Wenn der Vater mit dem Sohne….Gedanken zur Ausstellung von Markus und Stefan Müller im Müllerhaus in Lenzburg

 März 1998

 Annelise Zwez

Die Müllers im Müllerhaus – das ruft nach einem kleinen Exkurs über den Namen Müller, denn die Müllers habe eine ausgesprochen künstlerische Ader. Dr. Müllers, die in diesem Haus wohnten, waren Kunstfreunde und Kunstsammler, nicht ganz so hochkarätig wie die Müller-Dübis in Solothurn, aber immerhin. Die Künstler Markus und Stefan Müller, die heute hier im Zentrum stehen, dürfen keinesfalls verwechselt werden mit Müller-Brittnau, Müller-Nidau, Müller-Tosa, Müller-emil, Müller-Reinhart, Müller-Brockmann, Müller-Majocchi, und auch nicht mit Bruno Müller, Robert Müller, Heinrich Müller, Jörg Müller, Gunnar Müller, Susanne Müller, Josef Felix Müller, Manuel Müller, Grégoire Müller, Severin Müller, Otto Müller, Regi Müller, Barbara Müller, Claudia Müller, Julia Müller, um nur gerade diejenigen Künstler und Künstlerinnen zu nennen, die mir persönlich bekannt sind.

Markus Müller – auch keinesfalls zu verwechseln mit Mark Müller – Markus Müller und Stefan Müller gibt es – auch im Lexikon – nur einmal und beide sind sie hier. Als Vater und Sohn.

Künstlerfamilien gab es schon immer – Sie wissen doch wie man bei den Giacomettis immer studieren muss, wer wessen Sohn, Bruder, Onkel, Neffe etc. war. Und auch in der genannten Müller-Liste ist Robert der Vater von Manuel und Grégoire. Neu ist hingegen die Häufung – denken sie an die Luginbühls, die oft als eigentlicher Clan in Erscheinung treten, dann an Dieter Roth, von dem es zahlreiche Duo- und Trio-Werke mit seinen Söhnen und Töchtern gibt, dann an die kürzliche Ausstellung der Familie von Alfonso Hüppi im Kunstmuseum Solothurn. Oder dann, noch etwas weniger bekannt, an Ueli Berger und Tochter Babette Berger, an Hans Saner – zwar Philosoph, aber so kunstnahe, dass die Grenzen fliessen – mit Tochter Clara Saner und Sohn Stefan Saner, an den Zürcher Zeichner Peter Emch und dessen Sohn Nik Emck, und dann natürlich – lenzburgianisch – an Peter Hächler und seine Tochter Micha Hächler usw. Fällt ihnen etwas auf? Es sind lauter Väter. Etwas zum Nachdenken.

Doch nun zu Markus Müller und Stefan Müller als Aargauer Künstler. Es ist psychologisch nicht undelikat, die Gemeinsamkeiten der beiden Werke herauszuschälen. Immerhin stellte Markus Müller 1995 in der Galerie Jules Gloor in Aarau eine Serigraphie aus mit dem Titel „Der Lehrling und der Meister zaubern gemeinsam“. Man beachte die Reihenfolge. Ich habe nicht gefragt, ob sich das versteckt auf Vater und Sohn bezieht, die in der ausgedienten Schreinerei der Sauerstoff-Fabrik in Lenzburg ein gemeinsames Atelier haben. Wie auch immer – es klingt etwas vom Klima an, das sich in der Begegnung mit den beiden spiegelt.

