Text für die Kunstzeitschrift artis 12/95 zur Ausstellung des Schweizer Künstlers Josef Felix Müller im

Kunstmuseum zu Allerheiligen in Schaffhausen

( 22. Oktober bis 26. November 1995)

 

Die erste Teilnahme von Josef Felix Müller an einer nationalen Ausstellung führte 1981 in Freiburg zur Konfiszierung der Werke. Tatbestand: Pornographie. Der junge Maler, der analog Baselitz und Penck bald auch als Bildhauer in Erscheinung trat, schien Körperlichkeit über männlich-animalische Triebhaftigkeit, Aggression und Brutalität zu suchen. Dass die Radikalität seiner mit der Motorsäge aus Baumstämmen gefrästen Figuren, die ihn raketenhaft auf eine Karriere-Laufbahn schleuderten, Ausdruck von Verlust, von pervers erlebter Männlichkeit, von Schmerz und Trauer über die Trennung von Kopf und Körper waren, wurde nicht wahrgenommen. Ende der 80er Jahre kommt der Künstler zum Schluss: Die Rezeption meines Werkes ist ein Missverständnis. Er zieht sich in sein Atelier zurück, beschäftigt sich erfolgreich mit lokaler Kulturpolitik, und kehrt dann mit Arbeiten in die Kunst-Oeffentlichkeit zurück, die sich in sehr intimer, dünnhäutiger Art und Weise mit dem eigenen (männlichen) Körper, mit Haut und Tränen, mit Mensch und Tier beschäftigen. Josef Felix Müller nimmt damit die Entwicklung zahlreicher junger Künstler vorweg, die  sich – ähnlich und doch anders als wichtige, ältere Künstlerinnen – mit dem eigenen Körper als Ort des Fremdseins und der Geborgenheit zugleich beschäftigen. In den im Museum Allerheiligen in Schaffhausen gezeigten Werken ( Gastkuratorin: Andrea Hofmann) setzt Josef Felix Müller da ein, schafft parallel Bezüge zu früheren Arbeiten und geht gleichzeitig inhaltlich über alles Vorangegangene hinaus.

Das Wesen des Körpers als Gesicht

Die Nähe zum Wesen des Körpers als niemals fassbares Gesicht des Menschen kommt vor allem in einer langen Reihe eindrücklicher Tusch-Zeichnungen zum Ausdruck. Sie zeigen als Spannungsbogen zwischen hell und dunkel die mannigfaltigen Befindlichkeiten des emotionalen Körpers zwischen lustvoller Sinnlichkeit und zwangshaftem Getriebensein. Zögernd weicht Müller dabei von der starken Ausrichtung aufs Männliche ab und tastet sich an die (belastete) Tradition der Darstellung des Sexuell-Weiblichen heran, ohne hier freilich wirklich neue Formen einbringen zu können. Ein liegender männlicher Kopf, dessen Blicke eine stehende, halbnackte Frau umzüngeln, ist beileibe nichts Neues. Die Stärke Müllers liegt nach wie vor darin, dem Eigenen, Männlichen eine Dimension der Intensität, der Verletzlichkeit und der Offenheit zu geben. In welchem Clinch er hier mit dem Patriarchat steht, unterstrich die Plazierung der 12 grossformatigen Holzschnitte

„Gesellschaft“ (258 x 108 cm) vis-à-vis der Tusch-Zeichnungen. Die mit der Motorsäge am Boden bearbeiteten Druckstöcke zeigen je 10 Köpfe aus der Vogelperspektive, Glatze an Glatze aufgereiht wie an einem langen (Stamm-)Tisch. Es sind Indviduen – aus Tageszeitungen – deren kahler Holzschnittcharakater kritische Distanz suggeriert, potenziert durch banale Sprachfetzen, Parolen und Schlagwörter in den Zwischenräumen. In der Gegenüberstellung der zweierlei Formen nackter Befindlichkeit in den Tusch-Zeichnungen zum einen, den Holzschnitten zum andern, ist das nach wie vor radikale Spannungsfeld Josef Felix Müllers umrissen.

Die Raum-Akzente setzten jedoch die drei überlegensgrossen, mehrfigurigen Holz-Skulpturen: „Träger“, „Paar“ und „Pyramide“. Wie fragil die mit der Säge freigelegte Visionen von Tragen, Lieben und einander Stützen sind, zeigte Müller mit einem prominent plazierten Holzschnitt eines elektrischen Stuhls – gelb auf dunklem Grund – mit dem Titel „Ein/Aus“. Das kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass von den drei handwerklich beeindruckenden Holzskulpturen einzig der über drei Meter hohe „Träger“ die Ambivalenz von Tragen wollen, Tragen können und vielleicht am Tragen scheitern nachhaltig ausstrahlt: Eine an den Füssen mit dem Stamm verbundene, stelenartige Männerfigur trägt auf den hinter das Gesäss gehaltenen Händen eine zweite, fast gleich grosse Figur. Ihr ängstlicher Gesichtsausdruck, verbunden mit der Schräge des ursprünglichen Weidenstammes, gibt der Arbeit jenes unsichere Gleichgewicht, das hinter Stärke und Kraft den komplexen Bedingungen menschlicher Sozietät Ausdruck gibt. Das Freilegen existentieller Schichten ist auch Thema des in Schaffhausen als Auftakt gehängten, 9teiligen, auf demselben Stein immer weiter bearbeiteten Lithographiezyklus „Kopf“. Ausgehend von einem dunklen, an frühere Arbeiten erinnernden Gesicht, bearbeitete Müller die Bildform mit Licht und Gestik bis er in ihr die Vision einer archaischen Figürlichkeit fand.

              Annelise Zwez, Kunstkritikerin, CH-5600 Lenzburg