Biennale Venedig 1999: Grösser,internationaler, schweizerischer

Jung, weiblich und weltumspannend

www.annelisezwez. ch    Bis 07.11.1999

Mit 4000m2 mehr Fläche für die internationale Ausstellung ist die Biennale Venedig Magnet des Jahres für die Kunst-Touristen. Obwohl in nur 31/2 Monaten aus dem Boden gestampft, gelang es Harald Szeemann, sie zum Ereignis zu machen.

Vor zwei Jahren wurde die „Mutter aller Biennalen“ quasi abgeschrieben; die kritischen Töne dominierten und die Fachwelt meinte: Wäre die Biennale nicht in Venedig, niemand würde hinfahren. Harald Szeemann, der gewiefte Fuchs im internationalen Ausstellungsbusiness, wusste das und machte darum seine Direktion von der Erweiterung der einstigen „Aperto“-Räume im „Arsenale“ durch verlassene Industriebauten bis hin zu den „Artigliere“ abhängig. In einer Parforce-Tour ohnegleichen wurden in den letzten Monaten seit Jahren leerstehende, riesige, alte Hallen gereinigt, gestützt und mit Infrastruktur versehen. Erstmals stehen für die Biennale somit Räume für grosse Installationen bereit und auf den Ruf des „Zirkusdirektors“ begannen die „Wilden“ der 90er Jahre – die Amerikaner Jason Rhodes und Paul Mc Carthy, der Aargauer (!) Thomas Hirschhorn, aber auch der Chinese Chen Zhen u.a. gehörig zu „wüten“.

Das Wesentliche, das Harald Szeemann mit der Erweiterung des bisher in den Haupt-Pavillon in den „Giardini“ gezwängten und um junge Positionen im „Aperto“ erweiterten, internationalen Teil erreichte, ist eine Verschiebung des Hauptakzentes. Seit Jahren lief die Diskussion heiss, ob eine Ausstellung mit nationalen Pavillons zeitgenössisch relevant sein könne. Mit „Appertutto“, der Öffnung der Biennale zu einer globalen und multimedialen Ausstellung primär junger Kunstschaffender aus aller Welt, ist dem Streitpunkt der Wind aus den Segeln genommen. Denn in der neuen Konstellation ist das Gewicht anders verteilt, die nationalen Pavillons in den Giardini bilden nurmehr den Rahmen.

Das ist nicht ohne kulturpolitischen Sprengstoff, denn parallel zum Ruf nach dem Fall der Grenzen, melden immer mehr (neue) Länder ihr Interesse an einer Repräsentanz an der Biennale. Wohl um den Bogen nicht zu überspannen, bekannte sich Szeemann im Gespräch denn auch ausdrücklich zu den Ländervertretungen, integrierte gar Nationen ohne eigenen Pavillon mitten in die internationalen Räume (z.B. Brasilien, Georgien, Lettland etc.), was freilich an ihrer „exotischen“ Position nichts ändert. Mit anderen Worten: Für die Ländervertretungen ist die neue Struktur der Biennale eine Herausforderung. Für jene jenseits des „offiziellen“, trotz Globalisierung immer noch „westlichen“, Blicks ist sie aber auch die Chance, vermeintliche „Objektivität“ zu relativieren.

Im Oktober 1998 hiess es, die Biennale würde eventuell verschoben, dann fiel der Startschuss, dann kam der Rückzieher im Dezember und erst im Januar 1999 der Volldampf. Dass in dieser Zeit eine durchdachte, konzeptionell abgesicherte Ausstellung entstehen könnte, war a priori ein Phantom. Dem Prinzip der „rollenden Ausstellung“ folgend, hat Harald Szeemann das Beste daraus gemacht, das heisst er hat von der Biennale Lyon (die er 1998 kuratierte) das für Venedig Sinnvolle übernommen und um Wesentliches erweitert. Was ihm indes nicht gelang – und das ist ein massiver Abstrich – ist die Evokation einer Grundstimmung, die von Werk zu Werk, von Raum zu Raum trägt. Ueberspitzt ausgedrückt ist die Biennale eine globale Weihnachtsausstellung; mit Höhepunkten.

