Einführung anlässlich der Eröffnung der Ausstellung von Felix Brunner im Kunstraum Aarau im Kiff
- September 1994
Von Annelise Zwez
Sehr geehrte Damen und Herren, lieber Felix
Ich habe diese Woche drei Texte geschrieben: einen über Hugo Suter, einen über Charles Rey und einen für den heutigen Abend über Felix Brunner. Von Hugo Suter zu Felix Brunner ist der Schritt kleiner als von beiden zu Charles Rey. Und dennoch gibt es einen roten Faden. Im Text zum Amerikaner, dessen Ausstellungen in den Kunsthallen von Bern und Zürich ich übrigens nur empfehlen kann, steht der Satz: Die Lüge ist so wahr, wie die Wahrheit gelogen. Und genau das beschäftigt auch die andern beiden Künstler, wenn auch in unterschiedlichen psychischen Strukturen.
Charles Rey leidet an dieser Erkenntnis, für Hugo Suter hingegen ist das Wandelbare aller Wahrnehmung letztlich metaphysische Faszination. Felix Brunner steht zwischen den beiden. Seine „Territorien“ – so der Titel, der die Werke in diesem Raum vernetzt – benennen Sprache respektive Bild und gleichzeitig die Brechung alles begrifflich Festgefügten. Das eine könnte immer auch das andere sein. Das eine könnte Lüge, das andere Wahrheit sein.
Grundsätzlich ist die Diskussion um Schein und Sein so alt wie die Malerei überhaupt. Sokrates nannte den Maler abschätzig einen „Nachahmer“ und in keinem Vergleich zum Schöpfer der Idee an sich. Und die Tatsache, dass Kunst und Künstlichkeit denselben Wortstamm tragen, müsste uns eigentlich auch zu denken geben. Nun, in den drei genannten Beispielen schwingt die jahrhundertealte Diskussion zwar mit, aber im Zentrum steht nicht eine kunstimmanente Problematik, sondern eine unsere Epoche, unser (westliches) Lebensgefühl spiegelnde Haltung.
Wie soll es in einer Zeit, da es keine Autorität, auch keine allgemeingültige Moral mehr gibt, nichts ist, das nicht auch das Gegenteil sein kann, wie soll es da möglich sein, Kunst zu schaffen, die etwas ist? Wie sollen wir in einer Zeit, da wir uns bei jedem Zeitschriften-Titelbild fragen, ob das nun wohl fotografiert oder synthetisch hergestellt ist, noch an Bilder glauben? Wie sollen wir in einer Zeit, da auch die Physik zum Schluss kommt, dass es im Kern keinen Unterschied zwischen Materie und Nichtmaterie gibt, noch festen Grund unter den Füssen haben?
Genau diese zerfallenden „Territorien“ sind Gegenstand des Kunstschaffens von Felix Brunner. Der Basler, der zum Zürcher geworden ist – wie bereits gesagt, es gibt nichts, das es nicht gibt! – der 42jährige Künstler geht von einer Position heraus an die Kunst, wie sie erst in den letzten 10 Jahren möglich geworden ist. Nämlich von einem Standort aus, der Kunst schaffen weder als formale Entwicklungschronologie betrachtet noch als Forschung an einem bestimmten Thema.
Brunners Standort ist vielmehr die kritische Neugierde des Zeitungs- und Bücherlesers, des Film- und Fernsehschauers. Mit andern Worten, es gibt kein Thema, das nicht ein Thema für Felix Brunner sein könnte. Auf dieser Ebene verknüpft sich auch der Künstler und der Gründer der Shedhalle Zürich als Ausstellungsort. Der im vergangenen Herbst erschienene Katalog zum Schaffen von Felix Brunner liest sich ein Stück weit wie eine Monatszeitschrift mit Standpunkten zu verschiedenen Themen.
Die Fotografie, die Malerei, die Typographie, der Computer, das Objekt – alles wird dort eingesetzt, wo es sinnvoll erscheint. Halt, da ist ein Wort hereingerutscht, das es eigentlich, dem eben Gesagten folgend, gar nicht mehr geben könnte: „Sinn-voll“. Da muss also auch eine Gegen-Kraft sein, die uns etwas bewusst machen will. Und da setzt die künstlerische Arbeit ein, das heisst die Arbeit an einem Bewusstseins-Prozess. Und eigenartigerweise ist es just das „Bild“, welches die inflationäre Wissensflut bricht und wieder zu etwas Greifbarem macht.
