Vernissagerede für Inge Schön anlässlich der Eröffnung ihrer Ausstellung in der Galerie Bagnato Scheune in Konstanz, 3. Juni 1994

 Von Annelise Zwez

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Inge

Es gibt immer wieder Menschen, von denen man rückblickend sagen kann, sie hätten mehrere Leben gelebt. Lernt man sie dann besser kennen, so spürt man das verästelte Netzwerk, das eben doch alles durchzieht. Und so ist zum Beispiel richtig und falsch zugleich, wenn man sagt, Inge Schön habe erst im Alter von 60 Jahren so richtig zu malen begonnen.

Mit diesem „falsch“ will ich nicht – oder nicht nur – auf ihre Kindheit in einer kunstsinnigen Familie, auf ihre Tätigkeit als Fotografin in den 30er und 40er Jahren verweisen und auch nicht auf die nebenberuflichen Anfänge im Bereich des bildnerischen Ausdrucks. Das „falsch“ bezieht sich vielmehr auf die Fülle des Gelebten, die ein schöpferisch begabter Mensch in ein Spätwerkeinfliessen lassen kann. Die Aquarelle aus den 70er Jahren, die Inge Schön hier unter anderem zeigt, sind nicht Blätter einer Anfängerin, sondern Farbquellen einer reichen – und mit reich meine ich natürlich den Geist und nicht die Materie – einer reichen Frau, die die Summe ihrer Wünsche umsetzt in Klänge. Wenn ich sage, die Summe ihrer „Wünsche“, so ist das vielleicht nicht präzis, es sei denn wir seien uns bewusst, dass die Wünsche eines Menschen, der Tiefen durchschritten hat, eine ganz andere Existenzialität haben als jene eines jungen Menschen, der  eben erst ins Leben aufbricht.

Kunstgeschichtlich gesehen gehören diese Aquarelle ins Stilgefäss des lyrischen Informel, das sich im Paris der 50er Jahre entwickelte. Ein Wort, das ich eben erwähnt habe, muss uns hellhörig machen: „Lyrisches Informel“. Dieses „lyrisch“ erscheint ja auch auf der Einladungskarte zur heutigen Vernissage. Inge wird jetzt wahrscheinlich etwas nervös, denn da ist ja ein Druckfehler passiert. Die Künstlerin nennt ihre zentrale Werkgruppe „Lyrische Graphiken“, auf der Einladung steht aber als Titel „Lyrische Gedanken“. Für mich ist das fast ein freudscher Verschreiber, denn es sind ja nicht die graphischen Elemente in den Arbeiten, auf die ich noch zu sprechen kommen werde, welche lyrischen Charakter haben, sondern der Stil, die Schreibweise ist lyrisch und darin enthalten auch die notierten Gedanken.

Sich künstlerisch ausdrücken ist ein Prozess, der sowohl im einzelnen Werk wie auch im Ablauf der Werke in der Zeit stattfindet. Voraussetzung für den Wandel ist ein Erkenntnisprozess. Im positiven Fall ist es eine kontinuierliche Präzisierung. An den Bildern von Inge Schön lässt sich das sehr schön ablesen. Anfangs der 80er Jahre beginnt sie durch Zu-Fall – den Zu-Fall schreibe ich immer mit Bindestrich und betone die erste Silbe, da ich überzeugt bin, dass der Zu-Fall eben nicht zufällig, sondern Ausdruck einer energetischen Vernetzung ist, die sich jenseits unserer rationalen Vorstellungskraft abspielt. Inge Schön beginnt also durch Zu-Fall, dadurch dass Dr. Harry Sprenger, hier in Konstanz, eine Druckmaschine anschafft, Radierungen zu machen. Sie muss intuitiv gespürt haben, dass der Widerstand, den die Kupferplatte beinhaltet und die Herausforderung Striche so und nicht anders zu setzen, ihrem kreativ-widerspenstigen Wesen hochgradig entgegenkommt. Der Stil der Arbeiten beginnt sich – ausgehend von der Technik – grundlegend zu verändern.

