Interview mit Peter Staiger Basel Solothurn 1999

Zeichnungen aus der Senkrechten

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Im Rahmen des Solothurner Jahresportrait 1999 (Ausstellung/Katalog Kunstverein Solothurn) geführtes Gespräch mit Peter Staiger in seinem kleinen Atelier in einem ausdienten Industriegebäude am Basler Rheinhafen, 16.04.1999.

Wenn ich anhand Ihrer Dokumentation betrachte, wie sich Ihr Werk vom Vorkurs 1988/89 an der Schule für Gestaltung in Basel über die Basiserweiterungsklasse und schliesslich die Malfachklasse (1990/93) entwickelt hat, kommt mir ein prägender Satz Ihres Lehrers, Werner von Mutzenbecher, in den Sinn. Er sagte mir mal bei einem Nachtessen sinngemäss, nie würde er sich an ein Ganzes wagen, er sei glücklich, wenn es ihm gelinge, im Kleinen etwas zu finden, das ihm das Gefühl von Gültigkeit gebe. In einer Mischung von Nähe und Distanz glaube ich Ähnliches in Ihren neuen Arbeiten mit Korrekturroller auf Neonpapier zu spüren. Ist das richtig?

Ich habe mir Werner von Mutzenbecher ganz bewusst als Lehrer ausgesucht. Letztlich war es für mich jedoch lange schwierig, mit dieser Nähe umzugehen. Ich glaube, ich habe erst 1998 in Paris den Mut gefunden, ganz auf mich zu hören, scheinbare Aehnlichkeit zuzulassen und auf die Differenz zu bauen. Im Gegensatz zum gewohnt Konstruktiven lösen sich ja in meinen Bildern die tragenden Perspektiven immer wieder auf. Was ich da bildlich fasse, weiss ich oft selbst nicht; das Erkennen kommt erst später. Im Moment gehe ich einfach „volle Pulle“ voran.
Die mit Neon-Farbe beschichteten Papiere habe ich in Paris entdeckt. Ich war monatelang im Louvre und habe die „Alten Meister“ studiert. Nie zuvor war mir aufgefallen, wie zum Beispiel ein Mantegna mit Perspektive, die nicht stimmt, Wirkung erzielte; wie es diesen Malern gelang, schwebende Zustände zu malen. Und vor allem entdeckte ich in einem mir an sich unwichtigen Bild die Hand einer Frau, die wie von innen heraus zu leuchten schien. Die Neon-Farbe macht das auch; das ist es, was mich daran fasziniert.

Trotz der Neon-Farbe und des ungewöhnlichen, aber inhaltsreichen Zeichen-Mediums eines „Korrekturrollers“ gibt es in ihrem Schaffen einen starken Kontrast zur gesellschaftsbezogenen, flimmernden 90er Jahr-Kunst. Sie setzen im Gegensatz zu ihr auf Konzentration und Präzision. Ist das ein bewusster Kontrapunkt und wenn ja, was heisst das für Ihre Position in der Kunstszene?
Das Wort „Konzentration“ meide ich, ich habe den Begriff „Präsenz“ lieber. Konzentration hält fest, Präsenz dagegen ist nicht gefangen. Ich verweile hier im Atelier und versuche nachzuzeichnen, was diese Präsenz mir zeigt. Präzision ist dabei sehr wichtig. Ob ich damit im Trend liege oder nicht, muss mir egal sein. Ich kann nur da weiterarbeiten, wo ich im Moment stehe. Das heisst indes nicht, dass ich nicht schaue, was sich in der Szene tut.

Ihr Weg zur bildenden Kunst war nicht ein linearer, darum sind Sie mit 35 Jahren auch noch ausgesprochen am Anfang. Sie haben zuerst eine Tiefbauzeichnerlehre in Olten und dann eine Zimmermannslehre in Schönenwerd gemacht bevor sie an die Schule in Basel wechselten. Was für eine Biographie versteckt sich dahinter?
Die Kunst hat mich sehr früh fasziniert und Lehrer wie Heinz Müller-Majocchi und Paul Meier waren für mich sehr wichtig. Aber ich komme aus einem ganz anderen Milieu. Darum führte die Liebe zum Zeichnen und zum Rechnen zunächst zu einer Tiefbauzeichnerlehre. Als ich danach die Aufnahmeprüfung in den Vorkurs nicht schaffte, suchte ich den Traum, selbst etwas zu bauen, mit einer Lehre als Zimmermann zu verwirklichen. Erst dann „sattelte“ ich mein Velo und fuhr … nach Griechenland … Zelt, Skizzenblock und Aquarellfarbe im Gepäck. Mit der eigenen Muskelkraft unterwegs zu sein und was ich sah mit Pinsel und Farbe festzuhalten, war eine entscheidene Erfahrung. Zurück in Däniken, baute ich über Wochen hinweg ein Gitarre, ein eigenes Instrument. Dann gelang der Sprung nach Basel.

