Vernissagerede für Milan Maur anlässlich seiner Ausstellung in der Galerie im Kornhaus in Rorschach, 13. August 1995

 Von Annelise Zwez

Sehr verehrte Damen und Herren, lieber Milan

Ich freue mich ausserordentlich, hier und heute zu Ihnen sprechen zu dürfen. Mein Hiersein wurzelt zum Einen in der Ueberzeugung, dass der tschechische Künstler Milan Maur in den letzten 15 Jahren ein Werk von grosser Eigenständigkeit geschaffen hat. Etwas, das nicht selbstverständlich ist in einem Land, wo noch bis vor wenigen Jahren autonomes Denken und Handeln so weit wie möglich unterdrückt wurde. Im Gegensatz zu Vielem, was ich in den letzten Jahren an Kunst aus osteuropäischen Ländern gesehen habe, gibt es bei Milan Maur keine kunstgeschichtlich verspätete Ausrichtung an französischer, amerikanischer oder deutscher Kunst. Sein Werk hat sich vielmehr einer eigenen Vision entlang geformt. Spuren von Wissen um konzeptuelle Kunst und Performance reichten ihm, um sich selbst darin zu entwickeln und zwar nicht verspätet, sondern gleichzeitig zu Strömungen bei uns. Dass ihn dieses freie und autonome Schaffen im Untergrund nach der politischen Wende und parallel zu seiner künstlerischen Tätigkeit zum Unternehmer gemacht hat, wundert nicht.

Zum anderen ist mein Hiersein eine Form von Dank. Als ich vor mittlerweile schon drei Jahren in Pilsen, der Heimatstadt von Milan Maur, weilte – es war da eine Ausstellung mit Schweizer Künstlerinnen, veranstaltet von der Gesellschaft Schweizerischer Bildender Künstlerinnen ( GSBK) – hat mir Milan Maur die Tore zu vielen Künstler- und Künstlerinnenateliers geöffnet, sodass ich mich durch und durch als Gast fühlte. Aehnlich ging es der Präsidentin der GSBK, Inga Vatter-Jensen, und so war es uns ein Anliegen, die Kunst von Milan Maur auch in der Schweiz bekannt zu machen und ich war erfreut, zu gegebener Zeit von Inga Vatter zu hören, dass dies in Zusammenarbeit mit der Galerie im Kornhaus in Rorschach möglich sein würde. Und so sind wir heute hier.

Ich habe damals in Pilsen ein Gespräch mit Milan Maur über seine künstlerische Arbeit geführt und dieses glücklicherweise auch in Form von Notizen aufgeschrieben, sodass ich heute darauf zurückgreifen kann. Milan Maur arbeitet mit Erscheinungsformen der Natur. Nicht im traditionellen, abbildenden Sinn, sondern in einem strukturellen. Der Wandel im Geschehen der Natur interessiert ihn und zwar in ganz einfachen, uns täglich umgebenden Abläufen. Wandernden Schatten, veränderten Blickwinkeln, in der Thermik der Luft vibrierenden Insekten, schmelzendem Eis, fallenden Blättern, fliessendem Wasser usw. gilt sein Interesse. Natur und Zeit sind seine Themen.

Bei uns ist die Natur als Organismus seit etwa 1975 Thema künstlerischen Ausdrucks, ausgelöst von den damals erstmals publizierten, aufschreckenden Thesen des „Club of Rome“. Die bedrohte Natur wurde gefühlsmässig zur kostbaren Natur. Mit andern Worten, oekologisches Denken infiltrierte die Kunst. In Osteuropa fand eine entsprechende Diskussion kaum statt oder sie war nach aussen nicht wahrnehmbar. Darum irritierte mich Milan Maurs künstlerischer Ansatz.

