Vernissagerede anlässlich der von der Kunstkommission Aarau veranstalteten Ausstellung von

Serena Amrein und Matthias Blülle

  1. August 1997

 

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Serena Amrein, lieber Matthias Blülle

Ich denke, es gibt keinen anderen Kanton in der Schweiz, der neben einem kantonalen Kunstmuseum so viele städtische Galerien betreibt wie der Aargau: Aarau, Baden, Brugg, in etwas anderen Struktur Zofingen, Wettingen, im Kleinen auch Lenzburg. Hinzu kommen die von Kulturkommmissionen in den Gemeinden veranstalteten Ausstellungen. Kunst hat dadurch im Aargau öffentlichen Charakter. Zweifellos ist das ein Ausdruck der starken Regionalisierung des Kantons, der es umgekehrt privaten Galerien kaum ermöglicht, zu überleben. Ich bin mir nicht schlüssig, ob das nur gut ist.

Wichtig scheint mir, zu beobachten, inwieweit die Verantwortlichen  die Chance des öffentlichen und damit in weniger ausgeprägtem Mass kommerziellen Ausstellungsortes nutzen. Ich sage, in einem weniger ausgeprägten Mass kommerziell, weil die Struktur des Ausstellens dort, wo Kunst verkäuflich ist, wo der Verkauf für die Kunstschaffenden letzlich existentiellen Charakter hat, immer eine kommerzielle ist und zwar in einem durchaus kunst- und kulturfördernden Sinn, sofern die Qualität stimmt. Die Kunstkommission Aarau hat ihren Auftrag bisher einer geglückten Gratwanderung zwischen kulturpolitischen und künstlerischen Aspekten genutzt, so weit zumindest wie es der Ort zulässt. Man kann hier natürlich nicht dasselbe machen wie, zum Beispiel, in einer alten Fabrik. Denken sie aber an die Ausstellung von Marianne Geiger mit den vier Holz-Guck-Kasten oder an die mit Sensoren ausgerüstete, Kreislauf-Arbeit von Thomas Oehler – es wird versucht, die Grenzen hinauszuschieben.

Nur Vorsicht: Nicht alles an den äusseren Grenzen ist a priori qualitätvoll. Qualität ist etwas ganz schwierig zu Definierendes. Ich für mich selbst kann dann die Bandbreite sehr weit fassen, wenn ich einem Kunstschaffenden glaube, was er macht. „Glauben“ ist nicht so vage wie man denkt, denn es stellt sich nur ein, wenn Intensität im Raum ist. Ich gebe gerne zu, dass ich manchmal erst sicher werde, wenn ich die Möglichkeit habe, die Kunst und die, welche sie geschaffen haben, miteinander zu erleben. Denn da passiert sehr viel. Die Worte sind eines, die halben Sätze, die auf Dahinterliegendes verweisen mehr, das Entscheidende ist aber etwas Immaterielles, das durchaus auch mit meinem eigenen Echo zu tun hat. In nichts, was wir machen, sind wir objektiv, sondern immer sich am Objekt entzündendes Subjekt. Der langen Rede kurzer Sinn: Ich freue mich, hier über die Arbeiten von Serena Amrein und Matthias Blülle zu sprechen. Ich werde versuchen, Ihnen darzulegen, warum ich beiden glaube, was sie in bildnerische Produkte umsetzen, auch wenn sie – sie haben es bereits gesehen – formal und inhaltlich ausgesprochen verschieden arbeiten.

Voraus jedoch noch ein kulturpolitischer Gedanke. Ich denke, es muss Aufgabe einer städtischen Galerie in der Kantonshauptstadt sein, Beziehungen, welcher Struktur auch immer, zu stärken. Im konkreten Fall, eine Künstlerin, die für ein Auslandjahr nach Berlin zog und dort – wie viele vor ihr – „hängen“ geblieben ist, mit der Region ihrer Herkunft in Beziehung zu halten und zwar durchaus beidseitig. Serena Amrein ist in den 60er/70er Jahren in Lenzburg aufgewachsen, blieb nach dem Diplom an der Höheren Schule für Gestaltung in Zürich, zunächst noch eine kurze Weile da und zog dann 1990 ein erstes Mal nach Berlin, lebte zwischendurch in Darmstadt, mit einem Stipendium des Aar­gaus 1994/95 in Paris und ist nun in Berlin so etwas wie sesshaft geworden; nicht weil ihr Kunstschaffen da auf grosses Echo stiesse, im Gegenteil, ihr konzeptueller, verhaltener – soll ich sagen aargauischer? –  Ansatz steht konträr zur expressiv-informellen Tradition Berlins. Doch vielleicht ist ja gerade das fruchtbar, wenn eine Liebesbeziehung den Kraftort dazu bildet. Wir jedenfalls freuen uns, dass es direkte Züge von der Schweiz nach Berlin und vice versa gibt, und so ein Austausch möglich ist.