Allerdings gibt es da doch einen Bogen, wenn auch nicht einen inhaltlichen oder formalen. Und der erklärt auch, wie es dem immerhin 66 Jahre alten Szeemann gelingen kann, von den Jungen nicht nur akzeptiert, sondern geradezu geliebt zu werden. Szeemanns globale Vision „When attitudes become form“ (Bern, 1969) findet in der Kunst der 90er Jahre ein starkes Echo und Szeemann erkennt demzufolge die eigene Vision in den Jungen wieder, wenn auch anders. So ist der rote Faden, der durch Verschiedenstes hindurch wirkt, die persönliche Präsenz und Haltung des Künstlers in seinem Schaffen. Mündete dies in den späten 60er Jahren noch in Arbeiten mit materiellem Werkcharakter, so sind es heute der Film, das Video, die Installation, in Wechselwirkung mit neuer Malerei und Skulptur, welche die Ideen tragen.

Als Beispiel: Ying-Bos „Our Chinese Friends“; eine asiatisch/westliche Video-Party-Szene, die zugleich echt wie inszeniert ist; Wort- und Bewegungsrythmen wechseln mit (ansteckenden) Lachsalven; Leben und Kunst sind zu einem gefügt. Eine Direktheit, die auch die mehr als 150teilige Video-Installation von Dieter Roth (1930-1998) bestimmt. In der Differenz der realistischen Lebens-Chiffre bei Roth und überbordendem Life-Style-Szenario bei Ying Bo zeigt sich der Generationenbogen exemplarisch.

„Appertutto“ sei, so sagt Szeemann, die „Freiheit kein Vorwort schreiben zu müssen“. Jung, weiblich, vital und weltumspannend sei Thema genug. Die Biennale ist in ihrem internationalen Teil tatsächlich jung – die 60er Jahrgänge dominieren. Mit dem subtilen „Tränen-Video“ der Serbin Vasnà Vesic ist gar eine Künstlerin mit Jahrgang 1975 vertreten. Weil in dieser Generation die weibliche Präsenz in der Kunst vital ist, gehören die Beiträge von Frauen zum Wesentlichen. Italien zum Beispiel, welches Grenzensprengende exemplarisch durchzieht und auf eine „nationale“ Präsenz verzichtet hat, ist mit fünf Künstlerinnen vertreten, darunter mit einem scheinbar „malerischen“ Video von Grazia Toderi, das sich bei genauerm Hinsehen als Lichtspiel über einem Fussballstadion mehrdeutig entpuppt. Zu den ganz spannenden Arbeiten gehört aber auch „The Sky Sisters“ der Dänin Simone Aaberg Kaerns (geb. 1969) – eine fast 50teilige Reihe bräunlicher, gemalter Porträts von Pilotinnen des 2. Weltkrieges in einem als Flugschneise gebauten und mit Fluglärm angefüllten, weissen Raum. Dokumentarisches, Frauengeschichtliches und der von der Künstlerin auch in anderen Werken gelebte Traum vom Fliegen verbindet sich.

Die wichtigen Länder-Pavillons sind ebenfalls oft von Frauen geprägt. Rosmarie Trockel (D) zum Beispiel zeigt, ausgehend von riesigen, projizierten Auge eine seltsam entrückte „Mental-Tank-Station“ (Video). Ann Hamilton (USA) versteckt den amerikanischen Bau hinter einer Milchglas-Wand und wandelt die Räume in einen Licht-Körper, an dessen Wänden rotes Pigment hinunterrieselt, das von Braille-Schrift-Punkten aufgehalten wird. Im Nordischen Pavillon nimmt Eija-Liisa Ahtila mit Video-Szenen aus einer Eheberatungpraxis die skandinavische Tradition des Psychodramas auf. Ueberraschend ist der Beitrag der Polin Katarzyna Kozyra, die sich in seitlichen Video-Projektionen männliche Attribute aufkleben lässt und damit – von einer Video-Kamera begleitet – in ein Warschauer Männerbad geht …