Zwei in sich zusammenhängende Dinge sind dabei erstaunlich. Inge Schön wählt nicht – wie tausend andere – das Viereck als Format für die Radierung, sondern eine Form, die sie selbst bestimmt – ein spitzwinkliges Dreieck zum Beispiel und auch dieses akzeptiert sie nicht so wie es ist, sondern schneidet es zum Beispiel oben ab, schafft spitze oder stumpfe Einbuchtungen, just eben, was die Kupferplatte erlaubt. Ich denke, da wechselt die Inge Schön von dem, was ich als Wunsch-Klänge bezeichnet habe, zu etwas, das sie selbst spiegelt, nämlich die Kraft ihrer nach aussen nicht immer ganz einfachen, aber nach innen ungemein kreativen Unangepasstheit.

Und darum geht das Spiel auch weiter: Nach dem Drucken hat Inge Schön eine Reihe von Radierungen, die eine, manchmal auch zwei klar begrenzte Formen in einem viereckigen Blatt Papier zeigen und im Innern eine mehr oder minder reiche Zeichensprache aufweisen. Das Aussen und das Innen bilden Kontraste – ähnlich wie das Aussen und Innen unserers Körpers, unseres ganzen Wesens. Oder zeigen Sie nach Aussen immer, was sich in Ihrem Innern abspielt? Inge Schön ist im Zeichen des Zwilling geboren, einem Luftzeichen, das gerne denkt und sprüht und das eine so gerne möchte wie das andere. Wenn Sie in die Runde schauen, dann sehen sie viele Blätter, die darauf antworten. Aber, was ich eben zum Aussen-Innen gesagt habe, widerspricht dem. Indes: Inge Schön trägt in ihrem Aszendenten, dem Zeichen, das sich vor allem in der zweiten Lebenshälfte entfaltet, die Struktur des Krebses in sich – ein gefühlsbetontes, sehr kreatives, weibliches, nach innen gerichtetes Zeichen mit einer oftmals schützend harten Schale.

Und da spüre ich nun die frühen Graphiken mit klaren äusseren Grenzen und ihrem reichen Innern und es ist mir auch klar, dass Inge Schön auf das schwarz/weiss der Radierungen eine Antwort geben muss – mit Farbe, dem Medium, mit dem sie ihren künstlerischen Ausdruck begonnen hat. So entstehen die kolorierten Radierungen, wobei klar festgehalten werden muss, dass kolorieren hier etwas anderes meint als in früheren Jahrhunderten, als man den Farbdruck noch nicht kannte. Kolorieren heisst bei Inge Schön, die Facetten innerhalb von etwas Gegebenem ausleuchten. Jedes Blatt von Inge Schön ist ein Unikat und keine Graphik im landläufigen Sinn. Das wird noch deutlicher in den Blättern nach 1988. Da sprengt Inge Schön die Schale und lässt das Innen ausfliessen und das Aussen einfliessen. Ich denke, die Ausstellung, welche die Künstlerin 1988 im Kunstmuseum des Kantons Thurgau einrichten konnte, hat massgeblich dazu beigetragen. Die Anerkennung hat aber nur darum beflügelt, weil sie von Innen heraus vorbereitet war.

Das führte nun zum eigentlichen Hauptwerk von Inge Schön: Zu Blättern wie sie in den Indianderliedern neu gedruckt vorliegen, wie sie aber auch viele andere Arbeiten kennzeichnen, zum Beispiel die ganz neuen unter dem Dreiertitel „Freude, Freundschaft, Freiheit“. Da wird auch der Begriff der kolorierten Radierung respektive Zeichnung zu einem eigentlichen Understatement. Was Inge Schön macht, sind durch und durch originale Mischtechnik-Blätter. Verstehen sie dieses Understatement nicht falsch; es ist nichts anderes als ein Ausdruck der Geschichte der Frau, die jahrhundertelang ihr eigenes Tun herabmindern musste. Ich denke, alle Frauen wissen – trotz Emanzipation – genau, wo solche Momente immer noch in ihnen leben.

