Vernissagerede für Helen Sager anlässlich ihrer Einzelausstellung Ausstellung im Rathaus in Aarau,Februar 1995

Von Annelise Zwez

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Helen Sager

Ich denke, es ginge uns allen gleich: Wenn wir nach 19 Jahren mit dem, was wir geschaffen haben, in die Region zurückkehren würden, in der wir aufgewachsen sind und unsere Ausbildung abgeschlossen haben, wir würden den Auftritt besonders gestalten wollen. Nun haben wir das Glück, dass das, was ich eben im Konjunktiv gesagt habe, für Helen Sager, tatsächlich so ist. Darum hat sie für Aarau eine Art Retrospektive aufgebaut, eine besondere. Ich habe von 19 Jahren gesprochen, das ergibt, zurückgerechnet, 1976. Damals hatte Heiny Widmer, Konservator des Aargauer Kunsthauses, Helen Sager eingeladen, ihre Fotografien im Foyer des Museums auszustellen. Als Zynikerin müsste ich jetzt eigentlich sagen: Bei Heiny Widmer haben die Frauen immer im Foyer ausgestellt ( ich erinnere an entsprechende Ausstellungen von Heidi Widmer und Lisette Küpfer), aber so sehr das stimmt, so sehr gilt es auch zu berücksichtigen, dass es 1976 noch ausgesprochen aussergewöhnlich war, Fotografien im Museum zu zeigen. Heute ist das anders, da gibt es kaum ein Museumsprogramm, das nicht zumindest eine Foto-Ausstellung pro Jahr miteinschliesst. Und auch hier im Rathaus haben sich die Gepflogenheiten diesbezüglich geändert.

Für Helen Sager war die Ausstellung im Kunsthaus damals eine Zäsur; es war  – noch bevor andere Kunstschaffende überhaupt mit Fotografien wahrgenommen wurden – Helen Sagers letzte reine Fotoausstellung. Diese Gegenläufigkeit, dieses nicht zur richtigen Zeit in der richtigen Zeit zu sein wird uns bei Helen Sager noch mehrfach begegnen. Wenn ich mich zurückerinnere an jene Ausstellung Helen Sagers im Kunsthaus – der Vorteil der Grauhaarigen ist es ja, dass sie ein verhältnismässig langes Gedächtnis haben – so erscheint vor dem inneren Auge primär eine Fotografie: Sie zeigt eine junge, ausgesprochen leicht gewandete, „im Winde verwehte“, Frau in einer surreal wirkenden, nächtlichen Stimmung auf einem einsamen Bahngeleise. Mag sein, dass Helen Sager damals ein Stück von sich und ich als Betrachterin ein Stück von mir darin sah. Darum hat sie es geschaffen und mir ist es in Erinnerung geblieben.

