Ansprache von Annelise Zwez anlässlich der Uebergabefeier des Zuger Werkjahres an Anna Margrit Annen, 20. November 1995 im Kunsthaus Zug

Von der Unermesslichkeit des Lebens

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Anna

„Erstens kommt es überhaupt und zweitens anders als man glaubt“ – unzählige Male hat mich meine Mutter mit diesem Wilhelm Busch Spruch getröstet, wenn wieder einmal etwas nicht so lief wie ich es geplant, erwartet, erhofft hatte. Dass diese im geschilderten Kontext sozial angewandte Redewendung  eigentlich Fundamentales in einem viel grösseren Zusammenhang ausdrückt, ist mir bis vor kurzem nie in den Sinn gekommen.Inzwischen habe ich gelernt, dass selbst einfachste Muster unendlich viele Ausformungen in sich bergen können. Denken Sie etwa an den auf die Psyche des Menschen ausgerichteten, binären 64er Code des I Ging und an den analogen, physisch konditionierenden 64er Code der genetischen DNS-Reihe. Von der binären Struktur des Computers gar nicht zu reden. „Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt“ – eine andere Form des Eingangs-Zitats –  sagt nichts anders als: Es gibt keine vorhersehbare Ordnung, denn jede Ordnung verhält sich letztlich aufgrund nicht fassbarer Impulse anders als scheinbar im voraus determiniert. Und gerade das ist eines der Grundthemen der künstlerischen Arbeit von Anna Margrit Annen… und zwar nicht erst seit sich die Künstlerin mit Kuben von 80 x 80 x 80 Zentimetern befasst, die in ihren Objektformen dann eben gerade keine Kuben mehr sind. Die Thematik von Strukturen, die sich aufgrund von  Bewegung und Dynamik überraschend verhalten, zu Bildern werden, bestimmte schon die malerisch-linearen Arbeiten auf Leinwand und Papier in der zweiten Hälfte der 80er Jahre. Anna Magrit Annen hatte damals eben die Schule für Gestaltung in Luzern abgeschlossen.

Das Erfahren des Unvorhersehbaren

Entsprechend den 80er Jahren und dem spezifischen Blickwinkel der Kunst von Frauen war der Ort, wo diese Untersuchungen getätigt wurden, das Körperliche, das Organische. Allerdings nicht einseitig auf das Stichwort „Befindlichkeit“, sondern ebenso auf das Prozesshafte von Entwicklung, von Teilung und Wachstum ausgerichtet. Kann es verwundern, dass im Büchergestell der Künstlerin Bücher wie „Symmetrie in Geistes- und Naturwissenschaften“, „Fraktale Geometrie der Natur“ oder „Kraft der Grenzen“ stehen? Nicht dass ihre bildhaften, fragilen Zell-, Organ- oder Körper-Konstellationen Illustrationen der „Chaostheorie“ gewesen wären, nein, aber das Erfahren des Unvorhersehbaren in jedem Entwicklungsprozess – sei er organisch, lebensbezogen oder bildhaft, künstlerisch – mit allen Abstufungen und Möglichkeiten zwischen bilden, formen und auflösen, zerfallen – das entsprach und entspricht der Grundfrage, die Anna Annen existentiell beschäftigt und mit ihrem künstlerischen Schaffen in den Raum stellt.

Das Jahr 1992 erlebt die Künstlerin als Zäsur – zum einen entstehen die letzten Arbeiten im genannten Kontext und zugleich die ersten des neuen, formal ganz anderen künstlerischen Ansatzes, der in seiner Entwicklung zur Vergabe des „Zuger Werkjahres 1995“ an Anna Margrit Annen geführt hat. Die Zäsur betrifft nicht die inhaltliche Ebene, sondern die Arbeitsweise. Die Veränderung entspricht zeitlich und strukturell wiederum einer breiten Entwicklung innerhalb der Kunst von Frauen. Miriam Cahn nannte die Ausstellung, die 1993 im Kunsthaus in Zürich stattfand: „Was mich anschaut“ und brachte damit die breit und auch im Werk von Anna Annen zu beobachtende Wandlung auf den Punkt: Nicht mehr das aus dem Innern Ausfliessende steht im Mittelpunkt, sondern das Aeussere wird auf die Beziehungen zum Inneren und zum Ganzen befragt. In vielen Fällen forderte diese Wende ein konzeptuelleres Vorgehen heraus, auch bei Anna Annen.

Zufall und Ordnung

Die äussere Ebene wird unter anderem durch Benennbares bestimmt. Und mit Sprache begann dieser neue Abschnitt: Anna Annen notierte auf Karteikarten Substantive wie sie ihr in den Sinn kamen, ohne jegliche thematische Gruppierung, einfach nur Wörter – Wörter freilich, die alle zu ihrem Wort-Schatz gehören, also im Hirn gespeichert sind, sowohl in ihrer Bedeutung wie ihrer Orthographie. Ich nenne keine Beispiele weil bei einer Zahl von 3849die Chance, dass die Worte, die einem gerade in den Sinn kommen, im Karteikasten enthalten sind, gross ist. Karteikasten – der Begriff ist real gemeint, denn die Künstlerin hat die nummerierten Kärtchen nach dem Zufallsprinzip in einen alten, hölzernen Karteikasten mit 11 Schubladen geordnet, die nach der fortlaufenden Anzahl beschriftet sind. Zufall und Ordnung in einem Satz, da sind wir wieder – was ist Zufall und was ist Ordnung und was ist, wenn ich eine Geschichte schreibe, die alle Wörter der Zufallsreihe entlang enthält – schaffe ich dann nicht gerade aus der übergeordneten Struktur eine individuelle Denk-Welt, eine Wort-Skulptur?

