Nonchalance oder Die Kunst der 90er Jahre

Eine Publikation des Centre Pasquart – Text erschienen in  Bieler Jahrbuch 1998

Nachdem klar geworden war, dass die für 1997 geplante „Bieler Pla­stikausstellung“ nicht stattfinden, andererseits aber das Centre Pasquart aus baurechtlichen Gründen noch nicht im Umbau sein würde, landeten Christoph Doswald (als Gastkurator) und Pasquart-Leiter Andreas Meier einen quasi zeittypischen Coup: Auf die Charakteristik der Flexibilität junger Kunstschaffender sowie auf die Geschwindig­keit digitalisierter Medienproduktion setzend, realisierten sie in kürzester Zeit (aber mit mehr öffentlichen und privaten Sponsor-Geldern als üblich) „Nonchalance“, eine Ausstellung, ein Buch und eine Compact Disc zum Klima der Kunst der 90er Jahre in der Schweiz.

Die im Benteli-Verlag erschienene Begleit-Publikation zur interna­tional beachteten Ausstellung ist nicht primär Erinnerungsstütze, sondern ein Buch zum Thema. Aller Geschwindigkeit im Uebertragen von Bild-, Ton- und Textdaten zum Trotz war von Anfang an klar, dass „Nonchalance“ als Buch keine Bilddokumentation sein konnte. Die Kunstschaffen­den der 60er Jahrgänge, die in der Kunst der 90er Jahre den Ton angeben, verstehen das Gestalten einer Ausstellung als Prozess, der oft bis zur letzten Sekunde dauert. So verwies man – zeitgemäss – die Bild-Aktualität ins Internet (wo sie unter www.pasquart.ch immer noch abgerufen werden kann) und konzipierte die gedruckte „Nonchalance“ als Ergänzung, Erweiterung und Vertiefung der Ausstellung.

Grosses Gewicht kommt dementsprechend dem theoretischen Aspekt zu, den Ueberlegungen, die zu gerade diesem und keinem andern Konzept geführt haben. Und da liegt, zusammen mit der graphischen Gestal­tung, auch tatsächlich die Bedeutung der Publikation, die eher ein Lesebuch, denn ein Bildband ist. Viel Gedankenarbeit dreht sich um den Begriff „Nonchalance“ als Charakteristik der Kunst der 90er Jahre. Christoph Doswald spricht, in einer zuweilen etwas insider­haften Sprache, vom „verspielten Umgang mit der Gegenwart“, von „vergänglichen Appropriationen“, von einer „bewusst gewählten kunst­historischen Sorglosigkeit und Ignoranz“, aber auch von „Verkörper­lichung und Psychologisierung“ als „zeithistorischem Klima“. Er engt den Begriff aber nicht ein; in einem Glossar erläutert er nicht weniger als „57 von tausend möglichen Stichworten zur Nonchalance“. Da ist unter „A“ vom Abschied vom Mythos des „Autonomen Kunstwerks“ die Rede, unter „C“ von „Club Culture“ als „Voraussetzung für die Entstehung eines subversiven Selbstbewusstseins“ und unter „P“ von „Pop Kultur“ als „globaler Kommunikationsmacht“.

Die vielleicht kürzeste und treffendste Umschreibung von „Noncha­lance“ findet sich jedoch in einem Zitat von Pipilotti Rist. Sie spricht von „wissender Unbekümmertheit“. Klingt da nicht Galgenhumor an oder eine Traumwelt als Ueberlebensstrategie?  Werden da die Stills aus dem mit Anders Guggisberg realisierten Video „California Retour“ und der entsprechende Song auf der Compact Disc nicht zur musikalischen Traumsequenz wider die Unbill der Realität? Legt Ugo Rondinone den Polyesterabguss seines eigenen Körpers nicht darum mit einem Sternenleibchen auf den Boden und beschallt ihn mit Musik, weil er ein träumendes „alter ego“ braucht, um im Alltag zu überle­ben? Und Sylvie Fleury doppelt nach wenn sie sagt:“…jedes Spiel hat einen kritischen Ansatz, politisch oder sexuell“. Da, wo „Non­chalance“ solche Tiefe erreicht, ist der „Esprit der Leichtigkeit“ ein Fliegen auf Zeit, wie es nur die „Crossover“-Kunst der 90er Jahre kann. Und da wird auch klar, warum Christoph Doswald und Andreas Meier bei ihrer Künstlerwahl ganz auf die „Instant-Kultur von Video, Fotografie und Installation“ setzen, die nicht nach „auratischen Ewigkeitswerten“ strebt, sondern „Bildmaschinen“ gleich Jetzt-Zeit einfängt.