Auf meine entsprechende Frage, kam dann aber die Antwort, die für mich der Schlüssel zum Werk von Milan Maur ist. Er sagte: „Früher habe ich oft in der Bibel gelesen, doch es blieben immer Fragen. Wenn ich in der Natur arbeite, finde ich winzige Antworten. Mein Ziel beim Kunst schaffen sind nicht primär Bilder, sondern Erkenntnis-Spuren.“ Damit wurde klar, dass Milan Maurs Werk nur indirekt, quasi durch den Glauben an die kosmische Realität der Natur, mit oekologischen Gedanken in Verbindung steht. Viel näher steht ihm die Naturwissenschaft, indem alle Werke Milan Maurs in gewissem Sinn Forschungen sind. Das heisst, das exakte Beobachten der sichtbaren, äusseren Ebene und das Erleben der Resultate als energetische Verdichtungen, bilden die Kunst von Milan Maur. Da ist auch gleich wieder der Unterschied zur Naturwissenschaft, die sich – mit Ausnahme gewisser Physiker – doch in der Regel sehr materiegläubig gibt, während es bei Milan Maur durchaus eine metaphysische Ebene gibt. Und von da aus kann man interessante Fäden spannen zu gleichzeitig bei uns entstehender Kunst ähnlicher Ausrichtung, zum Beispiel eines Hugo Suter, eines Max Matter, eines George Steinmann und vorallem auch einer Miriam Beerli. Darauf komme ich noch zurück.

Die nächsten Beziehungen gibt es aber zweifellos zu Herman de Vries, nicht im Sinne einer Doublette, sondern als Kapitel, das der 70jährige Holländer noch nicht geschrieben hat.  (Die beiden Künstler kennen sich übrigens nicht.) Als Beispiel: Milan Maur sucht sich an einer Herzlinde in Pilsen einen Zweig aus, dessen Blätter er numeriert. Das Blatt am nächsten beim Stamm trägt die Nr.1. Im Oktober des Jahres verfolgt er dann die Reihenfolge, in welcher die Blätter fallen und numeriert neu. Was ist nun Gesetz und was Zufall? Herman de Vries seinerseits legte einmal Papiere unter Bäume und hielt die Bildordnung des gefallenen Laubes fest, das heisst er presste die Blätter mit einem Glas auf die Unterlage.

Das erinnert daran, dass Milan Maur einmal ein Blatt Papier auslegte als es schneite und die Flocken mit dem Bleistift auf dem Papier notierte. Allerdings – und da gibt es wieder einen klaren Unterschied – Milan legte sich daraufhin selbst auf das Papier und liess seinen Körper beschneien, ein Vorgang, der im Bild selbst nicht sichtbar ist, für den Künstler aber Teil des künstlerischen Geschehens, das er zu jedem Blatt feinsäuberlich notiert. Mit anderen Worten ein Bild ist für Milan nicht nur eine visuelle Erscheinung, sondern ein ritueller Prozess im Austausch mit der Natur. „Wenn ich“ – so erzählte mir Milan – „den ganzen Tag nur Birnen esse – oder Hagenbuttentee trinke – während ich die Schattenrhythmen, den Zeit-Lauf des Tages an einem Birnbaum – oder einem Hagebuttenstrauch – verfolge und präzis notiere, so ist dies zwar nicht direkt sichtbar, aber es gehört zur Erkenntnis, die mich vorantreibt, es gehört zur Energie des Bildes.“

Bevor ich auf die drei Gruppen von Arbeiten eingehe, die Milan hier in Rorschach zeigt, möchte ich noch auf einen anderen Aspekt hinweisen: Wir dürfen nicht vergessen, dass Milan Maur seinen künstlerischen Weg in den 80erJahren, noch während des Kommunismus, entwickelt hat. Und da war die Natur ein motivisches Feld, das eigentlich unverdächtig war. Somit schwingt in Milan Maurs Werk immer auch ein Stück innere Emigration mit, das heisst, er beschäftigte sich mit einem Thema ausserhalb dessen, was damals in der Region diskutiert wurde und schaffte sich damit einen geistigen Freiraum am Rande.

Zu Beginn er 80er Jahre allerdings, als er sich noch weniger konkret mit der Natur als vielmehr mit unterschiedlichen Strukturen beschäftigte, handelte er sich mit Bildern, die eine frei flottierende, ungegenständliche Kohle-Zeichnung und darüber einen geometrischen Horizontal/Vertikal-Raster zeigten, den Vorwurf ein, er male Gefängnisgitter ( was es ja im Sinne unbewusster Aeusserung möglicherweise tatsächlich waren). Im totalitären System lösten solche Vorwürfe indes Angst aus. Milan übermalte die Rasterbilder mit dicker, plastisch aufgetragener Oelfarbe. Von links, von rechts, von unten, von oben, aber nie ganz. Doch er war nun auf der schwarzen Liste und somit in den Untergrund gedrängt. Er arbeitete fortan nicht mehr als Elektromechaniker, sondern als Nachtwächter (um tagsüber Zeit für die Kunst zu haben). Lohnunterschiede zwischen qualifizierter und weniger anspruchsvoller Arbeit gab es eh nicht im westlichen Sinn. Und diese Outside-Situation brachte ihn – nach einer erste Krise – zur wichtigen Entwicklung, wie ich sie bereits skizziert habe.