Ganz typisch aargauisch hingegen ist es, dass hier das, was für Berlin leicht nachvollziehbar ist, auch für Aarau und Baden, der primären Wirkstätte von Matthias Blülle, gilt. Wie oft sind Sie in Aarau, wenn Sie aus Baden stammen? Wie oft sind sie in Baden, wenn sie in Aarau zuhause sind? Da sind wir die uralten geschichtlichen Strukturen noch lange nicht los. So kommt es, dass Matthias Blülle, obwohl seit 15 Jahren im Aargau als Maler tätig, mit Ausnahme der Beteiligungen an den kantonalen Jahresausstellungen im Kunsthaus, noch nie in Aarau oder Umgebung ausgestellt hat, ganz im Gegensatz zur Region Baden-Brugg. Und dies obgleich der Künstler vor einigen Jahren 6 Monate im Atelier von Maja Aeschbach im Kiff gearbeitet hat und von sich selbst sagt, er habe gute Beziehungen zu Aarau. Dennoch ist also auch hier – fast ist’s beschämend – Austausch gefordert und überdies eine Stärkung gesamtkantonalen Denkens dringend.

Als ich am Mittwoch im Gespräch mit den beiden Kunstschaffenden Serena Amrein verhalten fragte, ob  die in ihrer Berufsausbil­dung erworbenen Fähigkeiten des Schneiderns und des Umgangs mit Schnittmustern die Struktur, die Arbeitsweise ihres freien künstlerischen Schaffens wohl beeinflusse, zögerte die Künstle­rin zunächst, verwies dann aber doch auf die Bedeutung des Umsetzens von einer Sprache in eine andere und auf die Bedeutung räumlichen Denkens beim Schneidern von Kleidern einerseits, bei ihrer künstlerischen Arbeit andererseits. Ich hatte dieses Zögern erwartet; das angewandte und das freie Schaffen stehen immer noch im Clinch miteinander und Künstlerinnen, die über einen typischen Frauenberuf in die kreative Aeusserung einge­stiegen sind, wissen oft nicht recht wie ihr Vis-à-vis reagiert. Ich denke, wir sind uns einig, dass Serena Amreins Zeichnungen und Kartonarbeiten nichts mit Kleidern und nichts mit Schneidern zu tun haben. Aber es reizte mich, zu konstatieren, wie künstle­risch fruchtbar es sein kann, über irgendeine verrückte Berufsausbildung in die Kunst einzusteigen, um aus dem spezifi­schen Können und Denken in irgendeiner Art Gewinn für die Gestalt der eigenen bildnerischen Welt zu schaffen.

„Nicht immer ist das so“ warf Matthias Blülle mit einem beinahe hörbaren Seufzer ein. Es ist bekannt, dass die Graphiker – Matthias Blülle hat eine entsprechende Ausbildung mit Diplom der Schule für Gestaltung in Zürich – oft sehr viel Kraft brauchen, Ausbildungs-Ballast über Bord zu werfen, um frei zu werden. Die Bildstruktur da und dort macht das Einflussnehmen des Angelernten manchmal zu einfach. Aber, anders gedacht, ist Matthias Blülles Ausrichtung auf das Informel, seine intensive Auseinandersetzung mit dem malerischen Prozess, seine bewusste Ausrichtung auf Malfelder, die keine fassbaren Worte vermitteln und schon gar keine Werbung für etwas machen, nicht gerade darum so intensiv, weil sich der Künstler der Gefahr bewusst ist?

Lassen sie mich nun auf die Werke einzeln eingehen:

Ich habe vorhin einen provokativen Einschub gemacht, als ich Serena Amreins Berliner Arbeiten eine Aargau-Connection zuord­nete. Dieser Aspekt ist nur einer im Ganzen. Aber es fällt mir immer wieder auf, wie unglaublich stark hier das strukturelle Moment des sogenannt „Autopoetischen“ ist, das heisst, eine konzeptuelle Arbeitsmethode, die sich Bedingungen schafft, aus der heraus sich die Kunst wie von selbst ergibt. „Vater“ dieser hier vital vertretenen Haltung ist für mich ganz klar Max Matter und die „Mutter“ die Pendlerin Emma Kunz, weil Max Matter anläss­lich ihrer ersten Ausstellung, 1973/74 im Aargauer Kunsthaus, das als Credo des  Künstlerischen für sich erkannte.

