Vernissagerede für Vreni Brand anlässlich ihrer Ausstellung in der Galerie im Zimmermannshaus in Brugg, 27. Mai 1995

 

Sehr geehrte Damen und Herren

liebe Vreni

Als mich Vreni Brand vor einigen Wochen anfragte, ob ich hier und heute ein paar Gedanken formulieren würde, sagte ich zu aufgrund des äusserst positiven Bildes, das mir die Ausstellung der Künstlerin im Kunstmuseum Olten im November 1993 vermittelt hatte.

Ich mochte mich erinnern, dass ich Vreni Brand anfangs der 80er Jahre für eine Ausstellung in der Stadtbibliothek Lenzburg eingeladen hatte, doch es war mir entfallen, dass ich damals selbst gesprochen hatte an der Eröffnung. Beim Kramen in meinem Archiv kamen somit nicht nur die Texte zum Vorschein, die ich im Laufe der letzten 12 Jahre über Vreni Brands Schaffen geschrieben hatte, sondern auch besagte Vernissagerede. Klar, dass ich sie im Hinblick auf heute wieder las, nicht zuletzt weil sie mir auch die damaligen Bilder ins Gedächtnis zurückbrachte. Etwas ganz Wesentliches ist mir dabei aufgefallen, das nicht nur für Vreni Brand gilt: Anfangs der 80er Jahre stand die Kunst vieler Frauen in der Gefolgschaft der sich seit den frühen 70er Jahren verstärkenden Frauenbewegung sehr stark im Banne von „Ich“-Welten. Das Erleben – durchaus auch das Erleiden – schliesslich das Erkennen der eigenen Situation, der eigenen Persönlichkeit in einem sich rasant wandelnden Umfeld forderte im künstlerischen Bereich entsprechende Bilder. Eine wichtige Zeit. Der quasi seismographisch  notierenden Zeichnung kam dabei eine bedeutende Rolle zu. Die Gestalten in Vreni Brands Bleistift-Blättern der frühen 80er Jahre – manchmal figürlich präsent, manchmal auch nur als Stuhl oder Sessel repräsentiert  – sind – gerade im Rückblick – zweifellos Spiegelbilder der damals eigenen Befindlichkeit. Es sind Figuren zwischen  Angst, Enge, Traum und Sehnsucht, oft eingebettet in eine phantastische Natur, dann und wann an der Grenze zwischen Wachstum und Ueberwuchern und damit auch Ersticken. Das Moment der Ambivalenz, etwas als positiv wie auch als bedrohlich sehen zu können, ist bis heute ein Charakteristikum in Vreni Brands Schaffen. Die Ich-Figuren sind aber nicht mehr da – oder wenn doch, sehr viel verschlüsselter. Auch dies entspricht der Entwicklung der Kunst von Frauen in den letzten Jahren. Sie wissen nun um ihre Möglichkeiten und nutzen sie in einer sehr viel freieren Art und Weise. Ist man auf der Suche nach Ich-Bildern, muss man sie mittlerweile bei den jungen Künstlern suchen. Doch das ist ein anderes Kapitel. Entscheidend ist hier, dass wir ein Bildgeschehen vor uns haben, das aus dem Privaten ausgebrochen ist und die Welt in ihrer Ausdehnung als Zeit und Geschichte in individueller Sicht zu fassen sucht.

Die Mittel, die Vreni Brand dabei verwendet, wurzeln im Surrealismus, in dem, was man in den 20er Jahren die  Pittura metafisica nannte, das heisst, in der erzählerischen Form der die Realität um unbewusste Strukturen erweiternden Ausdrucksform. Es gilt dabei zu bedenken, dass der Surrealismus in den 60er Jahren in einer betont phantastischen Form eine zweite Blüte erlebte. Was auch nicht wundert – war doch der Slogan der 68er einst „Die Phantasie an die Macht“. Vreni Brand war in den bewegten Jahren als Zeichenlehrerin in Olten tätig und fühlte sich wohl kaum direkt in dieses Geschehen involviert. Entwicklungen werden ja erst dann für einem relevant, wenn man innerlich dahin gewachsen ist und das kann oft zeitverschoben der Fall sein. Vreni Brand fand nach ihrem Umzug von Olten nach Rombach 1978 zur Basis der heutigen, nach wie vor surrealistischen  Ausdrucksform.