Und da muss ich anfügen, dass Inge Schöns Werk als Ganzes natürlich eng gekoppelt ist an die Geschichte der Frau im 20.Jahrhundert. Just als Inge Schön zu malen beginnt, entfaltet auch die Frauenbewegung ihre – ich glaube, man darf sagen – „revolutionäre“ Kraft. Inge Schön war nie eine Feministin, aber Kraft durchwirkt alles und so ist denn eigentlich der Titel des neuen, erstmals in einer Grundfarbe gedruckten Zyklus von Freude, Freundschaft und Freiheit durchaus richtig in seiner Assoziation zu „Liberté, Egalité, Fraternité“ aus der französischen Revolution. In diesem Kontext finden wir auch den Grund, warum Inge Schöns Arbeiten so jung wirken. Die Künstlerin hat mit dem Einstieg in die Kunst einen Generationensprung gemacht. Sie ist mit den Frauen der 68er Generation aufgebrochen zu sich selbst, zu einer Freiheit, die es ihr in ihren neuen Arbeiten erlaubt, alte Grenzen zu sprengen, wobei – und gerade das ist für mich wesentlich – die Grenzen in den radierten Elementen sichtbar bleiben.

Die Formen und Linien, welche die Radierung umkreisen, bewegen sich manchmal wie eine Schlange, die sich im Rhythmus der Musik emporschwingt, bei Gefahr aber blitzschnell wieder zurückziehen kann. Was Inge Schön ausfliessen lässt, ist nicht fassbar, sondern luftig, bewegt, jederzeit im Wandel, ist mal sinnlich, mal fröhlich, mal ängstlich, mal kantig. Doch stets ist da auch die Bereitschaft, bei Bedrohung in Windeseile wieder in die eigenen Grenzen zurückzuschnellen. Die Flüchtigkeit der malerischen Energie, die Inge Schön als Ketten von Formen, Farben und Bewegungen im Umfeld der Grenzkörper tanzen lässt, ist für mich etwas vom Ausserordentlichen an ihren Arbeiten. Man meine nun  aber nicht, dass das im Prozess des Entstehens so schnell geht, oh nein, die Künstlerin muss sich wieder und wieder an die Klänge herantasten bis sie ihre gültige Form gefunden haben.

Es wundert mich nicht, dass Inge Schön dann und wann mit einer Lyrikerin zusammenarbeitet, denn so wie ein Gedicht Hauch einer Empfindung sein kann und gleichzeitig Ausdruck intensiver literarischer Arbeit, so sind auch Inge Schöns Blätter, seien es nun einzelne, oder in Zyklen zusammengefasste. Seit einiger Zeit schon konzentriert sich die Künstlerin auf bestimmte Themenkreise. Ich meine damit nicht primär die Indianderlieder, die scheinen mir sehr frei, sondern eher den Lebenszyklus, der sich voller Zuversicht aufbaut und schliesslich Stück um Stück wider abgeben oder vielleicht auch verinnerlichen muss. Oder auch die FFF-Blätter, von denen schon die Rede war.

Manchmal hat die Künstlerin keine Lust, sich dem Kontrast von fester Form und freier Schwingung auszusetzen – da entstehen dann parallel zu anderen Arbeiten kleine Zeichnungen /Aquarelle, die im Vergleich zu früher aber sehr viel reicher, lustbetonter auch, sind und last but not least, die Erfahrung spiegeln, die sich Inge Schön in 20 Jahren künstlerischer Arbeit geschaffen hat. Ich wünsche beim Hinhorchen auf das Eigene im Dialog mit dem von Inge Schön Ausgebreiteten viel Spass.