LAUDATIO FUER ROLF SPINNLER ANLAESSLICH DER VERLEIHUNG DES KULTURPREISES DER STADT BIEL, 24. JANUAR 1999

Annelise Zwez

 

Sehr geehrte Damen und Herren

lieber Rolf Spinnler

 

Obwohl in Biel geboren, bin ich erst seit kurzem in der Herkunfts­re­gion meiner Familie beruflich tätig. Ich bin dementsprechend auch erst seit 1998 in der städtischen Kulturpreiskommission. Rolf Spinn­ler ver­dankt den heutigen Tag nicht mir. Wenn ich ganz ehrlich sein will, muss ich sogar anfügen, im Gegenteil. Wenn ich nun hier mit Freude Worte an Sie richte, so ist das im Grunde genommen eine Sau­lus/Paulus-Geschichte. Ich bin seit mehr als 25 Jahren als Kunstkri­tikerin tätig – quer durch die Schweiz. Rolf Spinnler bin ich dabei nur am Rande begegnet und die expressiv-malerischen Stilleben, die ich damals im Solothurnischen sah, beeindruckten mich nicht zen­tral. Mein Blick war auf zeitgenössische Ausdrucks­formen der 80er und spä­ter 90er Jahre ausgerichtet; da schien mir Stilleben tradi­tionell. Und im Rahmen einer Gruppenausstellung drang nicht mehr zu mir.

Seit 1997 bin ich Mitglied der Städtischen Kunstkommission in Biel und in dieser Funktion habe ich die mir ungewöhnlich, weil nicht aus Kunstkreisen forcierte Entstehung der Monographie „Rolf Spinnler“ mitverfolgt. Nicht ganz ohne Skepsis. Ich wusste immer noch nicht, wer dieser Rolf Spinnler eigentlich war und ist. Auch die Texte für die Monographie zündeten das Feuer zunächst noch nicht. Im vergange­nen Som­mer sah ich dann, immer im Rahmen der Kommission, die Retro­spektive, die ein engagierter Freundeskreis für Rolf Spinnler in der immensen Abbatiale de Bellelay eingerichtet hatte. Da ahnte ich zum ersten Mal, dass ich da einen bedeutenden Aussenseiter traf. Aussen­seiter im Vergleich zur kunstgeschicht­lichen Entwicklung. Da waren – für mich trotz Fülle viel zu wenige – frühe Werke aus den 60er und vor allem auch 70er und zuweilen 80er Jahre, die mich packten, die mir – immer noch ohne die persönliche Geschichte des Künstlers zu kennen – von einer Intensität der Bildentstehung, des Bildgesprächs erzähl­ten, die ich so nur bei wenigen grossen Schweizer Expressioni­sten gesehen hatte. Ich meine nicht das rot-blaue Trio Kirch­ner/Scherer/Müller. Varlin kam mir in den Sinn, dann aber auch Wilfried Moser und, generationenmässig verschoben, Ernst Gubler, der anfangs der 60er Jahre – das heisst in der Zeit, da Rolf Spinnler ein eidgenössisches Stipendium nach dem anderen gewann – als Schwei­zer Van Gogh gefeiert wurde. Aber da stimmten immer nur Facetten. Die Oe­sterreicher meldeten sich vor dem inneren Auge, querbeet von Ko­koschka bis Arnulf Rainer. Und dann natürlich und vor allem der Maler Alberto Giacometti, sieht man vom Aspekt der Farbe und weitge­hend auch der Themen einmal ab. Rolf Spinnlers Werke schienen mir ähnlich nervig. Da klang, wie bei Giacometti, etwas Verzweifeltes an, etwas zwischen hellem Licht und dunklen Sturmböen, etwas Trau­erndes, zuwei­len Kämpferisches, aber gleichzeitig auch Zerstöreri­sches, und dann trotz allem wieder Lichtvolles.

Weil ich nicht als Kunstschreiberin in Bellelay war, liess ich dies einfach so stehen, auch die Unsicherheit gegenüber den Landschaften und Stilleben der letzten Jahre, die in endloser Aneinanderreihung wieder und wieder und wieder signalisierten, ohne dem Auge Halte­punkte, Verdichtungen, Konzentrationen zu zeigen. Heute weiss ich, was ich damals nicht begriffen habe und was die Ausstellungsinsze­nie­rung leider nicht spürbar werden liess.