Mitentscheidend für die Entwicklung war das was Virginia Woolf einst als Grundbedingung der künstlerischen Entwicklung nannte, nämlich „Ein Zimmer für sich allein“, ein Ort somit, der die Freiheit ermöglicht, die eigenen Wände mit jenen des Raumes zu vertauschen und sich im gewonnenen Innen-Raum zu entfalten. Heute wie damals ist das Atelier für Vreni Brand ein existentielles Refugium, auch wenn sie sich ganz offensichtlich darauf freut und nun offenbar auch bereit ist dazu, im Rahmen eines grösseren Auftrages in den nächsten Monaten einen fremden Raum, den es rundum auszumalen gilt, temporär zum „eigenen“ zu machen. In Olten, selbstverständlich.

Der Aargau hat die Künstlerin anfänglich recht freundlich aufgenommen, doch war die Frage, ob die Freundlichkeit dem Werk oder der schönen Frau galt, nicht immer ganz geklärt. Wie dem auch sei, Vreni Brand hatte offensichtlich nicht ein sehr gutes Gefühl und zog sich nach einigen Jahren ziemlich stark aus dem gesellschaftlichen Kunstleben zurück, um sich ganz auf ihr Werk zu konzentrieren. Die Aargauer hatten nichts dagegen einzuwenden. Nur vereinzelt fanden Ausstellungen statt. In Olten respektive Solothurn hingegen wurde Vreni Brand immer als wichtige Künstlerin wahrgenommen. 1987 erschien im Akademia Verlag Olten das künstlerisch nach wie vor überzeugende Buch „In den Wind geschrieben“ – eine Zusammenarbeit mit Madeleine Schüpfer. 1989 erhielt sie einen Werkpreis des Kantons Solothurn, 1990 eine Auszeichnung der Stiftung Pro Olten, 1993 fand die bereits genannte Ausstellung im Kunstmuseum statt und vor wenigen Wochen erhielt Vreni Brand den Kunstpreis der Stadt Olten.

Ich bin froh, dass die Künstlerin nun in Brugg und nächstes Jahr in Zofingen mit einer Einzelausstellung gewürdigt wird. Man muss das eben Gesagte differenziert betrachten und nicht voreilig und einseitig auf irgendwelche Diskriminierungen schliessen. Richtig ist, dass es die sehr persönlichen Entwicklungsbilder aller Künstlerinnen immer sehr schwer hatten, in einer überregionalen Szene Anerkennung zu finden. Dann ist es aber auch so, dass surrealistische Ausdrucksformen im Moment ganz allgemein wenig Beachtung finden. Denken sie nur an die Ausstellung des Werkes von Ilse Weber im Kunsthaus Zürich vor einigen Jahren. Was hat die Ausstellung bewirkt: Nichts.

Es ist ein Stichwort gefallen: Ilse Weber. Sie stand Vreni Brand im Aargau lange Zeit irgendwie im Weg. Da die 1984 verstorbene Wettinger Künstlerin bei uns eine Art Instanz ist, mochte niemand so recht glauben, dass es da keine Beeinflussung gab, dass Vreni Brand erst Werke von Ilse Weber sah nachdem man ihr diese Beeinflussung nachsagte. Eine geistige Verwandtschaft ist zweifellos da, heute weniger als vor einige Jahren, doch auch da habe ich mir einmal die Mühe genommen, das genannte Buch  und die erste Monographie  über Ilse Weber Bild für Bild miteinander zu vergleichen. Und ich konnte nicht ein einziges Motiv oder Zeichen finden, das analog eingesetzt wurde. Was, diesmal heute mehr als früher, mitspielt, ist, dass beide Künstlerinnen mit trockener Temperafarbe arbeiten respektive arbeiteten und dass beide ihr entsprechendes Wissen beim Brugger Künstler Otto Kälin fanden respektive finden.

Gekannt haben sie sich nicht; als Vreni Brand im Aargau Fuss fasste, war Ilse Weber bereits am Packen für die Reise nach Amerika. Was indes viel wichtiger ist als diese Kleinlichkeiten, ist etwas anderes, nämlich die analoge Arbeitsweise, die ganz stark auf die Bilder, die sich aus äusserem und innerem Erleben zusammenfügen, ausgerichtet sind. Dieser Prozess, den wir vom Träumen her kennen, ist nicht nur vielschichtig, sondern auch in einem Bereich zwischen dem Wissen und dem scheinbaren Nichtwissen angesiedelt. Denken Sie nur daran, wie schwierig es ist, sich an Träume zu erinnern, wie man manchmal förmlich spürt, dass sie einem entzogen werden. Damit will ich nicht sagen, dass Vreni Brands Bilder Traum-Bilder sind, aber sie sind mit der Struktur von Träumen verbunden. Und es scheint, dass sich diese Strukturen nur frei entfalten können, wenn man sie nicht zu sehr ins analytische Tagesbewusstsein einlässt.

