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Vernissagerede für Inge Schön anlässlich Ihrer Einzelausstellung in Katharinen, St.Gallen

  1. September 1995

 

Sehr geehrte Damen und Herren

liebe Inge

Inge Schön hat einen feinen Witz, der – wie aller Humor – im Innersten ein Fünkchen subjektiver Wahrheit in Form von Kritik oder Wunschdenken enthält. Sie haben es gesehen, die Ausstellung, die ich heute Abend eröffnen darf, nennt die Künstlerin „Variationen Individueller Prägung“, was sehr treffend ist – ich kommen noch darauf zurück.Sie haben selbstverständlich auch bemerkt, dass die jeweiligen Anfangsbuchstaben fettgedruckt sind, haben sie zusammengenommen und… den falschen Schluss daraus gezogen. Obwohl Inge Schön zweifellos eine Very Important Person ist – dieses VIP heisst Very Interesting Presentation. Ohne Zweifel. Dass dieses Spiel ein Stück der Künstlerin ist und sich damit auch in ihrem Schaffen äussert, zeigt sich mir darin, dass ich das eigentlich schon einmal gehört habe, aber in anderen Worten.

Als ich vor gut zwei Jahren in der Galerie Neue Kunst in Wil Inge Schön und Catrin Lüthi K im Vorfeld der damaligen Vernissageworte fragte, was sie denn als Gemeinsamkeit ihrer Ausdrucksweise spürten, sagte Inge Schön schlagfertig: „Ganz einfach, wir sind beide gut.“ Daraus nun zu schliessen, es handle sich bei Inge Schön um eine äusserst selbstsichere Künstlerin, liegt allerdings daneben. Humor hat oft etwas mit Ueberlebenskunst zu tun. Vergessen wir nicht, Inge Schön ist im 80sten Lebensjahr und für eine während des 1. Weltkrieges in der sächsichen Hauptstadt Geborene heisst das unter anderem, den fürchterlichen amerikanischen Bombenangriff auf Dresden im Frühjahr 1945 miterlebt zu haben, wenn auch glücklicherweise etwas ausserhalb der Stadt, in Moritzburg, in unmittelbarer Nachbarschaft zu Käthe Kollwitz.

Es heisst für eine, dann plötzlich in Ostdeutschland wohnende Frau, erlebt zu haben, was es heisst, für die Freiheit zu fliehen. Allein mit dem Rucksack und ihrem schwarzem Hund sei sie damals, 1948, von Dresden weggegangen. Auf die Last der Kriegsjahre, das entwurzelt und – schon damals – im Westen überhaupt nicht willkommen Sein, reagierte der Körper zunächst mit Krankheit: Eine langwierige TB. Gleichzeitig aber auch – wir schreiben nun die 50er Jahre – finden erste Begegnungen mit zeitgenössischer Kunst, insbesondere mit aktuellen Formen des Informel, statt. Dieser Bezug mag erklären, warum Inge Schön, als sie schliesslich den Weg zur bildenden Kunst fand – sie, die sich als junges Mädchen in Dresden vom Turn- und vom Zeichenunterricht dispensieren liess, weil sie das nicht interessierte – direkt auf die ungegenständliche Bildgestaltung zuging.

Aber da ist noch ein anderes Moment, das mir eigentlich erst während des Gespräches hier am vergangenen Mittwoch so richtig unter die Haut ging. Weil ich der Künstlerin die lapidare Interview-Frage nach den Vorbildern bisher eigentlich nie gestellt hatte, war der Bezug von Inge Schön zum Schaffen von Mirò bisher eigentlich ein rein kunstgeschichtlicher. Aber weil ich selbst diesen Sommer in Dresden war – und dabei übrigens erstmals realisiert habe wie viele Kunstschaffende von Hans Hartung… über Inge Schön… bis Gerhard Richter, Georg Baselitz und Penck aus der Stadt Augusts des Starcken stammen – weil dieses Dresden für mich plötzlich nicht mehr ein hinter dem Eisernen Vorhang verstecktes Abstraktum war, haben wir mehr über Inge Schöns Herkunft gesprochen als je zuvor und ich spürte da plötzlich den alten Schmerz, den sie kaum je zeigt und der auch – wie die Bilder, die wir hier sehen, zeigen, mit viel Kraft und Zuversicht verarbeitet ist.

Was hat das jetzt mit Mirò zu tun? Wer Miròs Werk als Ganzes kennt, weiss, dass es da einen Bruch – eine depressive Phase gibt, ausgelöst vom spanischen Bürgerkrieg. Und dass Mirò vielleicht an sich selbst gescheitert wäre, wenn er sich nicht ganz bewusst in der Kunst eine poetisch-fröhliche Gegenwelt, die schliesslich seine eigene wurde, geschaffen hätte. Das ist nichts anderes als das berühmte „Positive Denken“. Dass das nicht nur unproblematisch ist, weiss ich wohl und wer unsere Gesellschaft beobachtet, der sieht da Manches. Aber für Inge Schön war eine ähnliche Haltung wie bei Mirò überlebensnotwendig, das heisst, das Subtil-Heitere, Sinnliche, Humorvolle, das Singende, Tanzende, Schwingende ihrer Arbeiten ist nicht eine geschenkte Welt, sondern eine ganz bewusst Gesuchte und in jedem Blatt neu Beschworene. Was ich Ihnen zu sagen versuche, ist nicht nur einfach Interpretation, sondern im Werk der Künstlerin selbst enthalten.

