Linien im Rhythmus von Gehen und Stillstehen

Gedanken zu den Zeichnungen von Mette Stausland

Von Annelise Zwez

Mit ihrer feinen, langgliedrigen Hand fährt Mette Stausland über das Papier – die Bewegung hat einen Hauch von Zärtlichkeit an sich und der Ausdruck des Körpers lässt etwas von der Intimität ahnen, die sich beim rhythmischen Ziehen der Linien, beim Verdichten der Striche zu kleinen Feldern vollzieht. Ob es sich dabei um Rollen besten französischen Zeichnungspapiers in Halbkartonqualität handelt oder um die vergilbten Seiten eines alten Stoffmusterbuches, ist nur an den begleitenden Worten unterscheidbar.

Lange Zeit hat Mette Stausland ausschliesslich gebrauchte Papiere verwendet, alte Schulhefte zum Beispiel, und ihrer diktierten Geschichte Mass und Zahl der eigenen Rhythmen entgegengesetzt: Einzelne, untereinander verbundene, oft längliche, dunkle Zonen – weder geordnet, noch ungeordnet und doch im Gleichgewicht. Wortlose Erzählungen.

Dann, die Lust, aus der Beschränkung vorgefertigter Papiermasse und aus der Einengung des Reagierens auf Vorgelebtes auszubrechen. Rollen billigen Recycling-Halbkartons müssen zunächst für die neuen Experimente genügen. Das ist zu Beginn des Jahres 1993. Die Hand- und Armbewegungen des Schreibens im Stehen oder Sitzen reichen nicht mehr aus, der ganze Körper wird in den Prozess des Gestaltens einbezogen. Formal ist die neue Struktur in Kleinformaten von 1992 bereits vorbe-reitet: Leicht angerundete Papiere mit unregelmässigen, waagrechten Linien und verdichteten Markierungen in den Zwischenräumen, die sich auf Distanz zu einer Art Zickzack-Vertikalen verbinden.

Die Grossformate fordern einen längeren Atem, es gilt das Ziehen der waagrechten Linien mit dem Ueberkreuzen der Füsse im Seitwärtsgehen in Einklang zu bringen, die Bewegungen des Körpers in den Rhythmus der Zeichnung zu übertragen. Der Bleistift ist nicht mehr geeignet; die breiter zeichnende Kohle geht leichter mit und die Kraft ihrer Schwärze gibt mehr Präsenz. Um den Kontakt zwischen Körper und Papier uneingeschränkt zu spüren, schiebt Mette Stausland den Bildträger hinauf- oder hinunter, je nachdem ob sie die Zeichnung steigend oder sinkend wachsen lässt. Das Gehen und das Ziehen der Linien in der Bewegung von rechts nach links wechselt mit dem Rhythmus des schrittweisen Akzentuierens der Zwischenräume mit verschieden grossen, schwarz verdichteten Vierecken. Die Porportionen ergeben sich aus den Bändern zwischen den sich weich wellenden Waagrechten und aus der körperlich-geistig-seelischen Befindlichkeit der Künstlerin in der Konzentration der Arbeit. Der Vergleich mit dem Setzen von Viertel- Achtel- und halben Noten respektive Pausenzeichen schiebt sich gedanklich über die Ebene des Bildgestalterischen.

Die frühen Grossformate tragen die äussere Struktur der in den letzten zwei Jahre enstandenen Arbeiten in sich, doch die Ausweitung des Werkes ist nicht Variation, sondern Verdichtung und Vertiefung. Die Arbeits­prozesse ähneln Exerzitien – Stunden um Stunden zeichnet und zieht die Künstlerin ihre Striche auf dem Papier. Sie spannt es auf weiches Sperrholz, um beim „Schreiben“ den Widerstand zu verringern und Körper­kräfte zu schonen. Bis zu 56’000 Feldchen sind auf einem einzigen Papier. Das Geist-Körperbewusstsein wechselt im Laufe der Arbeit zwischen Nähe durch Eintauchen, Gehenlassen, Rhythmus bewahren und Distanz durch aktives Schauen, prüfendes Ueberdenken und waches Erfüh­len. Das Vor und Zurück, das sich im Atelier auch räumlich vollzieht, entspricht einem Prozess von Lösen und Halten, von immer besser Kennen und verfeinert Reagieren, von Wissen um Bildkraft und Steigern von Wirkung. Impulse werden zu Rhythmen, Schwingungen werden zu Sprache, die Fläche wird zum Raum, das Bild wird zur Welt(erfahrung).

Es gehört zu den wesentlichen Eigenschaften der Arbeiten von Mette Stausland, dass sie geradezu körperliche Wahrnehmungsprozesse auslösen. Nach längerem, konzentriertem Hineinschauen, das einem den ganzen Hirnraum spüren lässt, beginnt die Fläche in den Raum zu wachsen, die hellen und dunklen Feldchen werden zu Kuben in auf- und abschwellenden Bewegungen entlang der Bildrichtung. Eine gigantische Stadt oder ein bisher unbekannter Mikrokosmos?  Das Benennen ist unwichtig, denn die Substanz liegt im Sehen selbst, in der Wahrnehmung des Schauens als Prozess des Wandels. Bleibt man ohne zu Blinzeln im Bild, beginnt sich auch die Statik aufzulösen, die Bildstränge vibrieren und Farbe stellt sich ein. Optisch lässt sich das alles erklären, aber was soll die Erklärung, wenn die Essenz die Erfahrung ist, es nicht um Op-Art geht, sondern um geformte, lebendige Bild-Landschaft.

Die neuesten Arbeiten, deren Linear-Struktur vertikal angelegt ist, zeigt dieses bewusste Umgehen mit Bildgestaltung. Die weiche Ausdehnung in der Horizontalen, die aus der Sicht des Körpers einem Oeffnen in die Weite entspricht, erfährt in der vertikalen Struktur eine radikale Aenderung. Die Frontalität des parallel zum Körper verlaufenden Hinauf und Hinunter erzeugt – obwohl erst auf den zweiten Blick fassbar – eine ganz andere, kompaktere, spannungsgeladenere Wirkung. Unsere Augen „lesen“ die Welt normalerweise waagrecht und schräg, ohne äusseren Grund nur selten vertikal. Darum ergibt sich beim Betrachten der vertikal strukturierten Zeichnungen von Mette Stausland eine Konfrontation anstelle des Gleichmasses in den waagrecht angelegten Arbeiten. Das Gleiten im Bild wird immer wieder gestoppt, umgeleitet, abgedrängt, zurückgeführt. Das macht die Bilderfahrung  reicher und spannender, aber auch unsteter.

Die sich über Wissen, Erfahrung und Analyse ausweitenden Werkdimensio­nen werden auch von einem breiteren Einsatz verschiedener Papiere –  zum Teil auch wieder gebrauchter – getragen; Papiere von verhaltener Farbigkeit und feiner Struktur zum Beispiel. Farbigkeit, die neuerdings auch als Kreidestrich erscheint, und vielleicht in Zukunft die schwarze Kohle mehr und mehr ergänzen wird, ohne freilich dem zeichnerisch-skripturalen Werkcharakter von seiner Bedeutung, seinem Reichtum, seiner Raumfülle, seiner wortlosen Wandlungskraft zu nehmen.