Ich habe schon oft bemerkt, es war auch beim „Jahresporträt 1998“ mehrfach ein Thema, dass sogenannte Umwege Denk- und Arbeitsweise im Sinne von Bereicherung, Erweiterung und Individualisierung prägen. Wenn ich den fiktiven Plancharakter ihrer neuen Arbeiten betrachte, die betonten weissen Linien sogar als „Balken“ interpretiere, so scheint das auch hier gegeben. Wie sehen Sie das?
Lange Zeit wollte ich solche Assoziationen ganz bewusst vermeiden. Malen war für mich körperlich unterwegs sein, sei es mit dem Velo oder beim Klettern in den Bergen und das wollte ich abbilden, zeigen. Ich habe erst in der Malfachklasse plötzlich gemerkt, dass man dies auch abstrakt tun kann, indem man eine Linie von links nach rechts – also in der Horizontalen – zieht, oder von oben nach unten, das heisst in der Vertikalen. So entstanden 1993 bis 1995 eine Vielzahl von Gitterbildern, zum Teil Grossformate bis zu zwei mal drei Meter. Ich musste gehen können, mich strecken, mich darin bewegen.

Das Problem dieser Bilder ist, dass sie mich, bei aller individuellen Richtigkeit, natürlich an sehr viele andere, ähnliche erinnern, von Beat Zoderer über Günter Förg und Anna Maria Annen bis zu Mette Stausland, bei welcher das Gehen und Ziehen als körperlicher Akt auch sehr wichtig ist. Haben Sie sich darum in den letzten Jahren davon distanziert?
Diese Nähe habe ich erst später entdeckt. Mir war und ist der meditative Aspekt sehr wichtig, das Fliessenlassen. Die Weiterentwicklung hat sich ergeben, als mir bewusst wurde, dass ich die Horizontale loslassen muss, um mich auf die Vertikale zu konzentrieren.
Meditation, Vertikale … das müssen wir präzisieren. Der Begriff Meditation wird heute für so Vieles verwendet und zeichnen in der Vertikalen, das begreife ich angesichts der Arbeiten noch nicht ganz. Ist die Horizontale als die materielle, erdnahe Ebene zu verstehen und die Vertikale als die spirituelle?
Meditation heisst für mich bereit sein, da sein, achtsam auf mich selbst sein. Ich sitze am Boden, habe ein Blatt vor mir und weiss eigentlich im Moment nicht, wohin mich die Hand mit dem weissen Band führt. Ich bin oft selbst gespannt auf das, was erscheint.
Die Vertikale ist für mich die Verbindungslinie zwischen den Füssen und dem Kopf, die Körperachse zwischen Erde und Luft. Auf diese inneren Fluss versuche ich mich einzustellen. Manchmal funktioniert das, manchmal gehe ich aber auch am Abend nach Hause und habe nichts Sichtbares gemacht.
Dann entspricht die Inkongruenz ihrer Konstruktionen mit den materiellen Gesetzmässigkeiten von Statik, perspektivischen Regeln etc. also einer Art Wechsel von einer äusseren zu einer inneren Architektur. Das finde ich sehr spannend, umsomehr als sie nicht dem kunstgeschichtlichen Muster entspricht, das Konstruktion gängigerweise mit Technik, Ordnung, allenfalls auch mit energetischen Mustern, gleichsetzt. Auf innere Welte hingegen schliesst, wenn es sich zum Beispiel um ein weiches oder vibrierendes Informel, eine vielschichtige, abstrakte Struktur handelt.

Ich denke, man muss, um Ihre Bilder zu begreifen, den Ansatzpunkt verändern, weg von von der Suche nach Assoziationen im konstruktiv-gegenständlichen Bereich hin, zum Beispiel zu einem Piet Mondrian. Sein künstlerisches Ziel war ja mitnichten die einfache, ungegenständliche Ordnung, sondern der Versuch, unbewusst in uns lagernde Harmonieempfindungen sichtbar zu machen. Wobei ich nicht denke, dass es bei Ihnen um Harmonien geht, sondern eher um, wie soll ich sagen, Denkformen, Gedankengebäude oder Material hiefür, um Auseinandersetzungen, die Hin und Wider, Vor und Zurück, Auf- und Abbau in sich tragen, um Fragmente einer immateriellen Architektur.
Ich kenne die Theorien Mondrians nicht, aber ich liebe seine Bilder sehr und ich spüre, dass es darin um Empfindungswelten geht. Er kann mit so wenig so Intensives zum Ausdruck bringen. Ich finde das auch bei Marc Rothko zum Beispiel oder dann bei Agnes Martin. Als ich ihren Bildern zum ersten Mal begegnete, zogen sie mich geradezu magisch an. Ich denke, sie waren mitbestimmend für den Mut, auch Subtiles zum Ausdruck zu bringen. Mehr kann ich, was meine Bilder anbetrifft, noch nicht festlegen, ich muss alles offen lassen. Ich weiss nur, dass die „Konstruktionen“ nicht bewusste Projektionen sind, sondern, wenn ich da bin, wie von selbst entstehen, manchmal sehr reduziert, manchmal lustbetonter, „erzählerischer“. Es ist für mich nicht immer einfach, diese schwebende Zone anzupeilen; manchmal ist es, als verlöre ich dort selbst den Halt.So wichtig das ist als Erfahrung, so sehr muss ich mich dann auch wieder „erden“. Dann entstehen zum Beispiel kleinformatige Bilder, die Form nicht benennen, sondern nur etwas Gefühlsmässiges, als wolkige Farbzone ausdrücken. Oder dann bin ich an etwas ganz Anderem, Illustrativem vielleicht. Ich suche mir auch meine Jobs, um Geld zu verdienen, in ganz anderen Bereichen – ich arbeite dann in Gärten oder, wie zur Zeit, als Koch in einem Behindertenheim. Diese Arbeit macht mir Spass. Und dann ist da natürlich auch – sehr wichtig – meine Familie, meine Frau, meine kleine Tochter.