Was heisst das hier: Serena Amrein zeigt primär zwei Werkgrup­pen. In den Zeichnungen schafft sie in intuitiver Konzentration und in einem einzigen Strich konstruktiv-lineare Formationen unterschiedlicher Dichte und Grösse. Dann fotokopiert sie die Zeichnungen einerseits und schneidet sie den Linien entlang – so dass wir das Konstruktiv-Lineare als Umriss-Gerüst eines dreidi­mensional wirkenden, kristallinen Gebildes sehen. Das ist aber nicht die Essenz. Die Fragestellung lautet: Wie lang ist eine Zeichnung? Denn das Original zerschneidet die Künstlerin und klebt es als gerade Linie auf die karierte Doppelseite eines Heftes. Kleine Zahlen verweisen auf die Addition der Linien respektive der Zentimeter. Was heisst das nun, eine 229.3, eine 209.2 eine 98.1 Zentimeter lange Zeichnung? Zunächst ist da einmal die erwähnte Umsetzung von einer Darstellungsform in einen andere, da ist die Ausdehnung in zwei Formen, da ist Linie, Raum und Dichte. Da ist als wesentliches Element aber auch die praktisch identische Länge bei unterschiedlicher Form. Es sind sehr einfache Arbeiten,  die indes in ihrer Verhal­tenheit und Konsequenz, ihrem Ausbreiten einfachster „So ist“ – Gesetzmässigkeiten eine Haltung verkörpern, die unserer Zeit zu widersprechen scheint, weil sie oft vergisst, dass selbst komplexeste Codierungen im Kern auf ganz einfachen Schemen aufgebaut sind.

Die zweite Werkgruppe ist zunächst anderer Art. Serena Amrein arbeitet projektbezogen. Ausgangspunkt ist ein klein-querforma­tiges Fotoalbum, das die Künstlerin ohne Fotos fand – es wurde wohl beim Aufräumen eines Nachlasses weggeworfen. Die verschwun­denen und zugleich durch die Fotoecken als Formate immer noch vorhandenen Bilder, faszinierten sie – als Thema und Ausgangs­punkt. Sie behielt in der Umsetzung Albumformat und Buchdicke bei, setzte sie aber in ein rechteckiges, schwarzes Kartonobjekt um. Danach schnitt sie die „Fotos“ in der vorgefundenen Grösse und Position heraus und setzte sie als Schachtelobjekte – als „black box“ – analog dem Aussenformat wieder ein. Zuletzt klebte sie an die vier Ecken Buchbinderleinwand in Form und Farbe der einstigen Fotoecken. Sie tat dies, wie die kleinen Formate im 1. Stock zeigen, 1:1 oder nahm, in den grösseren Formaten, 12 der ingesamt 27 Albumseiten zusammen, wobei sie die Abfolge der Seiten, somit die Komposition, durch Los bestimmte.

Zunächst fasziniert uns sicher die handwerkliche Rafinesse, mit der die Arbeiten gefertigt sind, so zum Beispiel, dass die schwarzen Foto-Formatbegrenzungen die Schneideflächen der unsichtbar nach innen gebauten „Schachteln“ sind. Was aber steckt dahinter? Vielleicht stossen wir darauf, wenn wir beob­achten, was beim Schauen abläuft. Wir setzen unwillkürlich Fotos, die wir aus unserem eigenen Leben kennen, in die leeren Felder. Der schwarze Karton erinnert mich an alte Alben, also sitzen und stehen da zum Beispiel meine Gross- oder gar Urgross­eltern und in der Ferne ist der Bielersee zu sehen. Das ist aber nicht relevant, entscheidend ist die Struktur, die „Formel“ quasi. Serena Amrein schafft für die verschwundenen Bilder unsichtbare Schachteln, thematisiert damit einerseits ihr Absin­ken in den Grund, gibt andererseits Platz für unsere  eigenen Lebensgeschichten, die – Fotos hin oder her –  im Grunde nur in unserer Vorstellung existieren und so mit unserem Tod genauso verschwinden werden wie sie aus dem Orginalalbum entfernt wurden. Das ist die persönliche Seite; da ist aber – und das scheint mir die Qualität der Arbeiten von Serena Amrein zu sein – auch in Projektzyklen ,die jetzt nicht da sind – da ist ein stupendes Gefühl für Phänomene, die uns heute, im Wandel vom Greifbaren zum Virtuellen eminent beschäftigen. Dass Serena Amrein hiefür keine pompösen Worte braucht, sondern einfache Bilder schafft, die das in sich tragen, das beeindruckt mich.

 

Matthias Blülle muss ich mich ganz anders nähern. Zum einen stelle ich fest, dass ich die informelle Malerei heute bereits als „klassisch“ empfinde. In unzähligen Expressionen und Lyris­men hat sie in den letzten 50 Jahren Gestalt angenommen. Matthias Blülle hat mich in diesem Empfinden bestärkt, als er sagte, er habe sich nie näher mit dem amerikanischen respektive französischen Informel befasst, er entwickle die Bilder aus sich selbst heraus. Die Erscheinungsformen des Ungegenständlichen sind damit heute so gängig, dass sie zum kollektiven Bildwissen gehö­ren und jederzeit verfügbar sind.