Und dann beschlossen wir in der Kulturpreis-Kommission, dass Rolf Spinnler den Kulturpreis der Stadt Biel erhalten sollte. Der Ent­scheid war zuletzt einstimmig. Ausschlaggebend war zum einen die Aus­stellung in Bellelay, die vielen, die den Künstler kannten, eine bis­her ungeahnte, zum Teil auch vergessene Dimension aufzeigte. Die Bie­ler, und zwar die Romands ebenso wie die Deutschschweizer, wurden sich bewusst, dass da ein Künstler seit Jahrzehnten eine Figur, eine Gestalt in der Stadt ist, die so selbstverständlich dazugehört, dass man sie nicht hinterfrägt. Und dann sieht man auf einmal, was da für ein Werk entstanden ist, ohne dass man das so richtig wahrgenommen hätte. Es gab zuvor in Biel nie eine grosse Retrospektive – es gibt ja erst seit 1990 ein eigentliches Museum. Vielleicht kam aufgrund von Bellelay in gewissem Sinn auch der Schock hinzu, dass man Rolf Spinnler, seit er aus gesundheitlichen Gründen kaum mehr in der Stadt ist, ein Stück weit vergessen oder, noch drastischer, beiseite ge­schoben hatte. Und nun zeigte die Ausstellung mit einem wahren Feuer-Werk an Arbeiten aus dem Jahr 1997, dass der Künstler in sei­ner Abge­schiedenheit nicht schlief, sondern malte, dass er in Momen­ten der Kraft und der Konzentration seine ganze Sicht auf die Welt in ein Blatt hineinzubringen wusste – in rot, in grün, mit gelb und blau, weiss und grau. Keine Sekunde schien sich der Pinsel in diesen neuen Jura-Landschaften Ruhe zu gönnen und die Kreide noch viel we­niger.

Da kam, mehr emotionell als analytisch, der Wunsch auf, dem Künstler für all das zu danken. Ein Kulturpreis ist ein Dankeschön. So sehr ich nun mit meinen Gedanken und meinem Empfinden den Entscheid mittragen konnte, blieb doch der Eindruck, dass viele viel mehr wus­sten, als sie sagten und ich immer noch die Aussen­stehen­de war. Und wahrscheinlich spürte ich, dass ich dem auf den Grund gehen wollte und sagte darum für die heutige Ansprache zu. Das war an einem Diens­tagabend; bis der Stadtrat sein Einverständ­nis zu unserem Vor­schlag gab, hatten wir zu schweigen. Was ich dann erlebte, gehört zu den wunderschönen Momenten im Leben.

Am Donnerstag besuchte ich die im Solothurnischen aufgewachsene Lu­zerner Künstlerin Marie-Theres Amici. Wir sprachen über ihr Schaffen und über Prägungen, die sich darin finden. Da sagte sie auf einmal: „Weisst Du, wenn ich an die Zeit im Seminar in Solothurn zurück­denke, da gibt es für mich eigentlich nur einen Künstler, den ich bis heute in meinem Schaffen spüre: Rolf Spinnler. Ich schluckte dreimal leer und wusste sogleich was sie meinte: Intensität, Direktheit, Kraft, die sich unmittelbar im Strich, im Pinselduktus spüren lässt. Es sei hier dokumentarisch eingeschoben, dass Rolf Spinnler in Solo­thurn aufwuchs und obwohl schon 1942 an der Kunstgewerbeschule Biel, von seiner Herkunfts­stadt her immer getragen wurde. Den Solothurner Kunstpreis erhielt Rolf Spinnler vor 25 Jahren.

Doch zurück zu jenem Donnerstag. Am Abend desselben Tages war ich in Baden an einer Vernissage und traf da unter anderem den Solothurner Maler Franco Müller. Ich fragte ihn bezüglich seiner zuweilen apoka­lyptisch anmutenden Landschaften, welche Bedeutung Franz Anatol Wyss für ihn habe. „Ja,ja“, antwortet er, „aber viel wichtiger war für mich eigentlich Rolf Spinnler“. Nun blieb mir beinahe der Mund of­fen. Da verdichteten sich Energien als wäre ich mitten in einer Jura-Land­schaft von Rolf Spinnler. Ganz offensicht­lich hatte ich eine Aufgabe gefasst.

Das im Vergleich zur Realität allzu Solothurnische dieser Geschichte ist Zufall. Ich habe das mich beeindruckende Erlebnis später dem Bie­ler Künstler Ruedi Schwyn erzählt und er bestätigte mir, dass das auch für ihn und viele ältere und gleichaltrige Künstler der Region Biel gelte.Da ist also ein Künstler, den man gesamtschweizerisch nicht kennt, der aber ganz offensichtlich eine Vielzahl von heute zum Teil bekannteren Kunstschaffenden massgeblich beeinflusst hat. Frägt man nach, ist es immer dasselbe, entscheidende Moment: Dieses sich total in ein Bild einbringen, ohne Rücksicht auf Verlust, die­ses exi­stenzielle Moment. Alle, die so sprachen, kennen Rolf Spinn­ler – nicht unbedingt näher, aber doch als Persönlichkeit.

Nun kann man sagen – diese Haltung ist unter Kunsthistorikern ver­breitet – dass ein Werk der Person, die es geschaffen hat, nicht be­darf. Für mich ist das ebenso richtig, wie falsch. Man braucht einen Künstler nicht persönlich zu kennen, aber die Biographie, die Welthaltung, das Leben und Denken eines Kunstschaffenden ist meiner Ansicht nach unabdingbarer Teil seines Oeuvres. Insbesondere massge­bend dafür, dass ich als Betrachterin oder gar als Schreiberin mit der Sicht des Künstlers in sein Werk einsteigen kann. Dass ich mich sicher fühlen kann, wenn ich durch die Bildlandschaften streife, um mich selbst darin zu suchen. Mich wohl fühlen kann, wenn ich die Stilleben vor mir habe, die Ge­genstände vergessen will und nur die Energie der Schwingungen darin abtasten, erspüren möchte. Mag sein, dass das insbesondere weibliches Denken ist, haben die Frauen doch stark die Tendenz, Dinge von innen nach aussen zu verste­hen und nicht von aussen nach innen. Wenn dem so ist, so sei es.

