Vernissagerede für Hans Thomann anlässlich seiner Ausstellung in der IG Halle Rapperswil, 22. November 1996

von Annelise Zwez

 Sehr geehrte Damen und Herren, lieber Hans

Hans Thomann ist Plastiker und Maler. Was er uns in dieser Aus­stellung zeigt, sind alle wichtigen plastischen Arbeiten der letzten 11/2 Jahre. Sie zeigen in einer dichten und bewusst verknüpften Konstellation den Stand der Dinge im Bereich der materiellen Form, der greifbaren Substanz. Die Plastiken sind im Verhältnis zur Malerei so etwas wie die Aussen-Form, aller­dings nur sehr bedingt im Sinne eines Abbildes der Welt. Wer oder was zeigt schon im Aussen, was er, sie oder es im Innern ist. „Der Gedanke ist Skulptur“, sagte Joseph Beuys. Man könnte, gerade hier am Zürichsee, um C.G. Jung erweitern und sagen: „Das Selbst ist Skulptur“. Die dreidimensionalen Arbei­ten von Hans Thomann suchen Nähe zu dieser Form,im Austausch mit der materiellen Erscheinung, der einzigen, für uns real greifbaren. Hans Thomann sagt denn auch sehr bezeichnend: „Was mich interessiert, ist nicht die Skulptur, die Form, das Mate­rial, sondern der Umraum, die Zone um die Form herum“.  Wir denken aufgrund dieser Aussage wohl zunächst an einen Bereich ausserhalb der Skulptur bis hin zum architektonischen Raum. Auch ich sprach anlässlich der Eröffnung der Ausstellung von Hans Thomann in der Kunsthalle Prisma in Arbon am 1. September dieses Jahres von der „auratischen“ Zone, die Hans Thomann interessiere. Aber das stimmt eigentlich nicht ganz. Denn die Skulpturen von Hans Thomann sind aus rein praktischen Gründen hohl. Im Falle der drei übereinander plazierten Köpfe können wir das hier verifizieren, in den anderen Arbeiten bleibt es uns visuell verborgen. Aber erinnern wir uns: Frühere Arbeiten des Künstlers waren sehr oft Skelette aus Armierungseisen, die nur teilweise mit Ferrozement ummantelt waren, den Luftraum innerhalb der Form also sehr stark betonten. Hans Thomanns Aus­sage bezüglich der Umform, die ihn interessiere, benennt somit sowohl das Aeussere wie das Innere. Haben Sie sich schon mal überlegt, wo sich ihre Gedanken, ihre Gefühle, die heutigen, die gestrigen, die vorgestrigen befinden? Gewiss, wir generie­ren alles im Kopf, aber ist es dann auch dort? Denken wir kurz an die Akupunkturpunkte in unserem Körper, die verschiedenste Orte miteinander verbinden und zwar nicht nur physische, sondern auch psychische. Und denken wir an unsere Gefühle bei Begegnungen mit anderen Menschen, in unterschiedlichen Räumen. Die Annäherung an die Skulpturen von Hans Thomann muss dieser Aufmerksamkeit für den Umraum folgendsomit  die physische, die psychische und die geistige Ebene umschliessen. Das lässt sich so schön sagen, wie aber ist es in die Skulpturen eingeschrie­ben? Es muss ja sichtbar sein, um dem Anspruch an eine visuelle Umsetzung zu genügen. Schauen wir uns einige Arbeiten etwas näher an. Die drei Reliefs gleich beim Eingang geben uns so etwas wie den Code, die Richtung, in welche wir uns innerhalb unserer Denkräume bewegen sollen. Wir erkennen längsgestreckte Ovale, eingeritzt, vertieft oder erhöht, wir sehen Lochstrei­fen, die vom Dunklen ins Helle führen, aber nur in einer Mittelzone selbst hell sind. Oben und unten erscheinen zudem Köpfe und alles ist eingebunden in eine Art plastische Malerei, wie sie dem Relief entspricht, die Form, die Schrift, die Zeichen – halb draussen und halb drinnen. Das Oval hat viele Bedeutungen – wir finden es nicht nur in den Reliefs, sondern auch auf der Körperoberfläche der Raben, auf der Säule, an die sich die eine Halbfigur anlehnt und dann natürlich in der grossen Metallform, die eine Säule umschliesst und den beiden Figuren auf den Schultern lastet. Hans Thomann belässt es bei der Vieldeutigkeit, nennt im Gespräch als Gewichte aber doch das Auge und das Schiff als Assoziationsfelder. Ich nehme noch den Samen dazu. Das Leben, das Reisen, das Sehen, das Wahrneh­men – da sind wir wohl in der Nähe. Fahren wir weiter damit. Die Ruder hat uns Hans Thomann bereit gelegt. Schon von ihren  Dimensionen her, zieht uns die überlebensgrosse, weisse Figur in Bann. In der Installation in Arbon stand sie überhöht auf einem  Sockel, das Gesicht auf die zwei Halbfiguren mit der gemeinsamen Leiter gerichtet. Hier ist sie stärker integriert, durch ihre weisse Farbe, ihre stark gefurchte Oberfläche, ihre Grösse scheint sie aber doch an einem anderen Ort zu sein. Ihre physische Präsenz kontrastiert mit ihrer Bewegungslosigkeit, letztlich ihrem schonungslosen Da-Sein mit all den Verletzungen und Narben auf ihrer Haut. Nackt wirkt sie. Mit den wenig ausgeprägten Armen und Händen schützt sie Herz und Geschlecht. Ihre Schulterblätter sind wie Ansätze oder Ueberreste  eines Fortsatzes… Flügel ….. vielleicht. Trotz der Härte des Materials, aus dem sie geschaffen ist,  wird sie für uns zu einem ausgesetzten Emotionalkörper. Es ist als wäre sie der Spiegel ihres eigenen Lebens, ihrer eigenen Biographie mit allem, was das beinhaltet. Ihr Weiss ist nicht ihre Unschuld, ihr Weiss ist der Grat, an dem sie sich befindet; vielleicht ist es der Scheideweg zwischen Leben und Tod, vielleicht aber auch eine ganz andere Grenzsituation.

