William Turners Schweizer Reise v. 1802 Fondation Gianadda Martigny 1999

Die Alpen oder die Dramatik des Schönen

www.annelisezwez.ch  Bis 06.06.1999

Tausende von Engländern nutzen 1802 den Frieden von Amiens, um auf den Kontinent zu fahren; unter ihnen der Maler William Turner und sein Mäzen Newbey Lowson. Ihre Reise durch die Alpen ist Thema einer Ausstellung in Martigny.

Das späte 18.Jahrhundert stand im Widerstreit zwischen Aufklärung und Romantik. Die Alpen erwiesen sich für viele Künstler als ideales Thema, analytische Naturbeobachtung und Gefühlswelt miteinander zu verbinden. Die Zeichnungen und Aquarelle, die der junge William Turner auf seiner Reise von Grenoble via Genf über den Grossen St.Bernhard, durch das Berner Oberland und via Luzern hinauf zum Gotthard und zurück nach Paris schuf, gehören in diesen Kontext.

Was die zum Teil malerisch überhöhten Reiseskizzen sowie die später in London ausgeführten Aquarelle bedeutsam macht, beruht auf drei Pfeilern. Zum einen gibt es keine andere Künstlerreise durch die Alpen in jener Zeit, die in so zahlreichen Zeichnungen gespiegelt ist. Dass Turner in privilegierter Manier mit einem Mäzen und einem Schweizer Führer sorglos reisen konnte, mag ein Grund hiefür sein. Zum zweiten ist Turner erst 27 Jahre alt; die Eindrücke, die er angesichts der ersten Begegnung mit Bergen, Tälern, Schluchten, Gletschern usw. erfährt, sind die Basis der späteren Entwicklung seines Werkes. Dieses gipfelt in den späten 1830er Jahren in sphärisch-expressiven Landschaften, die Turner zum Vorläufer der abstrakten Kunst machen.

Zum dritten ist da die historische Dimension von Turners Schweizer Reise. Sowohl den Grossen St.Bernhard wie den Gotthard querten nur wenige Jahre zuvor das Heer Napoleons auf dem Weg nach Süden respektive die russische Armee Suwarows, die am Gotthard grosse Verluste erlitt. Die vor Ort entstandenen Zeichnungen Turners zeigen dies nicht unmittelbar; sie protokollieren das visuelle Naturerlebnis. Die Atelierarbeiten hingegen, die aufgrund des zeichnerischen Reiseberichtes entstanden, spiegeln sehr wohl die Gleichzeitigkeit von Naturerlebnis und Kriegsgeschichte.

Die Schweizer Reise wird für den Maler zum Erlebnis dessen, was speziell in England unter dem theoretischen Begriff des „Sublimen“ verstanden wird. Anders als in der deutschen Romantik, zelebriert die englische Ausformung die Schönheit der Dramatik. Nicht die Bergformationen sind relevant, sondern die Wolken, die sich türmen, die Schluchten, die sich öffnen, die Gletscher, die das Land überlagern, das Gewitter, das sich zwischen den Berspitzen entlädt.

Dass nicht längst ein Schweizer Museum Turners Reise zum Thema einer Ausstellung gemacht hat, ist erstaunlich. Zwar waren immer wieder einzelne Blätter zu sehen, zuletzt in der grossen „Niesen“-Ausstellung in Thun 1998, doch die Reise als Thema ist in der Fondation Gianadda in Martigny erstmals zu sehen. Erarbeitet wurde die Ausstellung von der Tate Gallery in London; die Fondation hat sie da, ihrer Museumspolitik entsprechend, eingekauft. Anders als bei populären Augenweiden, wie sie das Gianadda-Programm spätestens ab Juni mit Bonnard wieder kennzeichnen werden, stimmen bei Turner indes Ort und Thema in einmaliger Art und Weise. Denn wie zahlreiche Zeichnungen zeigen, ruhte sich das Reiseduo nach dem Abstieg vom Grossen St.Bernhard in Martigny aus, bevor es mit dem nur für flache Reisestücke geeigneten „Cabriolet“ an den Genfersee weiterfuhr.

Dass die Ausstellung erst zum Fast-200-Jahr-Jubiläum entstand, hat Gründe. Turner vermachte seinen Nachlass Grossbritannien, doch erst 1987 wurde das Konvolut der Tate Gallery angegliedert, die das kostbare Gut nun, einer Kleestiftung innerhalb des Kunstmuseums Bern vergleichbar, verwaltet und erforscht. 1992 erschien das erste Buch zum Thema und für die aktuelle Ausstellung liess es sich Kurator David Blayney Brown nicht nehmen, zumindest einen Teil von Turners Reise zu Fuss nachzugehen.

Die Ausstellung in Martigny zeigt insbesondere die während der Reise von 1802 entstandenen Zeichnungen und Aquarelle. Diese sind ergänzt durch einige spätere, als eigentliche Werke konzipierte, grossformatige Aquarellarbeiten. Sie sind die Höhepunkte der Ausstellung, die dementsprechend als Ganzes nicht spektakulär ist, wohl aber essentiell für das Gesamtwerk des kunstgeschichtlich bedeutendsten englischen Malers. Ein hervorragender englisch/französischer Katalog (Fr. 39.-) begleitet sie.