Auf jeden Fall begann ich nun alle, die mir in und um Biel über den Weg liefen und einer entsprechenden Generation angehörten, nach ih­ren Erinnerungen an Rolf Spinnler zu fragen. Erinnerungen sind keine Kunstkritiken, darum kam in den Antworten auch mehr der Mensch zum Vorschein, die eindrucksvolle Gestalt und die Kraft, die sie auszu­strahlen schien und dann – meist im selben Satz – auch der Verweis auf das zeitweise Einfallen der Kraft; die Gleichzeitigkeit des Kampfes für etwas und das Scheitern daran; das Hinausgehen und sich Zurückziehen; das Lieben und das Zerstören, ohne es eigentlich zu wollen. Die einen sprachen mehr von seiner sonoren Bassstimme, sei­ner lokalen Opernkarriere, andere mehr von seinem Rennvelo, wieder andere von seinem politischen Engagement und oft dieselben auch von seiner kulturpolitischen Bedeutung für die Stadt Biel. Davon, dass er in den 70er Jahren, da in der Schweizer Kunst die Regionen eine grossen Be­deutung hatten, mit anderen zusammen quasi für ein neues Selbstbe­wusstsein von Biel als Kunststadt stand. Das führte ja dann auch – übrigens encouragiert von Wilfried Moser, der damals Präsi­dent der Eidgenössischen Kunstkommission war – zur Gründung einer Sektion Biel der Schweizer Künstlergesellschaft GSMBA.

Langsam begann Rolf Spinnler auch für mich Gestalt anzunehmen, immer mehr Wärme auszustrahlen und immer mehr kam mir ein guter Freund in den Sinn, der ähnlich grossgewachsen und breitschultrig ist und im­mer und immer wieder darunter leidet, dass er die Erwartungen, die er aufgrund seiner körperlichen Präsenz auslöst, nicht erfüllen kann, ja gar nicht erfüllen will. Und sich doch unter Druck fühlt. Gilt das nicht auch für Rolf Spinnler, ist in dieser Zerrissenheit ein Grund für seine Biographie einerseits und seine malerische Ent­wicklung gleichzeitig?

Endlich ergab sich die Gelegenheit, zusammen mit Rolf Schüle, der in den letzten Jahren viel für den Künstler getan hat, zu Rolf Spinnler nach Reconvilier zu fahren. Aufgrund all dessen, was ich gehört hatte, spürte ich den Menschen sogleich und es entstand Offenheit. Dass er mir erzählte, dass er vor allem nachts gemalt habe, wunderte mich nicht. Die Bilder, zumindest jene seit etwa Mitte der 70er Jahre, tragen das in sich. Ich meine die Direktheit, das Schranken­lose, das Ungefilterte, das der Pinselduktus und der Strich verkör­pern. Nicht immer war das indes so, denn als Rolf Spinnler in seinen Erinnerungen zu kramen begann, kamen auch Geschichten von gemeinsam mit Freunden unternommenen Reisen in den Jura zum Vorschein, um da­selbst in der Landschaft zu malen. Vom Jura wechselte Spinnler nach Italien, zum italienischen Licht. Mir wurde bewusst, dass sich in Spinnlers Malerei zwei Tendenzen kreuzen. Da ist zum einen der tra­di­tionelle Maler, der die Landschaft in ihrem Wesen einfangen, ihr Licht als Malerei zeigen will. Der Maler, der die Entdeckung von Mo­randi während eines Studienaufenthaltes in Holland zu seinen wich­tig­sten Erlebnissen zählt. Der Maler, dessen Stilleben tatsächlich Stil­leben sein wollen, unter anderem. Denn da ist zugleich das ganze Ich mit all seinen emotionalen Regungen, das mit dem Motiv im Ge­spräch ist, das sich mit dem Motiv streitet, hin und her, gelb und rot, schwarz und weiss. Der traditionelle Maler und der die Erschütterun­gen des Lebens niederschreibende gehören im Werk von Rolf Spinnler dicht zu­sammen. Und es ist wohl diese Verquickung, die sein Schaffen so spe­zifisch macht, die im Aussen das Innen zeigt, im Sichtbaren, Re­gungslosen, Sprachlosen, die Fülle des Lebens einzeichnet. In einer Art und Weise, die letztlich so offen ist, so vieldeutig, so sehr Ge­fäss ist, dass ich jederzeit – habe ich einmal Vertrauen zu den Bil­dern gewonnen – in sie hineinkann und mich selbst darin finden. Ich liebe die Landschaften Rolf Spinnlers und bin mir gleichzeitig der menschlichen Dimension, die sie in sich tragen, bewusst.