Die Ausstellung, die Helen Sager diese Woche hier eingerichtet hat, legt zumindest partiell Zeugnis davon ab, was sich in ihrem Schaffen seither ereignet hat. Viel. Dass es Helen Sager in keiner Weise entsprechen würde, nun so ganz einfach von unten nach oben in chronologischer Reihenfolge ihre Stationen aufzulisten, haben Sie mit Sicherheit schon gemerkt. Der Grund liegt indes nicht darin, uns zu verwirren. Die Ausstellung entspricht von ihrer Inszenierung her vielmehr der Arbeitsweise der Künstlerin, die ich als vernetzte bezeichnen möchte. Das heisst, Bilder, Themen, Techniken  entwickeln sich nicht linear von A nach B, sondern in einem ständigen Diskurs, der oft über Jahre hinweg bestehen bleibt. Ein neues Erlebnis kann ein altes aus der Erinnerung heraufholen, erneuern und als Quintessenz verändern unter Zuzug aller seit her gemachten Erfahrungen und Erkenntnisse. Helen Sagers Schaffen kommt mir vor wie meine eigene Hirntätigkeit, so zumindest wie ich sie mir vorstelle. Da habe ich im Laufe meines Lebens jede Menge „Ordner“ – ich wähle bewusst den Begriff aus der Computersprache –  angelegt, die alle energetisch miteinander in Verbindung stehen. Nun kommt ein Impuls von aussen und sofort wird aufgrund der Frequenz geprüft, wo sich Affinitäten ergeben. Und daraus entsteht eine neue, subjektive Erkenntnis, die nach Formulierung drängt. Ganz wichtig ist, dass wir bedenken, dass in diesen „Ordnern“ alles, effektiv alles, gespeichert ist, selbst das, was wir vermeintlich vergessen haben. Das heisst, zurückübersetzt auf das Schaffen von Helen Sager, dass die Künstlerin nicht nur das, was in ein zurechtgelegtes künstlerisches Konzept passt, aufgegreift, sondern jegliche Aspekte des Denkens und Erlebens. Und somit kann sich keine Linearität ergeben, sondern nur eine vernetzte Struktur wie wir sie hier beobachten können. Ohne hier lang abzuschweifen, sei angemerkt, dass eine Arbeitsweise, wie wir sie bei Helen Sager sehen, sehr viel öfters bei Künstlerinnen aufscheint als bei ihren männlichen Kollegen und darum entsprechend quer in der offiziellen Kunstlandschaft steht. Allerdings ist auch diesbezüglich heute einiges ins Wanken geraten, vor allem was die junge Generation anbetrifft.

Ein heterogenes Erscheinungsbild hat, zumindest hier, nichts mit Flatterei zu tun. Helen Sager ist sehr wachsam gegenüber den inne-ren Verbindungslinien in ihrem Werk. Wenn wir die Jahrzahlen der einzelnen Arbeiten berücksichtigen, kommen wir ihr nämlich da und dort auf die Spur. Ein sehr schönes Beispiel liefert uns die Künstlerin im dritten  Stock, wo sie drei Arbeiten aus dem Jahre 1979 mit zwei mehrteiligen aus dem Jahre 1991 konfrontiert.

Ich muss, um Ganzheit mitzunehmen, hier etwas einschieben. Ich habe eingangs von der „letzten reinen Fotoausstellung“ von Helen Sager gesprochen. Das heisst, ab dieser Zeit fächert sie ihre bildnerische Techniken aus. Sie malt, sie zeichnet, sie fotografiert, sie pröbelt im Labor, experimentiert mit Materialien und manchmal am liebsten alles im selben Bild. Es ist ganz klar, dass wir in der oft kaum durchschaubaren Vermischung verschiedener Techniken eine Parallele sehen können zum visuellen Erscheinungsbild. Linearität gibt es nach 1976 nur noch ganz selten. Beim Nachdenken frage ich mich, wie viel diese hier so explizit erscheinende Struktur mit der enormen, gesellschaftlichen Herausforderung zu tun hat, der sich eine alleinstehende und selbständig arbeitende Frau mit Jahrgang 1939 in ihren prägenden Jahren ausgesetzt sah. Und wieviel andererseits, dieses Verschmelzen von Verschiedenem den Wunsch beinhaltet, Ungleiches miteinander zu versöhnen. Mehr als fragen kann ich nicht.