Die markanteste Neuerung im künstlerischen Bild der Gegenwartsszene ist die geradezu dominierende Präsenz chinesischer Künstler. Schon vor sechs Jahren richtete die Biennale mit der Sonderausstellung „Passagio al Oriente“ den Blick nach Osten. Seither ist die Marktbedeutung (!) chinesischer Künstler – vor allem in Amerika – immens angestiegen. Szeemann hat schon in Lyon 1998 den asiatischen Raum stark einbezogen. Trotz zwei kurzen Aufenthalten in China ist Szeemann indes kein China-Spezialist. Das zeigt exemplarisch für die ganze Biennale, dass die Wahl der Künstler trotz der Freiheit des Kurators eine von vielen Seiten mit vielen Interessen beeinflusste ist; eine Biennale ist immer auch eine Kunstmesse. „Mich fasziniert“, so Szeemann, „wie die Chinesen unseren Kunst-Blick in ihre Traditionen einbinden“. Wenn Wong Du (geb. 1956) in „Marché aux puces“ westliche Berühmtheiten im Stil des sozialistischen Realismus aufmarschieren lässt, stellt sich die Frage nach dem Heldentum hier und dort. Wenn hingegen Yang Shaobin (geb. 1963) die chinesische Liebe zur Fratze in westlichem Stil vervielfacht, bleibt Fremdheit im Raum. Am Eindringlichsten sind vielleicht die Video- und Fotoarbeiten von Zhang Huan (geb. 1965), deren emotionale Körperlichkeit und subtile Inhaltlichkeit Empfindungsgrenzen durchbricht. Gültig ist die gezeigte Künstlerwahl sicher (noch) nicht, aber sie verdeutlicht, dass die Auseinandersetzung mit Kunst aus China auch bei uns in Zukunft Gewicht haben wird.

Szeemann präsentiert ein der internationalen Kunstszene entsprechendes Potpourri. Dass darin auch soziale Engagements, Künstlerclubs etc.Präsenz haben, ist klar. Dass darin die Konzeptkunst, die es auch in 90er-Jahr-Formulierungen gibt, weitgehend fehlt, ist schade, entspricht aber dem Kurator. Stilles hat Szeemann nicht (ganz) vergessen, aber den Löwenzahn-Blütenstaub eines Wolfgang Laib, die Trash-Wohnung eines John Bock und die gemalten Entmannungen eines Xie Nan Xing im selben „Viertel“ des Hauptpavillons zu zeigen, lässt dem Meditativen keinen Raum. Raffiniert löst Pipilotti Rist dieses Problem – ihre Seifenblasen-Rauch-Installation „Nothing“ ist zugleich spektakulär wie poetisch, träumerisch und bitterbös; paradoxerweise einer der nachhaltigsten Arbeiten der Biennale. Einer Biennale, die schweizerischer ist denn je und die mit Fotos von Hubbard/Birchler und Balthasar Burkhard, Videoinstallationen von Costa Vece, Pipilotti Rist, Mauricio Dias&Walter Riedweg, Malerei von Pia Fries, einer Anti-Macho-Materialanhäufung von Thomas Hirschhorn („Flugplatz Welt“) und „Silvia“ von Franz Gertsch viele bekannte Schweizer Positionen integriert. Die grösste Ueberraschung ist der gigantische, schwimmende Farben-Teppich von Lori Hersberger, der das Märchen Venedig in der Sprache der 90er Jahre erzählt.

Die mit Naturgesetzmässigkeiten arbeitenden Installationen von Roman Signer im Schweizer Pavillon gehören zu präzisesten und durchdachtesten Arbeiten der Biennale überhaupt. Aber sie haben im flimmernden Infotainment der Veranstaltung Mühe, ihre Hintergründigkeit zu vermitteln. „Die Landminen-Installation Signers sei zu platt“, war der ebenso oberflächliche wie völlig falsche Kommentar in einem deutschen Fernsehbeitrag.

Die Biennale Venedig dauert bis zum 7. November. Sie ist täglich – ausser Dienstag – von 10 bis 19 Uhr geöffnet (ab 30. September 10 bis 17 Uhr). Die Kataloge (100’000 Lire) sind italienisch und englisch erhältlich. Vorsicht: Sie sind zum Teil falsch gebunden!