Sprache empfinden wir als etwas ausgesprochen Hirnbezogenes, und zwar nicht nur, weil wir um die Funktion des Hirns wissen, sondern auch weil wir sie im Kopf hören und zwar reziprok, das heisst sowohl wenn andere sprechen wie wenn wir selbst sprechen, und wir machen sie auch hörbar mit einem Kopforgan. Anna Annen begann sich  mit dem Hirn zu beschäftigen – in Form von Malerei, seltener mittels Objekten, sowie auch auf theoretischer Ebene. Es entstanden Arbeiten auf Papier, die sich in Anna Annens zeichnerisch-malerischer Handschrift Ordnungssystemen näherten, oft in und um vergrösserte Hirnformen gruppiert. Sie stellten indes über nicht kongruente Strukturen oft mehr Fragen, als dass sie Antworten formulierten.

Form und Verformung

Das Thema erwies sich – analog früherer Werkgruppen – als uferlos und so nahm sich die Künstlerin erneut zurück auf eine scheinbar fassbarere Ebene – fassbarer sowohl in Bezug auf die Materialien wie das System –  es entstand der erste Kubus, noch nicht nach einem zukunftsgerichteten Konzept, sondern eher intuitiv-experimen­tell: Stoffbänder, durch PVC-Röhrchen gezogen und auf 80 x 80 x 80 Zentimeter ausgerichtet. Die inhaltliche Dimension war noch  nicht da – nur der Wunsch, ein vernetztes System mit sinnlich-greifbarem Material herzustellen – sie hatte ja schon in den Jahren zuvor immer wieder Objekte mit verschiedensten Materialien geschaffen; man vergesse nicht, dass Anna Annen die Freie Klasse der Schule für Gestaltung in Luzern besucht hat und die war schon immer aufs Drei­dimensionale ausgerichtet. Nun, es entstand also ein Kubus, der sich schnell als Nicht-Kubus erwies, denn dem logisch-messbaren Aufbau stand die Eigengesetzmässigkeit des Materials entgegen. Die zwei Strukturen vernetzten sich und formten Skulptur. Skulptur, die nicht fixiert ist, sondern  mit jedem Umplazieren eine leicht ver­änderte Aussen- und Innenform annimmt. Das ist etwas Anderes als in den frühen 70er Jahren als die Künstler aus dem Gedanken von Kunst und Demokratie heraus frei zusammensetzbare Module schufen. Hier findet der Wandel aus sich selbst, aus der eigenen, materialmässi­gen Gesetzmässigkeit heraus statt.

Wie das eine so das andere

Erst langsam begriff die Künstlerin, dass sie wieder ihr Thema gestaltet hatte – eine doppelte Ordnung, die sich aufgrund von Eigen- und Fremdgesetzlichkeit im Austausch mit Zufallsmomenten in Nuancen immer neu formiert. Sie machte weiter – mit anderen Materialien – weicheren, härteren, widerspenstigeren, biegbaren, unbeugsamen usw. – etwa 15 an der Zahl und immer war da wieder dieses Ueberraschungsmoment – wie würden die verschiedenen Gesetzmässigkeiten zu Form, zu Skulptur werden.

Und dann noch das: Bei allen Kuben ist das eine Material durch ein anderes hindurchgezogen – das gab es doch früher in den Zeichnungen schon, und da ist doch auch der Link zum Organischen, zum Lebensbe­zogenen – unseren Adern, unseren Nerven, unseren Energiebahnen – nichts als vernetzte Stränge, die durchflossen werden, sei es von Flüssigkeiten oder von energetischem Impulsen.

Anna Annen liess es nicht dabei bewenden – sie gab der Vielheit der Möglichkeiten auch bildhaft immer neue visuelle Gestalt –  Arbeiten auf Papier im Format von 80 x 80 zum Beispiel, die sie in Zweier- , Vierer- und Sechser – Rhythmen den Seiten der Kuben entsprechend auf Wänden installierte. Das Durchdringen, die Ordnung, die zur scheinbaren Un-Ordnung wird und sich darin neu formiert, war auch Thema der Ton-Installation, die Anna Annen im Herbst 1995 im Rahmen des Luzerner „Kunstwinters“ in einem Container realisierte: Acht Lautsprecher wurden an den acht Ecken eines Container-Kubus befestigt. Aus den Lautsprechern drangen versetzt ablaufende Zahlenreihen – von 1 bis 3963. In ihrer Nähe waren die Zahlen zu hören und zu unterscheiden, im Zentrum fielen sie zu einem Stimmengewirr zusammen – ähnlich und doch anders als bei den Kuben.

In den Arbeiten, die zur Zeit im Atelier der Künstlerin entstehen, klingt Neues an: Video kommt als Medium hinzu, aber auch weitere Arbeiten mit Wörtern, mit geschichteten, bemalten Papieren, Objekte aus weggeworfenen Videobändern, deren gespeicherte Geschichten nicht mehr lesbar sind. Anna Margrit Annen ist an einem wichtigen, einem spannenden Ort ihrer künstlerischen Entwicklung.