Zurück zur Gegenüberstellung 1979/1991. Die oberen, eine Verbindung von Fotografie und Bleistift/Farbstift-Zeichnung, mit dem Titel „Swiss outdoors“ zeigen eine Grosstadt in Verbindung mit Turnschuhen. Bedenken wir, dass die Fotoausstellung von 1976 das Erlebte noch gerne ins Surreale verfremdet, so sehen wir hier den Beginn einer sehr wichtigen Veränderung, nämlich das weniger und weniger Ausweichen können gegenüber der Realität, die von der Künstlerin subjektiv verlangt, Stellung zu beziehen. Vorläufig lacht sie noch dabei – über die Städter, die sich immer höhere Häuser auf engem Raum bauen und schliesslich in die Luft gehen müssen, um zu ihrem Turnschuh-Fitnessprogramm zu kommen. Dazu hängt Helen Sager zwei Bilder von 1991 – es sind Fotomontagen, kombiniert mit Monotypie ( Man bedenke einen Moment die Komplexität der technischen Vorgänge, das Abbild, das Zusatzbild und das Druckbild. Der Prozess des Entstehens ist in sich ein Bedeutungsträger.) Item, diese Bilder tragen den Titel „Strassenszene“, wobei das einen den Zusatztitel „abends“ und das andere „mittags“ trägt und unten im Parterre ist ein weiteres aus dieser Serie, das hat den Zusatztitel „sonntags“. Es ist nicht einfach, diese Zeitangaben visuell zu fassen, aber sie sind für Helen Sager offenbar sehr wichtig; sie sehen es auf der Liste, es gibt weitere Arbeiten mit solchen Zusätzen. Stilistisch haben die Arbeiten von 1979 und 1991 nichts miteinan-der zu tun und technisch sehr, sehr wenig. Aber inhaltlich gehören sie natürlich zusammen und auch in ihrer Helligkeit, verbunden mit der Farbe blau bilden sie einen Klang. Die Lust an satirischer Sicht, die Ende der 70er Jahre noch da war, ist weg. Sie hat einem unkontrollierbaren Hin und Her, einer unbestimmten Hektik, einem Befehlen über Zeichenangaben einerseits, einem expressiven Darüberhinweggehen andererseits Platz gemacht. Frage: Hat da Helen Sager nicht zu zwei Zeiten sehr träf das Feeling der jeweiligen Zeit eingefangen? Ich denke schon. Und wenn sie stilistisch so unterschiedlich sind, hängt das dann nicht auch mit der Verrücktheit unserer Zeit zusammen?

Die zwei Seiten ein und desselben können wir – auf andere Art mehrfach finden in der Ausstellung. Gleich schon im Parterre: Da konfrontiert uns die Künstlerin an der einen Wand mit einem ausgesprochen besorgten, kritischen Blick auf die Welt. Das sogenannte „Sagramm“ – eine ganz spezielle,von Helen Sager entwickelte Unikat-Fototechnik – das „Sagramm“,das auf der Einladungskarte abgebildet ist, zeigt die Gefährdungen und Verletzungen des Blicks gegen Mitte der 80er Jahre. „Der weisse Mann scheint die Luft, die er atmet, nicht zu bemerken, wie ein Mann, der seit vielen Tagen stirbt, ist er abgestumpft gegen den Gestank“, lesen wir auf einer Fotomontage von 1988. Wenn wir denken, der Spruch seit nun langsam ein bisschen „kalter Kaffee“, so beachte man, dass er aus der Rede des Indianer-Häuptlings Seattle vor dem Präsidenten der USA im Jahre 1855 stammt. Und was haben wir – so scheint Helen Sager 1988 zu fragen, seither getan, ausser weitere Stecknadelpfeile in die Landkarte der Welt gestossen? Den unberührten Raum kann Helen Sager nurmehr als Bildchen in die Mitte setzen. Ganz bewusst hängt sie die Zeitbombe dazu, die über der Basler Chemie schwebt –  sie dürfen dreimal raten, wann das Bild,eines der wenigen reinen Acrylbilder, gemalt wurde. Doch gleichzeitig zeigt Helen Sager auf der gegenüberliegenden Seite eine Reihe von luftig-leichten Arbeiten, die dem Vogelflug gleich getragen werden von einem Moment der Lust am Leben. Dass es sich bei den „Lichtbildern“ um  bearbeitete Fotografien mit aufgeklebten Farbelementen handelt, muss uns – angesichts der Bedeutung, die Helen Sager dem Prozess des Entstehens beimisst – allerdings zu denken geben. Es ist alles konstruierbar heute. Dennoch – da sind zwei Seiten. Sie schliessen sich zwar fast aus, aber um überleben zu können, muss sich der Mensch manchmal etwas vorgauklen und sei es auch nur der Traum vom Fliegen.