Hier in Rorschach zeigt Milan Maur drei Gruppen von Werken. Die Wende brachte für Milan Maur keinen Impuls für die Neuorientierung seines Werkes, sondern vielmehr eine Fortsetzung in Freiheit all dessen, was er in den 80er Jahren begonnen hatte. Es soll nicht verschwiegen werden, dass es in der neuen Tschechischen Republik mit unserem Wirtschaftssystem und den neuen Preisstrukturen fast nicht mehr möglich ist von einem Nebenjob plus Kunst, das heisst de facto von praktisch nichts zu leben. Milan Maur meistert die Situation mit einer eigenen Firma für Weihnachtsbeleuchtung, was aber gleichzeitig heisst, dass er sich die Zeit für die Kunst mit viel Kraft aus allem übrigen herausschneiden muss. Er tut dies auch mit Vehemenz, um die eigene Lebens-Kraft nicht zu verlieren.

Und die Kunstwelt honoriert das, seit der Wende haben sich die Ausstellungen im In- und Ausland vervielfacht. In einem Brief vom 16. Juni dieses Jahres schreibt mir Milan – auf deutsch, ich kann ja nicht tschechisch: „In diesem Jahr hatte ich schon ein paar Ausstellungen: In Oesterreich, Deutschland, Spanien, Amerika und zuhause in Tschechien“ Die Liste ist nun um die Schweiz zu erweitern. Die Situation bringt es mit sich, dass die Arbeiten, die wir hier sehen, aus einer Zeitspanne von etwa 10Jahren stammen. Die drei Gruppen, die ich bereits erwähnt habe, umfassen erstens eine Reihe von Schattenzeichnungen als Tusche auf Papier, dann zweitens eine Gruppe kleinformatigerer Arbeiten mit Pigment, Farbe und Bleistift auf Papier, die Milan Maur „Im Rhythmus des Fluges“ nennt. Dazu gehört auch die „Zeichnung“ mit Weissdraht im Raum, welche die Bewegungen eines „Kohlweisslings“ (das ist ein Schmetterling) raumplastisch nachzeichnet. Ferner und drittens ist da eine Serie von Werken, die verschiedene Naturexperimente spiegeln.

Zu den einzelnen Gruppen:

Den Schattenzeichnungen: „Am 22. August 1990 gab ich dem Felsen bei Stary Plzenec einen Stein zurück, den ich eine Woche bei mir getragen hatte, und dann zeichnete ich den von diesem Felsen geworfenen Schatten ab.“ Solche die Methode der jeweiligen Arbeit erklärenen Angaben sind für Milan Maur integraler Bestandteil aller Werke. Wir dürfen uns dieses Schattenzeichnen nicht zu leicht vorstellen. An der Basis geht es darum, das Papier so auf dem Boden auszulegen, dass der sich wandelnde Schatten auch wirklich an diesem Ort aufzeigen lässt. Und das zweite ist der Faktor Zeit. Jede Schattenlinie ist ein Zeitpunkt und jeder Abstand ein Zeitverlauf. Und gerade bei einem Felsen ist es ja durchaus möglich, dass verschiedene Kanten und Vorsprünge gleichzeitig Schatten werfen, was sich dann auf der Zeichnung als Ueberlagerung zeigt.