Man könnte formale Gemeinsamkeiten über die Linearität, die Vernetzun­gen, die in beiden Werken aufscheinen, konstruieren, doch scheint mir nicht hier die Essenz zu liegen. Diese ist vielmehr ein mehr oder weni­ger ausgeprägtes Aargauer Phänomen. Das Fremdwort dafür heisst: „Auto­poiesis“. Das meint eine Art von Kunst, die sich aus sich selbst ergibt. Das heisst, der Künstler schafft sich eine Formel, nach welcher er ein Bild entstehen lässt, ohne dass er im voraus ganz abschätzen könnte, wie dieses Bild im Endeffekt aussieht. Das heisst, er macht nicht ein Konzept und führt es dann aus, sondern er sucht eine Struk­tur, eine Gesetzmässigkeit, die in der Ausführung erst verrät, wie sie sich in der Multiplikation, in der Ueberlagerung, der Schichtung etc. entwickelt. Die Bildprozesse haben so immer Forschungscharakter. Diese Struktur muss nicht vordergründig mathematischer Art sein, aber verges­sen Sie nicht, dass die Welt, wenn man in sie eindringt, letztlich immer gesetzmässiger Art ist und sei dieses Gesetz auch nur der sogenannte Zufall.

Damit das jetzt nicht zu abstrakt wird, will ich – noch bevor ich sage, warum das ein aargauisches Phänomen ist – kurz auf dieses Moment in beiden Werken eingehen.

Markus Müller arbeitet seit 10 Jahren mit Ghirlanden, die Bewegung, Wandlung und geometrische Struktur zugleich in sich tragen. Die Ghir­lande, die in vielen Werken hier massgebend ist, hat in sich ein „Loch“. (Es ist übrigens nicht die reale Ghirlande, die hier nebenan hängt, sondern eine Vorgängerin.) Dieses Loch in der Ghirlande ist nicht willkürlich, sondern entspricht den Körpermassen, der Körperaus­dehnung des Künstlers. Bezogen auf heute, so sagte der Künstler beim Ateliergespräch schmunzelnd, sei das Loch, vor allem beim Bauch, etwas zu gross, aber das ändere nichts am Grundprinzip. Die Ghirlande und das Loch sind noch nicht die Formel, von der ich sprach, wohl aber die Grundprinzipien, die es nun erlauben, ganz verschiedene Annäherungen durch ein konsequentes Aussparen, Betonen, Ueberlagern, Reduzieren zu erreichen, die jedesmal ein neues Bild ergeben.

Ich muss Ihnen geste­hen, dass ich trotz des mentalen Feuers des Künstlers weder beim Gespräch, das ich letztes Jahr in der „Neuen Galerie“ in Aarau mit Markus Müller führte, noch jetzt im Atelier exakt in Erinnerung behal­ten konnte, wie was warum genau so entstanden ist und wo genau der Unterschied zwischen abstrakter Konstruktion und visueller Erscheinung des Objektes im Raum liegt. Aber ich denke, das ist im Detail auch nicht relevant. Ich stehe ja auch nicht vor einem Blumenbeet und frage mich, warum die eine so, die andere ähnlich und die dritte leicht anders aussieht, sondern ich spüre die Nähe und die Kraft der Wandel­barkeit, die immer wieder überraschende Formen gebiert. Und das gilt auch für die Arbeiten von Markus Müller und zwar nicht nur vordergrün­dig, sondern auch hintergründig. Es gibt hier noch mehr zu sagen, doch vorerst ging es mir nur um die Art und Weise der Bildentstehung in Bezug auf den Begriff der „Autopoiesis“.

Dieselbe Struktur finden wir nämlich – anders – auch bei Stefan Müller, vielleicht weniger konstruiert, gefühlsmässiger, experimenteller auch, aber nicht minder präzis. Die Linearstrukturen auf den Bildern von Stefan Müller sind nicht mit dem Pinsel gezogen. Sie sind vielmehr Fliessspuren. Moment: Wir wissen doch, dass Flüssiges immer von oben nach unten fliesst. Aber hier fliesst es kreuz und quer. Der Grund: Der Künstler befestigt die grundierten, trockenen Leinwände an einem Drehmechanismus und bearbeitet sie von allen Seiten, das heisst, er bringt mit dem Pinsel, oder einer Spritze oder anderen Utensilien eine bestimmte Menge Farbe einer ganz bestimmten Konsistenz auf die Leinwand und überlässt diese dann ihrer materialmässigen Gesetzmässigkeit. Durch Erfahrung lässt sich die Bilderscheinung bis zu einem gewissen Grade provozieren, doch letztlich entsteht das Bild aus der Kombination von Eigengesetzlichkeit und den vom Künstler eingegebenen Prämissen. Auch das ist Autopoiesis.