Es gibt noch einen ganz anderen Ansatzpunkt, um sich dem Werk von Helen Sager zu nähern, nämlich, dass die Künstlerin 1976 beschliesst, die Fotografie reiche ihr nicht, und dennoch bei der Arbeit mit Fotografie bleibt. Was heisst das eigentlich? Ich glaube, es sind zwei Antworten und eine Feststellung wichtig. Erstens: eine Arbeit, die photographische Elemente miteinbezieht, orientiert sich immer an einem Ausschnitt aus der für uns sichtbaren, sogenannt „realen“ Welt. Für die Fotografen ist die Arbeit damit schon abge-schlossen. Für Helen Sager beginnt hier aber die zweite Phase der Auseinandersetzung. Es geht nun darum, dieses quasi objektive Stück Welt mit dem subjektiven Feld des eigenen Ich zu verschmelzen. Das kann einer Art Kommentar gleichkommen, dass kann aber auch ein Kombinieren von Elementen, die nicht zusammengehören, sein. Es kann aber auch – und das ist mir wichtig – Ausdruck der Betroffenheit sein. Das Skripturale, Gestische, ohne Worte Ausdruck schreibende spielt ja sehr oft eine grosse Rolle in der Bearbeitung. Immer ist die Form aber ein Dialog, ein Gespräch, manch-mal sogar ein Ringen miteinander. Die Landschaft, die Architektur – kaum je die Menschen – bieten sich an als Felder für das bildhafte Denken der Künstlerin. Und gerade dieser Dialog, und so sei er noch so versteckt, ist ein ganz wichtiges Moment der Rezeption. Und es stellt sich die Frage, ob wir nicht alle die Welt ein Stück weit so erleben, weil wir nämlich in all unser Schauen uns selbst mithineinnehmen. Sie kennen doch das Experiment: Zwei Menschen stehen am selben Ort und haben die Aufgabe zu beschreiben, was sie sehen…..

Die zweite Antwort bezieht sich auf die Technik. Helen Sager ist eine Pröblerin. Das Aufscheinen eines Bildes im Chemie-Bad ist für sie noch heute etwas Faszinierendes. Aber es ist nicht nur das. Erst kürzlich hat Helen Sager beim Aufräumen eine Vielzahl von alten Filmen gefunden, ein Material, das sich gängigerweise nicht bemalen, also nicht „kommentieren“ lässt, weil das eine Material das andere abstösst. Was für eine Farbe muss ich nehmen, um die alten Bilder in neue überzuführen? Da ist ein Recycling-Moment drin, sicher – Helen Sager musste sich die sogenannte Freiheit des Kunstschaffens immer sauer verdienen – so ist das Recycling-Moment nicht nur eines der Oekologie, sondern – wie einst bei den Künstlern der 20er Jahre – auch eines der Sparsamkeit. Aber das ist nur eine Schicht. Wichtiger ist ihr die Herausforderung, das Material zu finden, das sich  mit dem Vorhandenen zu einer neuen Einheit verschmelzen lässt. Im konkreten Fall war es dann Druckerfarbe. Und es sind kleine „Filmbilder“ entstanden, die im Gesamtwerk fast ein wenig allein stehen, weil mir dazu nur der Gedanke der kleinen Kostbarkeit kommt. Dass wir als Betrachtende diesen Prozess kaum sehen, höchstens die eigenartige Tiefenwirkung spüren, ist für Helen Sager gegenstandslos. Sie stand und steht – das ist die Feststellung – mit diesen Arbeiten einmal mehr quer zur Kunstszene, weil in der Zeit als sie am intensivsten mit Fotografie arbeitete, kam sie vom Prädikat Fotografin nicht los, obwohl sie einer Malerin gleich nur Unikate schuf. Und heute, als dies in vielfältiger Weise gang und gäbe ist, steht sie von ihrer Generation her stilistisch quer zu den Jungen, die heute diskutiert werden. Helen Sager steht immer quer – das scheint ihr Schicksal zu sein. Aber quer hat nichts mit Qualität zu tun. Qualität hat eine Arbeit, die in sich stimmt.

Ich danke fürs Zuhören.