Es fällt jedenfalls markant auf, dass sich sowohl Ilse Weber wie Vreni Brand wie zum Beispiel auch Ruth Kruysse  – da könnte man auch Fäden spannen – immer dagegen gewehrt haben und es noch tun, ihre Bilder anders als formal oder technisch zu interpretieren. Ilse Weber, wohl die Radikalste der drei genannten Frauen – ging so weit, dass sie nicht einmal das Buch, das ihre Tochter über sie geschrieben hat, gelesen hat. Daraus müssen wir schliessen, dass für diese Künstlerinnen der Zugang zu dieser  Tag- Traum – Struktur etwas so Kostbares ist, dass sie es nicht durch Verbalisierung gefährden wollen. Das heisst nun nicht, dass wir stumm vor Vreni Brands Bildern stehen sollen und möglichst nichts denken, denn  wir kommen ja von der anderen Seite und wenn wir schauen, spiegeln wir uns in dem, was wir sehen. Das Werk, das für die Einladungskarte gewählt wurde, kann als Bild der Arbeitsweise von Vreni Brand gelesen werden.

Wie sehr oft ist die bestimmende Form eine Büste ohne materiellen Körper, als wollte die Künstlerin betonen, dass es sich um eine immaterielle Vorstellung, eben ein Bild, handelt. Ein lockerer, weisser Umhang mit einem Blatt-Muster liegt auf den „Schultern“. Darunter trägt die „Figur“ einen feingeäderten, hochgeschlossenen, dunkelgrünen Pullover. An der Stelle des Kopfes ist eine Art Kristall mit vielen Brechungen. Durch den transparenten Kristall wächst ein Ast nach unten und fächert sich aus. Der Ast hat jedoch an seinem unteren Ende eine Vogelkralle. Die goldene Farbe zeigt Kostbares an. Ueber dem „Kopf“ schwebt ein Lorbeerkranz, der sich aufzulösen scheint, wobei Buchstaben und andere Kürzel entweichen.

Die inhaltlichen Vernetzungen sind komplex – das spricht für die Dichte des Bildes. Es steht mir nicht an, die psychologische Struktur zu verbalisieren. Mich interessiert der Bezug zur Arbeitsweise der Künstlerin. Und da scheint mir sehr wichtig, dass sich im Innern des Körpers nicht einfach ein romantischer Zweig entfaltet, der quasi sagt, ach wie schön und warm ist es hier, sondern, dass da auch ein Kralle sitzt, die das Greifen und das Entfalten in eine existentielle Dimension situiert. Und über das Gold klingt die Alchemie an, der ewige Versuch des Menschen, über Verwandlung zum Vollkommenen, zum Gültigen zu gelangen. Sehr wichtig ist sodann dieser Kristall, oder besser dieses Bild, das für die Struktur eines Kristalls stehen mag. Die Kristallkugel gilt nicht umsonst als Arbeitsinstrument für Wahrsagende. Denn da brechen sich die Energien und erscheinen in neuer Form. Und das kann ein Bildprozess sein, und somit als Bild für die Bilder von Vreni Brand stehen.

Im Grunde genommen machen wir das alle tausendfach jeden Tag. Nur wissen wir es nicht so genau und können es uns letztlich auch kaum vorstellen. Wenn die Hirnforschung heute sagt, dass wir jede Wahrnehmung – sei sie optisch, akustisch, psychisch, intellektuell, wie auch immer – in unglaublicher Geschwindigkeit mit dem Gesamten Hirn-Speicher vernetzen und aufgrund dieser Vernetzung interpretieren, so ist das durchaus vergleichbar mit der Arbeitsweise von Vreni Brand. Nur kommt sie da sehr viel sinnlicher, sehr viel bildhafter zum Tragen und wächst selbstverständlich aus dem individuellen Füllhorn der Künstlerin. Und da kommt ein weiteres Moment aus der Hirnforschung: Ein Hirn hat Gewohnheiten, wobei selbstverständlich wir die Programme bestimmen.