Die vielfachen Bilder, die uns täglich berieseln, gaukeln uns fast immer Fakten vor, da es ja Abbilder sind, oder wenigstens so tun, als ob sie es wären. Und ob wir es wollen oder nicht, wir sind alle geprägt von diesen Bildern. Wir wissen wie der Krieg in Bosnien aussieht. ? Felix Brunner hingegen präsentiert uns Bilder, in denen Fakten gestrichen, Formen soweit aufgelöst sind, dass wir sie nicht packen können, Buchstaben so sehr reduziert, dass wir die Worte nicht zu lesen vermögen, oder wenn wir sie lesen können, sagen sie uns nichts oder sie führen uns auf eine falsche Fährte.
Und doch sind es Bilder, die nicht einfach auf Abstraktion hintendieren, sondern als Teil des grossen Informationsstroms erscheinen. Als ich Felix Brunner sagte, das sein Schaffen eine dekonstruktive Haltung beinhalte, hörte er das nicht so gerne, denn das vielzitierte Wort kenntzeichnet natürlich eine jener Schubladisierungen, gegen die Felix Brunner in seinem Kunstschaffen antritt. Dennoch ist richtig, dass das was in seiner Kunst feststeht, lediglich die Tatsache ist, dass es sich um Bilder handelt.
Neugierig und bildgewohnt wie wir sind, belassen wir es nicht damit, sondern versuchen nichtsdestotrotz zu dechiffrieren. Mit grosser Wahrscheinlichkeit beginnen wir mit Worten: Atatürk, Assuan, Altamira, Itaipu, Yangtse. Obwohl wir den Assuan-Staudamm wahrscheinlich alle benennen können, kommen wir kaum ohne Nachhilfe darauf, dass es sich um lauter Namen von Staudämmen handelt. Im nächsten Bild, suchen wir vermutlich die gestrichenen Worte zu entziffern, und bei den oberen Zeilen, gelingt uns das auch, „Alpenstrandläufer“, „Pfahlschnepfe“, „Knutt“ und „Sanderling“, bei den unteren Zeilen reduziert sich die Information auf „Fremdsprache“.
Eventuell weiss der eine oder die andere, dass die Buchstaben kyrillisch sind. Und beim wieder nächsten Bild können wir vielleicht einige, der halben, französischen Wörter ergänzen, aber den Sinn finden wir nicht. Als nächstes betrachten wir wohl die Fotografien, sie sind benennbar. Holzlatten in konstruktiver Anordnung, die etwas Gebautes abdecken. Dann ein alte Mauer mit leeren Rechtecken und schliesslich ein dreckiges Waschbecken; kein Pissoir und auch keine handgeformte sanitäre Anlage, also kein Duchamp und kein Robert Gober, sondern, eben, ein schmutziges „Brünneli“.
Die Farben von Fotografie und Bild korrespondieren, also muss die Vernetzung möglich sein. Folge: Noch besser schauen: Hinter der französischen Sentenz ist eine Rasterfotografie erkennbar – eine malenderweise aus irgendeiner Zeitung aufs Bild übertragene. Warum gemalt? Vielleicht um der persönlichen Aneignung willen. Mit genügend Distanz erkennen wir die Umrisse einer Frau von hinten; dass sie einen getüpfelten Badeanzug trägt, hat mir Felix Brunner gesagt. Und plötzlich überlagert sich die Form im Bild und die vom Dreck befreite Zone im „Brünneli“ im Vordergrund. Und plötzlich taucht da eine sexuelle Konnotation auf. Und der Satz, den ich nicht lesen kann, benennt das vielleicht oder ich benenne es, indem ich das denke.