Die Frage, warum ich ihm seine Bilder glaube, kann darum nicht primär äusseren, formalen Grund haben, sondern muss sich im Faktor Intensität manifestieren. Ich habe gestern die Ausstellung von Christian Schad im Zürcher Kunsthaus gesehen; was mich dabei gepackt hat, ist der eminente Qualitätsunter­schied von Früh- und Spätwerk. Das Frühwerk packt, sprüht, lebt, ist gelebt. Das Spätwerk hingegen ist nichts als Hülle – virtuos, aber ohne jegliche Ausstrahlung, fast schon Kitsch. Eine Schule somit, was gute Kunst ist und was nicht.

Das Stich­wort ist dabei „gelebt“; Heiny Widmer pflegte von existentiell zu sprechen. So weit muss man vielleicht nicht immer gehen, aber wenn man Matthias Blülle erzählen hört wie er arbeitet, wie er aufträgt, abträgt, wie er Farbe deckend, blutend, lasierend einsetzt, wie er die Farbe – seien es Acryl oder mit Ingredienzen gemischte Pigmente mit Pinsel, zuweilen auch Spachtel – die Farbe als Materialsubstanz aufträgt oder in den Grund zurückbindet, zu starke Farben mit Javel wieder ausbleicht usw., dann ist da ein Engagement, ein Feuer spürbar, das mitreisst, das „Leben“ spiegelt, umsomehr als nahes Schauen all diese prozesshaften Details vor Augen führt. Nur so kann Informel heute noch glaubwürdig sein. Malen ist für den Künstler ganz offensichtlich ein intensivstes, geradezu körperlich erlebtes Gespräch mit dem Bild, mit der bis zu 40 Ueberla­gerungen aufweisenden Bildschicht. Eines der Charakteristiken ist dabei, dass der Künstler auf Kunst-Stoff arbeitet.

Nicht weil da der Stoff für Kunst gegeben wäre, sondern weil – neben dem Vorteil der Festigkeit – die Farbe auf dem Bild bleibt, nicht – wie bei der Leinwand – eingesogen wird und so ganz wörtlich eine „Bild-Schicht“ entsteht. Was aber bewirkt dieses geschichtete Auf und Ab?  Vor dem inneren Auge taucht plötzlich das mehrteilige Objekt von Hugo Suter auf, das mehrere Figuren zeigt, die sich über eine Reeling lehnen, ins Wasser hinabschauen und dabei die verschiedenen Wassertiefen beobachten. Das gefällt mir als Bild: Die Gleichzeitigkeit von Oberfläche und transparentem Untergrund. Ein Blick der täglich anders ist, je nach Wetterlage – in diesem Fall im übertragenen Sinn, je nach Gemütslage. Allerdings ist das Moment mit dem Spiegeln von Befindlichkeit bei Blülle nur bedingt zentral, nur gerade so, wie wir uns stets in allem spiegeln, was wir tun. Blülle geht es sehr stark um das Bild an sich, um Spannun­gen, um Oberfläche, um Technik und Wirkung in einem malerisch-experimentellen Sinn.

So ist das Zusammen­fügen mehrer „Fragmente“ – so der Haupttitel seiner Werke – nicht primär auf emotionale Facetten ausgerichtet, sondern auf Spannung, auf Kontrast, auf kraftvolle, bewegte Bildpräsenz. Und dass er solche erreicht, das zeigt mir persönlich das Bild, das ich am Mittwoch ebenso schalkhaft wie respektvoll die Fortsetzung von „Monets Seerosen“ bezeichnet habe. Da denke ich, ist Blülle ein Meisterwerk der Malerei gelungen. Wenn ich  das Fliessen, das Spiegeln, das Flattern, das Auf- und Abscheinen der in eine übersetzte Naturatmosphäre eingetauchten  Gelb- und Türkistöne, der Mischfarben und der lippenartigen Rotakzente betrachte, so denke ich, es sei schon möglich, dass das Aargauische Kuratorium Matthias Blülle in den nächsten Tagen nach 1991 zum zweiten Mal einen Werkbeitrag sprechen wird; die erste Runde ist ja schon geschafft, die eingegebenen Bilder hängen in der Bally-Fabrik, wo sie ab 12. September öffentlich zu sehen sein werden. Bedenkt man, dass Matthias Blülle dieses Jahr bereits einen Preis des Kiwanis-Club erhalten hat, so ist für ihn im Moment offenbar Oberwasser angesagt. Schön.

Ich danke fürs Zuhören.