Das heisst, für unseren Bewusstseinsprozess wählen wir meist dieselben „Ordner“ – die Computersprache drängt sich auf – um etwas nach aussen zu interpretieren. Grundsätzlich ist die Wahl in der Fülle der Möglichkeiten aber frei. Das freie Wählen nennt die Hirnfoscherin Martha Koukkou „kreativ“. Und gerade da wählt eine Künstlerin unter Umständen sehr anders als wir und kann darum Bilder freisetzen, die uns in ihrer Symbolik, ihrem vernetzten Reichtum überraschen. Im Kunstjargon sprechen wir dann eventuell von Surrealismus. Eigentlich gibt es das gar nicht, der Mensch ist so komplex und bild-reich wie uns das zum Beispiel die Kunst von Vreni Brand zeigt.

Nun ist aber noch etwas anderes wichtig: Vreni Brands Schaffen der letzten Jahr wurde immer wieder mit der italienischen Renaissance in Verbindung gebracht. Nicht primär im Sinne einer Verwandtschaft ihrer Bilder mit jenen der grossen Renaissance-Maler Venedigs und Florenz‘, sondern im Sinne gewisser Motive – zum Beispiel der Kleider, auch der Tradition des Brustporträts, des alten Buches, gewisser Architektureigenheiten usw. Und das Spekulieren über die Gründe ging bis hin zu möglichen Erinnerungen an ein früheres Leben. Ich will das nicht verneinen, aber man muss nicht so weit gehen. C.G. Jung sprach von einem kollektiven Unbewussten, das unter anderem sagt, dass wir alle die Vergangenheit in uns gespeichert haben. Man könnte mit dem physikalischen Grundsatz, dass Energie nicht zerstörbar, nur wandelbar ist, auch sagen, dass die Vergangenheit als Energie im Raum ist.

Wenn nun eine Künstlerin sich mit einer ganz bestimmten Zeit befasst – nicht einseitig wissenschaftlich, sondern eher durch Präsenz, Schauen und Beobachten – dann ist eine Annäherung nicht mehr so weit weg. Vreni Brands Liebe zu Florenz, zu den Malern dort, der Geschichte dort geht bis in ihre Studienzeit zurück. Und immer wieder hat es sie dahin gezogen. Aus dieser Liebe wuchs untere anderm das Interesse für die lateinische Sprache, die sie in den 80er Jahren büffelte analog ihren Töchtern. Jetzt gerade steckt die Künstlerin in Altgriechisch-Studien und es wird sich weisen, wie sich das in die Bilder übertragen wird. Das Latein jedoch hilft bei Aufenthalten in Florenz da und dort alte Inschriften zu entziffern und das löst in ihr offenbar so etwas wie Glücksmomente aus, genauso wie das Betrachten der Bilder der Renaissance-Maler. Ob das nun Erinnerung spiegelt, kollektive Nähe oder ganz einfach Ausdruck einer Wahl-Welt ist, die durch die Zeit hindurch immer persönlicher wird und eminent fiktiven Charakter hat, in die sich letztlich eine ganze künstlerische Welt packen lässt, spielt eigentlich keine so grosse Rolle. Sie ist bezogen auf den künstlerischen Ausdruck eine Art subjektive „Heimat“ – ein Stück Denk- und Befindlichkeitswelt, die als Welt-Bild zum Ausdruck der eigenen Bild-Welt wird. Und vielleicht müssen wir als letztes noch etwas bedenken: Bücher über Piero della Francesca sind zur Zeit fast so etwas wie Bestseller im Kunstbuch-Sektor und seit seinem 450. Todestag ist Paracelsus wieder zum Allgemeinwissen geworden. Und zwar darum, weil wir heute, da die Uhren auf Fünf vor Zwölf stehen, gemerkt haben, dass die Denker vor der Aufklärung in einer Ganzheitlichkeit dachten, die uns abhanden gekommen ist. Vreni Brand hat deutlich vor dem Boom diesen Bezug in sich gefunden. Auch das ist Teil des Bildschaffens von Vreni Brand.

Ich wünsche Ihnen beim Genau Hinsehen und frei Vernetzen der Wahrnehmungen spannende Momente. Ich danke fürs Zuhören.