Eine Grenzsituation ist ein Ort am äussersten Rand, welcher Art auch immer. Hans Thomann hat früh in seinem Leben die Faszina­tion von Zuständen jenseits der gängigen Ratio erlebt und erkannt und später immer wieder erprobt. Am Anfang – Hans Thomann war kaum über 20 Jahre alt – wirkte er in einem Theaterexperiment mit, das sehr stark auf körperliche und geistige Erfahrung ausgerichtet war und erhielt darin die Rolle des Bösewichtes. Er lebte sie so sehr, dass er Dimensionen seiner selbst spürte, die ihn erschreckten, an Abgründe führ­ten, die vielleicht nur besser kennt, wer einmal in einem Krieg gekämpft und damit auch getötet hat. Vielleicht haben ihn diese Erkenntnisse überhaupt zur Kunst geführt. Als er Mitte der 80er Jahre einmal in einer künstlerischen Krise war, begann er mit verstopften Ohren und verbundenen Augen zu zeichnen. Auch im Drogen- oder im Alkohol-Rausch malte und zeichnete er. Einmal realisierte er in Burgdorf eine Ausstellung während 100 Stunden absoluten Schweigens. Und ein andermal liess er sich in einem Ausstellungsraum 24 Stunden einsperren, stets auf der Suche nach der Erweiterung und den Grenzen der Wahrnehmung. Dass es dort andere Empfindungen und Geschichten und Realitäten gibt als im Alltag, liegt auf der Hand. In Ansätzen – und sei es auch nur im Traum – haben wir dies sicher alle schon erlebt. Gängig verbinden wir diese Grenzerfahrungen vor allem mit ihrer negativen Seite, der Drogenproblematik zum Beispiel. Man kann sie aber auch positiv leben und gewinnt dort Einsichten – in Form von Bildern – die ungeahnten Reichtum beinhalten. Für Hans Thomann gehört auch seine kurzzeitige Freundschaft mit einem Sterbenden, sein eigenes Erleben monatelanger  Krankheit hiezu und ebenso das religiöse Erbe. Hans Thomann ist nicht – wie viele Künstler des 20. Jahrhunderts – abhängig von Grenzerfah­rungen, um seine Kunst voranzutreiben, aber er sucht ihnen – in den Plastiken als Form, in der Malerei eher als Bewegung –  Ausdruck zu geben. Die Ausstellung, die er hier in Rapperswil realisiert hat, bezeichnet er als Stationen einer Reise. Die Plastiken wären somit eine Art Startplätze für Reisen in die eigene Wahrnehmung, wobei diese Orte von Anfang an in die Meta-Ebene verschoben sind. Die Köpfe, die Figuren – sie haben keine Augen in unserem Sinn, ihr Blick ist anderswohin gerichtet. Und die Raben, die Augen haben – sie kommen von dort, sind nur kurzzeitig hier. Raben waren immer geheimnisvolle Tiere – in den nordischen Sagen gehören sie zum Göttervater Odin, verkör­pern Gedanken und Gedächtnis, vermitteln zwischen den Zonen und auch in Märchen zeigen sie oft den Weg oder sie sind Verwan­delte. So stehen die Figuren und die Raben im Austausch, an der Grenze zwischen hier und dort.

