – sich mit traditionell weiblichen Materialien zu profilieren, wird es wohl noch lange gehen. Ausnahmen bestätigen selbstverständlich die Regel, in Zug wurde bewusst ein textil arbeitender Künstler eingeladen, die Qualität – hier darf ich es sagen – lässt allerdings zu wünschen übrig. Die Textilkunst hat meiner Ansicht zukunftsbezogen nur eine Chance, wenn sie sich erstens selbstsicher gibt und zweitens experimentell. Das Ausfächernde, das einem von textiler Vielfalt sprechen lässt, wird in dieser Ausstellung vor allem von Verena Welten  vertreten. Sie hat bezeichenderweise keine schulische Textilausbildung. Sie steht somit in extremem Gegensatz zu Ul’Jana Zmetakova, die ihr Handwerk in einem der ältesten tschechischen Web-Zentren gelernt hat. Verena Welten braucht das Textile als Träger-Struktur – in gewissem Sinn analog zum Zettel. Getragen wird aber nicht Textiles, sondern Wachs und geformt wird Organisches, präziser noch, das Herz. Vielleicht ist es weit hergeholt, aber irgendwie ist die Assoziation doch da, nämlich, dass ja unsere Muskeln auch Faser-Gewebe sind – und das Herz ist ein Muskel. Da nähert sich eine Künstlerin dem Textilen von einer überraschenden Seite, die möglicherweise gleichzeitig alles Textile näher zum Menschen rückt in der ganzen Bandbreite wie sie das darstellt – vom Löwenherz bis zum Schlangenherz, vom Goldherz bis zum schwarzen Herz; wo nur, wo ist das weiche Herz – ist es das Wachsherz, das bei zuviel Wärme schmilzt, oder verträgt unsere Zeit keine dauernden, weichen Herzen mehr?

Ich danke fürs Zuhören.