Es gibt im Aargau zahlreiche Künstlerinnen und Künstler, bei denen wir dieses Moment mehr oder weniger konsequent eingesetzt finden. Selbstverständlich finden wir es auch international – die Austellung der „Magie der Zahl“ in Stuttgart im vergangenen Jahr zeigte dies deutlich. Im Aargau ist es ziemlich klar lokalisierbar. Es war Max Matter, der es Mitte der 70er Jahre ins Zentrum seines Schaffens zu stellen begann. Wenn wir das Kreisbild von Stefan Müller anschauen und an Max Matters Pendelbilder der 70er Jahre denken, so liegt das sogar formal auf der Hand, auch wenn die beiden Bilder nicht nach demselben Prinzip entstanden sind. Matter hat diese Vorgehensweise aber nicht erfunden; Schlüsselerlebnis war für ihn vielmehr die Ausstellung der Pendelgeometrien von Emma Kunz Ende 1973 im Aargauer Kunsthaus. Damals erkannte er die Spannung, die in Bildern liegt, die sich aufgrund von gesetzten Parametern aus sich selbst entwickeln. Ich spreche bezogen auf die heutige Ausstellung nicht von Beeinflussung, sondern von Strukturverwandtschaft, die in letzter Konsequenz auf die Struktur des Kreativen an sich verweist.

In der Zeit als Markus Müller zusammen mit Max Matter Teil der „Gruppe Ziegelrain“ in Aarau war, gab es diese Strukturverwandtschaft noch nicht. Es wäre also falsch Markus Müllers Werk, das mehr innere Logik in sich trägt, als das motivisch oder stilistisch auf Anhieb einsehbar wäre, nur unter dem genannten Aspekt zu betrachten. Luft spielte für Markus Müller immer eine zentrale Rolle. Was ist Luft, was ist Luftver­drängung und wie mache ich die Wechselwirkung zwischen Luft und Mate­rie, zwischen Innen- und Aussenform, zwischen gedanklicher Vorstellung und materieller Erscheinung sichtbar. Ein für diese Ausstellung rekon­struiertes Objekt aus den 70er Jahren, zeigt anhand inexistenter Blu­sen, die in der Fotografie als Loch und als Blusenform zugleich auf­scheinen, Massgebliches von dem, was auch heute da ist.

Spannend scheint mir vor allem die Wechselwirkung zwischen dem definiertem Luftraum, der zugleich Vorstellungsraum und damit Gedanken-Raum ist. Bei einer Bluse über einem weiblichen Körper braucht es hiezu keine Worte – dasselbe Grundmuster gilt aber auch für die grossen, spannend präsentierten Bilder von Markus Müller im vorderen Raum.

Die Art der Präsentation der Bilder in den Räumen, wäre ein Kapitel für sich, vor allem, wenn man sie mit dem Aufwand vergleicht, den die beiden hiezu betrieben haben. Wenn ich mir das „warum“ überlege, so finde ich als gemeinsamen Nenner den Versuch, das Bild, den Bild-Körper, als etwas Autonomes im Raum darzustellen und nicht als Wand-Objekt. Autonom im Sinne von freier Ausdehnungsmöglichkeit der Materie in den Luftraum.

Am deutlichsten spürbar ist das im genannten Raum mit den 5 leporello­artig präsentierten Bildern „Kleid“, „Schwimmer“, „Wolke“, „Schlafen“ und „Tanzen“. Alle beruhen sie analog der „Lochform“ in der Ghirlande auf den Körpermassen des Künstlers, seien sie in einem riesigen Himmel in ihre luftige Fläche komprimiert, seien sie im Tanz in tausenderlei Einzelmasse und Rhythmen aufgelöst, seien sie im Schlaf auf ein klei­nes, waches Zentrum im dunklen Raum beschränkt. Ich mag diese Bilder, zu denen im Laufe der nächsten Monate noch die „Spiele“, „der Traum“ und „das Leben“ hinzukommen sollen.