Wie sagte doch Beuys: Der Gedanke ist Skulptur. Nein, so möchte ich es nicht, aber ich merke, dass meine Assoziationen etwas zu formen beginnen, das nicht mehr Bild ist und sich auch nicht mehr an den Fakten hält, sondern in meinem Kopf zu etwas wird, das letztlich vom Kopf in den Körper rutscht. Inzwischen weiss ich zusätzlich, dass die französische Sentenz aus einer der vielen Abbildungen der von Felix Brunner vielzitierten griechischen Venus mit ihren Idealproportionen stammt. So kann ich die Gedankenform noch einmal neu modellieren. Wird hier das Bild durch Assoziationen reicher, wird es bei den Vögeln eigentlich umgekehrt leerer, indem sich die Tierabbildungen in ihren eigenen Rastern aufzulösen beginnen.
Bei den Staudämmen spüre ich Abwehr gegen etwas, das in Worten harmlos daherkommt, aber eine schier grenzenlose Grösse beinhaltet. Das Gefühl kommt nicht zuletzt wegen des anmassend wirkenden Schnörkels im Bildvordergrund, der etwas von einer Machtgebärde in sich trägt, übrigens unterstützt von der Fotografie, die ja sagt: hier darfst zu nicht hintreten. Vergleicht man die drei Bilder, so ist es immer der Mensch mit seinen sauberen Klassifizierungen, seinen ordnenden Kodex oder seinen stolzen Aufzählungen, die Felix Brunner in Frage stellt. Ueberall dort, wo der Mensch Normen aufstellt – Schönheitsnormen zum Beispiel – oder in Klassen einordnet – naturwissenschaftlichen zum Beispiel – besetzt er Wissensterritorien. Wer seinen Foucault gelesen hat, weiss, dass Wissen immer als Macht benutzt wird.
Und noch viel gewaltiger werden die angepeilten Territorien, wenn sie nicht Ideale, nicht Naturerkenntnis meinen, sondern direkte Macht-Eingriffe in die Natur. Und immer sind es Namen, Worte, die Festgefügtes vorgaukeln, wo die Physik doch heute eigentlich erkennt, dass es das Feste nicht gibt, dass selbst alles, was wir als Materie greifen, in seinen innersten Strukturen, jene die man „subatomar“ nennt, nichts als leerer Raum ist. Was uns bleibt, ist das Bild, das wir uns selbst formen.
Dennoch, es wäre absolut falsch, Felix Brunner, als Anti-Naturwissenschaftler oder ähnlich zu bezeichnen. Im Gegenteil – gerade die Faszination ruft ja das kritische Fragen auf den Plan, denn jede Erkenntnis hat Konsequenzen, die in ihrer Konsequenz unter Umständen Weltbilder umwirft. In Bildern, die Felix Brunner gerade zur Zeit in Arbeit hat, ist mir, im Vergleich zu den eben besprochenen Bildern, aufgefallen, wie der Künstler der Sprache des Menschen misstraut, der Sprache der Natur aber doch Authentizität beimisst.
Da ist eine Bildreihe, die ausgeht von den Streifen des Zebras – eine Tätowierung, die bis ins letzte Fellhaar genetisch kodiert ist. Und dieser Haut-Sprache sind Buchstaben-Abkürzungen oder präziser, Schatten von Buchstaben, zugeordnet, die auf irgendeinen nicht benennbaren Kodex hinweisen. Da ist der Schritt zur Bilderreihe nicht weit, die drei Zylinder zeigt, deren Flecken sich in Mass und Zahl verändern, analog der Gesetzmässigkeit, nach welcher sich die Flecken – das man kürzlich mittels eines Computerprogramms zufällig herausgefunden – nach welcher sich die Fell-Flecken von Katzenschwänzen verändern, vom Tigerbüsi bis zum Gepard. Hinter die Zylinder hat Felix Brunner Stangen ins vage malerischen Feld gestellt, Stangen wie der Bussard sie liebt, um seine Futter-Territorien zu beobachten. Dem Tryptichon entgegengestellt ist eine Fotografie der Gipsbüste eines Potentaten früherer Jahrhunderte vor dem trüben Spiegel in seinem Schloss.
Wie soll ich schliessen: Mit Ciceros „Scio ut nescio“ oder mit dem Verweis auf die Vorsokratiker, die davon ausgingen, dass der Mensch nie fähig sein werde, die Welt zu begreifen? Weder so noch so, aber vielleicht beides zusammen: Die Natur weiss mehr als der Mensch.