Es muss indes nicht ein Felsen sein – es kann, ich habe das vorhin schon erwähnt – es kann auch ein Birnbaum sein oder ein Hagebuttenstrauch oder ganz anderes. Und es ist klar, dass die Wahl des Objektes die Form des Bildes bestimmt, das heisst, die Sonne, die Zeit und das Objekt bestimmen die Zeichnung gemeinsam. Der Künstler will sich dabei nicht nur als Ausführender verstehen, sondern als Teil des Geschehens, darum hat er den erwähnten Stein eine Woche mit sich herumgetragen, auf dass sich die Energien austauschen, aber auch ein körperliches Vertrautsein – was ja vielleicht auch ein Energiezustand ist – eintritt. Bereits erwähnt habe ich das Birnen essen respektive Hagenbuttentee trinken. Die Schattenzeichnungen, die ich faszinierend finde, erinnern mich in gewissem Sinn an Arbeiten der Basler Künstlerin Miriam Beerli – auch sie arbeitet mit Steinen (oder auch Hörnern und Geweihen) – respektive Bleistift und Papier. Sie überträgt nicht die Schatten aufs Papier, sondern die Aussenform des gewählten Objektes und sie fährt der Form viele hundert Mal nach und bewegt gleichzeitig das Objekt auf dem Papier und zwar so wie sie den  Energieverlauf des Objektes spürt. Auch da entstehen dichte Zeichnungen bestehend aus einzelnen Linien, die etwas nachzeichnen. Was letztlich wohl beide – die sich zweifellos nicht kennen – suchen, sind – das mag jetzt etwas pathetisch tönen, aber ich denke, man muss es wagen, es so zu sagen – es sind Rhythmen der Schöpfung.

Und das  gilt eigentlich für alle Arbeiten, somit auch für die „Bewegungen“. Diese Serie von vibrierenden Kritzeleien, die Flug-Bewegungen von Fliegen, Mücken, Schmetterlingen, Libellen, Fischen nachzeichnen, geht sehr weit zurück. Ich kann mich erinnern wie Milan Maur mir den Anfang erzählte: Er habe, so der Künstler, eine Glasscheibe an den Ast eines Baumes gehängt und dann mit einem Stift in der Hand gewartet, bis ein Insekt dahinter sichtbar wurde und dann blitzartig seine Flugbewegungen mitgezeichnet. Später hat er dann den Experiment-Charakter etwas vereinfacht indem er sich auf die Koordination von Auge und Hand verlässt. Das heisst die Hand zeichnet, im gleichen Moment – oder mit einer Verzögerung, die wir kaum wahrnehmen können –  im gleichen Moment wie das Auge die Flugrythmen verfolgt. Wo sich das Liniennetz auf dem Papier befindet, hängt vom Standort der Hand im Moment der Konzentration ab. Ich kann mich erinnern, dass Milan erzählte, dass er einmal ein etwa 10 Meter langes Papierband einem Bach entlang ausgelegt habe und dann bäuchlings an verschiedenen Orten die Bewegungen der Mücken über dem Wasser notiert habe. Ob er dort auch mit Wasser gearbeitet hat, kann ich mich nicht erinnern, aber seit einiger Zeit integriert Milan Maur den Ort ins Bildgeschehen, ganz einfach indem er die   Pigmente der Erde am Arbeitsort ins Papier einreibt und zwar so stark, bis das Papier aufzurauhen, ja sogar löchrig zu werden beginnt, Erde, Ort und Papier sich verbinden. Damit kommt zum Ausdruck von Thermik und organischem Leben ein mineralisches Moment hinzu.

Unerschöpflich sind die Möglichkeiten, rhythmische Naturmomente zu  beobachten und zu notieren. Hier finden wir unter anderem ein Blatt, das Milan wie folgt bezeichnet: Ich beobachtete am linken Ufer des Flusses Uslava in Pilsen am 6. Oktober 1988 die Bewegung des Schilfes und dann bezeichnete ich das und zwar mit Naturkohle und gefundenem, natürlichem Pigment.“ Oder: „Am 27. Dezember 1986 fischte ich aus dem Fluss Uslava in Pilsen-Lobz eine Eisscholle. Zu Hause legte ich sie aufs Papier und zeichnete sie in fünfzehnminütigen Intervallen ab. Ich setzte meine Arbeit so lange fort, bis die Eisscholle geschmolzen war. Die Vielfalt ist gross und wird sich hoffentlich in die Zukunft hinein noch ausweiten, denn die Thematik, die Milan Maur als künstlerisches Feld auslotet, ist, im wahrsten Sinne des Wortes uner-schöpf-lich.

Ich danke fürs Zuhören.