Der achtteilige Zyklus des Auf- und Abstiegs, in dieser Ausstellung zentral gehängt, wird hier nicht zum ersten Mal gezeigt, aber noch nie kam er so zur Geltung wie hier. Und da ist das alles und noch viel mehr drin, was ich eben zu fassen versuchte. Die ersten vier Blätter sind sehr gegenwartsbezogen – das Innen, festgeschrieben durch die gedruckte Grundform, ist jeweils auf gleicher Höhe koloriert und akzentuiert wie die gemalte äussere Zone; die bereits zurückgelegte Zeit ist unwichtig und die Zukunft noch nicht geschrieben. Von Kraft, von Lust, von Farbe ist die Rede. Und dann der Bruch vom vierten zum fünften Blatt. Eine solche Zäsur am Höhepunkt? Ich selbst erlebe das nicht so, also muss da bei Inge Schön etwas Entscheidendes geschehen sein. Unschwer zu erraten für die, welche mir in meinen Worten bis hieher schon gefolgt sind.

Aber schauen sie genau hin – die dürren Aeste im fünften Blatt haben als Kontrast plötzlich eine farbige Innenwelt von oben bis unten. Und dann belebt sich auch das Aussen wieder trotz Abstieg, aber anders als früher, ziselierter, weniger prall. Und schliesslich das achte Blatt – fast macht sich Rührung, Betroffenheit breit – ist in seiner Anlage reicher, differenzierter als alle anderen zuvor. Und aus der Lebensfülle dieser Stufe arbeitet Inge Schön heute. Sie sagt es träf wie immer: Als sie kürzlich jemand gefragt habe, wie lange sie denn am einen oder anderen Blatt gearbeitet habe, hätte sie lachend geantwortet: „Ein Leben lang“. Inge Schön arbeitet nicht konzeptuell, sondern ganz primär intuitiv, das heisst, sie lässt mit ganzer Wachheit und Konzentration Linien, Farben, Flecken aus sich heraus geschehen. Das heisst auch, dass meine Interpretation des Auf- und Abstiegs nicht ein gezieltes Wollen der Künstlerin spiegelt, sondern ihr bildgewordenes Empfinden.

Es gibt noch eine andere, ebenso wichtige Komponente, um diese „Mirò-Struktur“ zu dokumentieren. In den allermeisten – und ich denken auch den künstlerisch bedeutsamsten – Arbeiten von Inge Schön überlagern sich zwei Schichten, eine geprägte, als Radierung gedruckte, und eine mit Tusche gezeichnete respektive mit Aquarellfarbe gemalte. „Variationen individueller Prägung“ ist der Titel der Ausstellung. Das können wir alltagssprachlich ganz einfach so hinnehmen ohne es gross zu hinterfragen. Aber das Wort Prägung ist eigentlich viel umfassender zu verstehen. Denn am Anfang steht eine Prägung im realen Sinn wie im übertragenen Sinn.

Auf gefundene Kupferstücke – wenn sie schon einmal auf einer Baustelle waren kurz nachdem der Dachdecker seine Arbeit beendet hat, dann wissen sie wo Inge Schön jeweils findet – auf diese Kupferstücke, die sie manchmal zusätzlich beschneiden lässt oder mit der Metallschere verändert und sicher mit Asphaltlack überdeckt, zeichnet Inge Schön die Grundfasern- und formen, frei, wie das ihre Arbeitsweise ist. Dass ich im Innern des Auf- und Abstieges eine Art Rückgrat sehe, hätte nicht mit ihrer Intention, sondern mit meinen Rückenschmerzen zu tun, sagte mir Inge am Mittwoch ziemlich dezidiert; na ja, wir wissen ja, wir können nur subjektiv schauen, nich objektiv. Wichtiger ist nun aber, dass die Zeichnung auf der Kupferplatte eingeätzt wird, in die Kupferplatte eindringt und dann, vom Lack befreit, eingefärbt und mit viel Krafteinwirkung gedruckt wird und ins Papier eindringt.

Im übertragenen Sinn könnte man sagen, die Prägungen, die Inge Schön erfahren hat, sind als formal reduzierte Grundformen im Papier wenn die Künstlerin zu zeichnen und zu malen beginnt. Das Zeichnen wird so zum Gespräch – zum Selbstgespräch, zur Auseinandersetzung des Heute mit der Ganzheit des Gestrigen. Nur das Ich kann mit der Fülle des eigenen Ganzen kommunizieren. Träume und Sehnsüchte drängen ebenso nach Erzählung wie das Umkreisen und Verarbeiten von Wunden. Zonen mit heller Innenfarbe werden, wenn die Farbe noch nass ist, mit einem Aquarell-Stift, einer Haut gleich, eingefasst. Bumerangförmige Blasen erhalten Farbqualität, amorphe Formen lassen sich im Wind ausfransen. Linien sorgen für den Schwung, den Wirbel, den Tanz. Im Gegensatz zur Grundform, die durch den Prozess der Entstehung etwas Festgefügtes ist, erlaubt das Zeichnen Spiel, sich Gehenlassen ohne die Grenzen des täglichen Lebens und verändert so die Sicht auf die Dinge; sie werden leichter in der Welt der Phantasie und es wird leichter die Schwere des Lebens zu tragen.

Ich danke fürs Zuhören.