 

Die Thematik des künstlerischen Schaffens von Hans Thomann ist nicht ganz ungefährlich. Echt und falsch sind oft nahe beiein­ander. Mit Schwärmerei hat Hans Thomann indes nichts am Hut. Er steht zwar gerne zu seinem barocken Empfinden und verneint auch einen gewissen Hang zur Romantik nicht – aber in die Umsetzung pflanzt er gerne Widerhaken. Wie, zum Beispiel, kommt es, dass der Künstler ausgerechnet mit Ferrozement arbeitet, einem Mate­rial, das selbst wenn wir uns ihm zuwenden nichts als Härte und Unnahbarkeit ausstrahlt. Mich irritierte das sehr lange. Denn es schien mir so paradox im Verhältnis zur Inhaltlichkeit. Bis ich dann merkte, dass dieses Paradox ganz bewusst gemeint ist und zwar aus verschiedenen und erst noch konträren Gründen. Unsere Gesellschaft ist ganz primär eine rationale und zum Teil extrem materialistische. Der Reichtum einer Reise in unbekannte Wahrnehmung, was bringt das schon – erst vor ein paar Tagen habe ich in der Zeitung wieder einmal gelesen, dass Künstler „Paradiesvögel“ seien und dass man solche in Zeiten der Rezes­sion nicht noch zusätzlich fördern sollte. Die Härte des Mate­rials meint aber nicht nur diese Mauer, denn sie ist gleichzei­tig auch Schutzmantel für das eigene Empfinden. Für Gedanken sind Mauern keine Hindernisse, aber sie schützen vor Uebergrif­fen und man kann sie nutzen als Blockaden. Ich denke, die Härte des Materials meint noch etwas Drittes. Bedeutungen sind wie Schichten. Der Ferrozement beinhaltet für mich – heute – auch die Anstrengung, die es zu leisten gilt, die eigene Weltsicht auch wirklich zu leben. Es lässt sich nicht so leicht von der einen in die andere Ebene hüpfen. Und diese gibt sich auch nicht so leicht preis. Ueber Drogen schon, werden sie vielleicht einwenden – aber dann gelingt so oft die Rückkehr nicht mehr, das Innen und das Aussen verlieren ihre Kommunika­tionsfähigkeit. Offenbar brauchen wir die Mauer. Es ist eigen­artig – mein Widerstand gegen das harte Material, das mich schmerzt, wenn ich es mit der Hand umfahre, hat sich durchs Nachdenken darüber in Zuneigung gewandelt. Wenn die Yogalehre­rin am Schluss der Stunde sagt, wir sollen jetzt unseren Schutzmantel wieder überstreifen, denke ich manchmal an Hans Thomann.

Die Widerhaken, von denen ich gesprochen haben, sind nicht nur im Material begründet, sondern oft auch in der Gestaltung selbst. Schauen wir uns noch zwei Arbeiten an. Das Halbfiguren­paar mit der gemeinsamen Leiter. Sie steckt in beider Schul­tern. Ich habe nicht den Eindruck, dass sie ihre Körper verlo­ren haben, sie stecken für mich in der Erde, in der Materie. Wollen  die beiden die Leiter erklimmen, bleibt ihnen nichts anders übrig, als sie gemeinsam in ihre Körper hinunterzuzie­hen, und damit selbst zur Leiter zu werden. So einfach ist das nicht und eigentlich sind wir jetzt schon wieder dort, wo wir eben beim Nachdenken über den Ferrozement waren. Das eine ist im andern enthalten. Und dasselbe gilt auch für die grösste Figur hier im Raum – sie war diesen Sommer in einer grossen Freilichtausstellung in Bex im Kanton Waadt installiert; sie umarmte dort nicht eine Säule, sondern einen Baum. Was dort der Naturkontext an Inhalt einbrachte, übernimmt hier die Architek­tur; das Gewachsene und das Gebaute; hier wie dort zeigt sich, dass eine Reise nur möglich ist, wenn wir das Gewachsene und das Gebaute mitnehmen. Es bedarf wohl keiner Erklärung, warum das Eisen den beiden so schwer auf den Schultern lastet; wir wissen ja alle, dass wir unser Leben selbst auf Traumreisen mitnehmen. Ich wünsche trotzdem eine gute Reise und danke fürs Zuhören.