André Thomkins im Kunstmuseum Bern 1999

Die Metamorphosen des Dädalus Mäandertaler

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Obwohl der Luzerner André Thomkins (1930-1985) zu den wichtigsten Schweizer Künstlern zählt, ist er immer noch primär ein „artist’s artist“. Für den Besuch der Retrospektive im Kunstmuseum Bern nimmt man am besten eine Lupe mit.

Das Werk André Thomkins‘ ist äusserlich unspektakulär. Die Zeichnung mit Bleistift oder Feder auf weisses oder getöntes Papier sowie das zeichnerische Aquarell sind seine hauptsächlichen Medien. Die vielgezeigten, von ihm erfundenen, schwimmend geschaffenen, farbigen „Lackskins“ waren im Grunde nur eine marktorientierte Flucht aus dem Kleinteiligen, das erst spät Anerkennung fand. Die künstlerische Bedeutung André Thomkins gründet indes auf der zeichnerischen Wandlungskraft, die sein „barockes“ Werk auszeichnet.

André Thomkins Werk entstand ab 1952 primär in Deutschland. Weil seine Frau, die deutsche Künstlerin Eva Schnell, eine Anstellung als Zeichnungslehrerin hatte, lebte die rasch wachsene Familie in Essen. Trotzdem ist Thomkins Schaffen lange Zeit vor allem ausgehend von seiner Heimatstadt Luzern rezipiert worden. Die „Mentalität Zeichnung“, welche die grosse Zeit der Innerschweizer Kunst in den 70er Jahren auszeichnet, ist von André Thomkins massgeblich beeinflusst worden.

Die erste umfassende Retrospektive nach seinem Tod, 1990 im Kunstmuseum Luzern, brachte nicht die erhoffte Breitenwirkung; sie war für die Insider eine Art Bestätigung dessen, was man schon wusste. Inzwischen ist das rund 10’000 Zeichnungen, Aquarelle, Objekte, Skulpturen und Druckarbeiten umfassende Werk von Simonetta Noseda im Auftrag des Schweizerischen Instituts für Kunstwissenschaft zu rund einem Drittel inventarisiert und bearbeitet worden. Die vom Klee-Spezialisten Michael Baumgartner kuratierte Berner Ausstellung ist Resultat dieser Recherchen; die begleitende „Werkmonographie“ das bisher umfassendste Buch zum Schaffen André Thomkins‘.

Deutlicher als das Buch betont die Berner Ausstellung das Frühwerk des Künstlers, das bereits 1947/48 einsetzt, der Zeit also da der Sohn des in Luzern tätigen, holländischen Architeten John Thomkins das Gymnasium verlässt und an die Kunstgewerbeschule wechselt, wo damals der Luzerner Surrealist Max von Moos unterrichtet. Mit der Betonung der 50er und 60er Jahre mit ihren Auseinandersetzungen mit dem Surrealismus, den formalen und theoretischen Aspekten der Kunst von Kandinsky, Klee, Schlemmer und danach auch Duchamp rückt das Werk Thomkins im Vergleich zur bisherigen, vor allem auf die 70er Jahre ausgerichteten Rezeption zurück in der Zeit.

Die Rückbindung an die „Moderne“ wird stärker, zugleich aber auch der einzelgängerische Kurs des Künstlers. Denn trotz der stilistischen Vernetzung mit der Kunstgeschichte ist André Thomkins Werk einmalig. Und das hat bisher wohl noch keine Ausstellung so verdeutlicht wie die aktuelle Schau in Bern. Das ist ihre Chance, gerade im mentalitätsmässigen Umfeld Paul Klees. Zu kurz kommen der Anagramm- und Palindrom-, der Eatart- und Aktionskünstler, doch da Thomkins eh nicht auf einmal zu fassen ist, ist das kein Mangel. Die Einmaligkeit André Thomkins gründet in Verschiedenem. Da ist zum einen der Wegzug aus der Schweiz mit 22 Jahren; er hat in Essen kaum Freunde, er arbeitet im Elfenbeinturm. Es ist seine Frau, die Mutter seiner fünf Kinder, die allen Irrungen und Wirrungen zum Trotz stets zu ihm hält (und heute zu den „wichtigen Witwen“ zählt), welche ihm das lange Zeit einsame, von Hochs und Tiefs geprägte Schaffen ermöglicht. Bücher und Texte sind seine „Gesprächspartner“. Wichtig ist aber auch sein Jugendfreund Serge Stauffer, einer der grossen Duchamp-Spezialisten. Der Schriftwechsel mit ihm gehört zu den bedeutsamsten Quellen für die Thomkins-Forschung. Aus diesem Fundus ist zum Beispiel zu erfahren, was es mit den eigenartigen „Schwebseln“ auf sich hat, einer Luftfigur, die Thomkins 1952 erfindet:“Schwebsel rame dans l’espace à la rencontre de mille en une chose“ (wohl aus Liebe zu Paris korrespondieren die beiden französisch).

„Schwebsel“ ermöglicht Thomkins, im Moment da er in Essen auf sich selbst gestellt ist, die Ueberwindung von Raum und Zeit durch eine Art Zustandswechsel. Mit „Schwebsel“, der später nicht mehr sichtbar erscheint, kann Thomkins alles Sichtbare verwandeln, Dinge von einer Sicht in die andere überführen. Als Hintergrund hiezu ist nicht nur der Surrealismus von Bedeutung, sondern vor allem auch das 16./17. Jahrhundert, die Zeit des Manierismus, als die Künstler das Phänomen der Bildmetamorphose entdeckten. Gerade auch die Thomkins in Künstler- und Kunstvermittlerkreisen berühmt machenden „Rapport-Zeichnungen“, die Ornamentales und Fantastisches grossartig verbinden, sind hievon beeinflusst. Kein Zufall nannte Stauffer seinen Freund „Dädalus Mäandertaler“ – Dädalus, der Einfallsreiche, Dädalus, der Erbauer des minoischen Labyrinthes, und Mäandertaler als Verweis auf den Faden Ariadnes. Das Labyrinth ist – visuell und als Struktur – eine Art Schlüssel zum Werk Thomkins. Es beinhaltet – wie Hans-Jörg Heusser treffend schreibt – sowohl Beklemmung wie Befreiung. Es verkörpert die Suche eines heute als manisch-depressiv Erkannten, durch Metamorphosen den Zwängen des Gegebenen zu entfliehen; wobei Humor und Sinnlichkeit das Triebhafte umranken.

Werkmonographie (DuMont-Verlag): 55 Franken.