Eigenartigerweise erinnern sich mich an einen Bildzyklus mit Fotografie und Malerei – das wäre heute hochaktuell – die Markus Müller 1981 in der Stadtbibliothek Lenzburg zeigte. Damals ging es um eine Crèmeschnitte. Im ersten Bild erscheint die Crèmeschnitte wie frisch vom Patissier, naturalistisch. Dann hat sie Markus Müller gegessen und es blieb nur noch das Bild, die Vorstel­lung davon und die war nun – mit Lust und Witz –  frei wandel- , dreh- und veränderbar, dennoch aber immer noch die Crèmeschnitte.

Indem man einen – seinen – Körper als Hohlraum definiert, wie das hier auf­scheint, ist er da und nicht da und man kann mit ihm kraft der Vorstel­lung in die verschiedensten Bereiche vordringen, eine Art Lebens-Bild schaffen. Markus Müller geht dabei nicht rein gefühlsmässig vor, son­dern eher so, wie es sich in einer dreiteiligen Hut-Serie spiegelt, wo das erste Blatt heisst: „Wo kommt her Hut her“, das zweite „welcher Hut“ und das dritte „Eine gute Frage“. Wenn ich mir das bezüglich der ausgestellten Bildgruppe vergegenwärtige und gleichzeitig daran denke, wie viele Bilder und Projekte Markus Müller im Laufe der Jahre nur im Kopf geschaffen hat, so werden diese fünf Bilder für mich zu einem wunderschönen Spiegel der Künstlerpersönlichkeit von Markus Müller.

Zurück zu Max Matter und zu Stefan Müller. Klar, dass die folgende Anekdote nicht der Sohn, sondern der Vater erzählt hat: Stefan Müller war in der Alten Kantonsschule in Aarau Schüler von Max Matter. Kurz vor der Matura, das heisst um 1986, rief Matter seinen Künstlerkollegen Müller an und sagte ihm: „Du, de molt blind, wirsch gseh, das gid en Künschtler“. Wenige Wochen darauf soll der Sohn seine Zielvorstellung im Sinne seines Lehrers formuliert haben. Und wie diese Ausstellung zeigt, hatte der Lehrer recht. Stefan Müller wählte den Weg des Autodidakten, das heisst er versuchte seine Bildsprache in und mit sich selbst zu finden.

Die ältesten Bilder, die wir hier sehen, zeigen aus einem dunklen Raum herausgegriffene Bewegung und Geometrie im Raum. Sie entstanden – im Kern bereits analog den späteren Arbeiten – aus einer Kombination von freier Geste und der Erforschung ihrer immanenten Ordnung, das heisst der Künstler legte aus dem Körper heraus Lineaturen aufs Bild, die er dann auf die entstehenden Innenflächen hin untersuchte und die Räumlichkeit der Geste wieder aufdeckte.

In der bereits beschriebenen Serie gibt er die Kontrolle scheinbar wei­ter ab an die innere Gesetzmässigkeit seines Tuns in Kombination mit der eingesetzten Materie. Doch man vergesse nicht, dass die Linien  nur darum so schnurgerade verlaufen, weil der Künstler die Parameter der Konsitenz der Farbe und der Trockenheit der Basis und allenfalls der Drehbewegung so gesetzt hat, dass sich das Spiel entwickeln kann.

Ana­loges gilt für die dritte Serie, die horizontal und vertikal gear­beitet ist, aber mit einer ganz anderen Farbkonsistenz. Und hier nimmt er auch das erste Moment wieder auf, indem er an gewissen Stellen durch Zwischenflächen Räumlichkeit untersucht. Ich denke, dass dieser Ansatz von Stefan Müller ein auf lange Zeit ausbaufähiger ist, wenn es ihm gelingt die Oberfläche des Bildes und die Hintergründigkeit seines Tuns miteinander zu vertiefen. Noch steht er ja am Anfang seines Wirkens als Künstler im Aargau.

Ich danke fürs Zuhören.