In ihrem Palmares taucht mehrfach die Vorführung von Super 8 – Filmen auf. Gehören diese auch in diesen „anderen“ Bereich?
Nein, die Filme gehören eng zum Zentrum meines Schaffens. Ich habe seinerzeit an der Schule auch Film-Kurse bei André Lehmann besucht.In Abständen entstehen immer wieder kurze Streifen, meist von drei Minuten Länge; es muss etwas etwas reifen, bevor ich es umsetzen kann. 1996/97 zum Beispiel hatte ich während einiger Monate ein Atelier in Les Planchettes im Neuenburger Jura. Da hörte ich vom Tod einer Bekannten und plötzlich drängte es mich, meine Gefühle, meine Erinnerungen umzusetzen. So entstand der Film „Bäume für Fräulein Schopfer“; Bäume in einem Bildrhythmus, der dem Ein- und Ausatmen entspricht.

Zurück zu Ihren Bildern. Da gibt es etwas, das ich immer noch nicht ganz begreife, das mich davon abhält, die Bilder jetzt, da wir ihnen so nahe sind, ganz in mich hineinzunehmen. Es ist das leuchtende, pinkfarbene Papier. Es blendet mich in gewissem Sinn, hält mich auf Distanz. Aber vielleicht ist das ja gerade der Sinn?
Ich weiss nicht, ich liebe die Farbe wegen ihrer Kraft, ihrem Licht – mich blendet sie nicht. Für mich hat sie etwas mit der Intensität der Sonne zu tun, wenn ich sie sehe mit geschlossenen Augen. Aber ich kenne diese Reaktion. Und ich habe schon erlebt, dass man meine Bilder in einer Gruppenausstellung nicht neben Oelmalerei hängen kann, weil die Neonfarbe zu dominant ist, respektive die übrigen Farben dumpf erscheinen lässt.
Das ist sehr interessant, denn das wäre ja, obwohl hier und dort im materiellen Bereich, ein Unterschied analog additivem und subtraktivem Licht, das ja in der Ueberlagerung im einen Fall grau, im anderen Weiss ergibt. Das heisst, die Neon-Farbe hat auch auf dem Papier eine ähnliche Wirkung und Verhaltensweise wie die in Weiss mündenden Lichtfarben, wie wir sie inzwischen vom Fernsehen, von Videos etc. gewohnt sind. Vielleicht steckt da mehr dahinter als wir ahnen.

Zum Schluss noch ein paar Gedanken zu Ihrer Position innerhalb des Betriebssystems Kunst. Was haben Sie für Ambitionen? Kunst und Management geht heute ja oftmals Hand in Hand, wenn etwas erreicht werden soll.
Ich bin da nicht so begabt, ich bewundere andere, die sich clever in Szene zu setzen vermögen, aber ich selbst bin da eher defensiv. Ich beteilige mich, wenn ich angefragt werde, mache, zum Beispiel, von Ausschreibungen für Stipendien Gebrauch und bisher hat das auch relativ gut geklappt – ich habe immer wieder Auszeichnungen erhalten, sei es das Kiefer-Hablitzel-Stipendium, das Basler Künstlerstipendium oder kürzlich das Pariser Atelier-Stipendium des Kantons Baselland. Und nun die Einladung zum Solothurner Jahresporträt. Ich muss einfach Vertrauen haben, dass ich meinen Weg finde, auch wenn das nicht immer so leicht ist. Manchmal wäre ich froh, aktiver sein zu können, aber andererseits will ich mich nicht unter Druck setzen lassen. Ich habe einmal zusammen mit einem Koreaner seine Produktion eines halben Jahres gebrannt; während fünf Tagen. Die Sorgsamkeit, mit welcher er das Feuer legte, die Objekte der Hitze aussetze, damit sie Dauer erhielten, das hat mich als symbolisches Bild tief beeindruckt.