Dass dieses Klima nichts grundsätzlich Neues ist im Verlauf der Kunstgeschichte, zeigt Andreas Meier in seinem Text eindrücklich auf: Er vergleicht die „Nonchalance“-Haltung mit dem Impetus der Dada-Zeit und dem Wandel in der Fluxus-Bewegung. In allen drei Zeiten, so Andreas Meier, haben sich Kunstschaffende um die weltpo­litische Situation foutiert und über bestehende (Macht)-Grenzen hinweg Neues formuliert und dies stets mit einem pazifistischen Touch. „Es begann einst damit, dass einige Künstler nicht mit der grossen Masse in den Krieg zogen….,den nationalen Ideologien Kräfte der Phantasie, des Absurden…entgegensetzten“. Aehnlich und anders als heute, verband sich in „Dada“ Reklamewelt, Wort und Bild, Theater, Film, Musik und Cabaret. War der Hintergrund von Dada der 1.Weltkrieg, so war es in der Fluxus-Zeit der 60er Jahre der Kalte Krieg, dem Künstler eine neue Einheit von Kunst und Leben entgegen­setzten. Auch heute, so Andreas Meier, „gibt es eine jüngere Künst­lerschaft, die nationale Grenzen und Probleme glattweg übersieht.“ Für sie ist Identitätskrise, Resignation und Selbstmitleid kein Thema. Stattdessen greifen sie ein in die technische Entwicklung und machen sie sich auf „nonchalante“ Art und Weise untertan.

Das Buch zum Thema ist von seiner Erscheinung her eher solide als „nonchalant“, aber konsequent mit digitaler Technik produziert, was sich in der Zeichensprache und im freien Bild-Layout positiv, in der Lesbarkeit der Schrift zuweilen problematisch zeigt. In die Publika­tion integriert ist eine Compact-Disc mit 16 sehr unterschiedlichen Sound-Beiträgen, die das Lesen und Schauen um das Hören erweitern; sei es durch ein „Mmmh“ von gerade 1 Sekunde Länge (Eric Lanz), durch zeitgenössische E-Musik-Rhythmen zu den räumlich geschichteten Fotografien von Hubbard und Birchler oder durch die „Frauenpower“-Geräusche von Pascale Wiedemann.

„Nonchalance“ ist die erste, grössere Publikation, die versucht, den internationalen Kunst-Zeit-Geist der späten 90er Jahre von der Warte Schweiz aus zu fassen. Alle kommenden Ausstellungen und Publikatio­nen zum Thema werden an „Nonchalance“ nicht vorbeikommen. Erfreulich ist, dass Biel dabei nicht nur Stand- und Realisierungsort ist, sondern mit Eric Lanz und Anders Guggis­berg darüber hinaus zwei Bieler Künstler direkt beteiligt sind. Das von Eric Lanz gezeigte Video zum Thema Körper und Kleidung ist anlässlich der Ausstellung von der Stadt Biel angekauft worden.

Einziger Wermutstropfen rund um „Nonchalance“ ist das Ungleichge­wicht von 20 Künstlern und 5 Künstlerinnen, gehörte doch eigentlich zum zitierten „unbeschwerten Umgang der Geschlechter“ ein approxima­tives Gleichgewicht. Es sei denn, viele Künstlerinnen arbeiteten anders, doch dann wäre „Nonchalance“ nur ein Teil des Ganzen.